Sexuelle Übergriffe in Berlin: Belästigung ist nicht bloß lästig!
Der eine sucht auf dem menschenleeren Bahnsteig Körperkontakt, der andere verfolgt junge Frauen am helllichten Tag: Sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum sind ein drängendes Problem. Wird es weiter kleingeredet, könnte es eskalieren.
Es gibt einen Typen in Mitte, der seit Sommer, auch bei 30 Grad mit Daunenjacke bekleidet, regelrecht Jagd auf junge Frauen macht. Um Körperkontakt herzustellen, läuft er mit Vorliebe frontal auf seine Opfer zu und dann in sie rein. Er verfolgt sie am Alex über U-Bahn-Gänge hinweg und selbst Kassiererinnen im Supermarkt um die Ecke geben hinter vorgehaltener Hand zu, sich vor ihm zu fürchten. „Man sieht richtig, wie er die Körperwärme spüren will, wenn er sich mal wieder viel zu dicht hinter einer anstellt.“
Auch ich habe mich von ihm einige Meter auf einem verlassenen Stück Straße durch die helllichte Stadt jagen lassen. Diese Erfahrung war dermaßen demütigend, dass ich herausfinden wollte, ob es anderen ähnlich geht – also teilte ich sie bei Facebook. Nach 57 Kommentaren und einem Dutzend privater Nachrichten war klar: Der Kerl verfolgt Frauen beim Joggen, stürmt vor dem Grimm-Zentrum auf Studentinnen zu und sitzt in der Tram Richtung Prenzlauer Berg bevorzugt neben jungen Frauen – wechseln diese den Platz, kommt er hinterher. Doch schnell ging es nicht mehr nur um den einen Typen. Eine Freundin wurde selbst mit Kleinkind im Kinderwagen von einem Irren mehrfach durch ihre Nachbarschaft verfolgt.
Längst fühlt sich Berlin für mich nicht mehr so sicher an wie noch vor zwei oder drei Jahren. Und seit knapp einem Jahr fühle ich mich durch Belästigungen ernsthaft in meinem Berliner Dasein bedroht. Vor acht Jahren bin ich hergezogen. Ich wollte ein Teil der Großstadt, der Vielfalt und der Unordnung werden. Mittlerweile frage ich mich manchmal: Darf hier jeder alles?
Und nein, bei drei Erlebnissen pro Woche über einen längeren Zeitraum mag ich nicht mehr von Einzel- oder Zufällen sprechen. Egal ob Männer jeden Alters und jeder Prägung in der U-Bahn Beine an meine pressen oder Obdachlose mich im Rausch verfolgen: Vieles ist eindeutig Bedrängen mit sexueller Referenz. Das gilt auch für den offensichtlich zugedrogten Typen, der sich am U-Bahnhof Weinmeisterstraße wiederholt so nahe hinter mich gestellt hat, dass von meiner Privatsphäre fast nichts übrig war – ausgesprochen gruselig auf einem leeren Bahnsteig.
Sich bedroht zu fühlen ist kein Mimimi - wann begreifen das die Polizisten?
Das alles wirft Fragen auf: Gibt es mehr Vollabgestürzte als 2013? Explodiert die Kombination aus Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit? Hat manches davon damit zu tun, dass die Kontrolldichte der Polizei im Bereich des ÖPNV abgenommen hat, wie die in dieser Woche vorgestellte Berliner Kriminalstatistik für das Jahr 2014 vermerkt? In der ist übrigens auch von einer Zunahme der Sexualdelikte im ÖPNV-Bereich um 11,1 Prozent die Rede, allerdings bei geringen Fallzahlen. Das ist wichtig und kein Mimimi!
Für manche Polizisten scheinbar schon – und damit noch einmal zurück zu dem Typen mit der Daunenjacke. Bei zwei Polizeidienststellen musste ich vorsprechen und den unsäglichen Satz „Ich studiere Jura“ fallen lassen, bevor sich jemand die konkrete Jagdsituation überhaupt zu Ende angehört hat. Auf beiden Wachen war eine sehr simple „Na, ja, wenn sich ein Stinki neben sie in die U-Bahn setzt, dann ist das halt nicht strafbar“-Mentalität zu spüren. Wortwörtlich wurde mir geraten, dem Typen „beim nächsten Mal halt direkt anständig auf die Fresse“ zu geben. Salopp zusammengefasst: Notwehr wäre in Ordnung, aber rechtswidriges Verhalten des Bedrängers will der Beamte nicht erkennen.
Auch wenn ich nicht den Teufel an die Wand malen will: Genau das ist das Vorfeld all jener Handlungen, die unter sexuelle Gewalt fallen! Das Vorfeld, in dem junge Frauen lernen, Haut und Haar entweder komplett alleine zu verteidigen – oder „so ’nen kleinen Zwischenfall doch mal locker“ zu nehmen, schließlich „kapiert der Typ doch selber gar nicht, was er da macht“.
Ich fühle mich alleine gelassen. Passanten ignorieren, was passiert. Und die Polizei hat offensichtlich wenig Lust, eine weitere Nötigung in der Statistik zu erfassen – auch so kann man übrigens neben empirischen Werten auch ganze Opfergruppen kleinhalten. Ist das jetzt die neue Berliner Normalität? „Hau ab oder hau zu, Mädchen“? Das hilft keinem. Außer den Tätern.
Dieser Text erschien gedruckt als Rant in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin.