Klagewelle gegen Lockdown: Wie der Einzelhandel die Wiedereröffnung erwirken will
Viele Händler sehen keinen Ausweg mehr, als gegen den Lockdown vor Gericht zu ziehen. Sie hoffen auf hohe Entschädigungssummen.
Die Zahl „Null“ sprechen Vertreter großer Handelsketten in diesen Tagen häufig mit großem Nachdruck aus. „Null“ Euro an Coronahilfen habe sein Unternehmen bislang erhalten, erklärte Timm Homann, Chef des Kleidungshändlers Ernstings Family und Vizepräsident des Handelsverbands Deutschland (HDE), am Donnerstag in der Bundespressekonferenz. „Auf null“ belaufe sich die Zahl der Coronahilfen auch bei der Kaufhauskette Breuninger, sagt ein Sprecher am Telefon.
Beide Einzelhändler sind zu groß, um – abgesehen vom Kurzarbeitergeld – staatliche Unterstützung zu erhalten. Dabei sind auch sie seit Wochen zum Schließen gezwungen. Doch es ist nicht nur diese „null“, die bei den beiden Einzelhändlern für Frust sorgt.
Am 3. März treffen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder erneut, um über den Umgang mit der Corona-Pandemie zu beraten. Das Trommeln der Branche für eine Wiedereröffnung der Geschäfte wurde zuletzt immer lauter. „Wir gehen fest von einer Wiederöffnung am 8. März aus“, sagte der Chef des Bekleidungsherstellers S.Oliver, Claus-Dietrich Lahrs. „Wir brauchen jetzt den Einstieg in den Ausstieg aus dem Lockdown“, forderte auch Stephan Genth, Hauptgeschäftsführer des HDE. Gemeinsam mit anderen Wirtschaftsverbänden und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) erstellt er ein Konzept, das ein baldiges Ende des Lockdowns ermöglichen soll.
Klagewelle gegen den Lockdown
Viele Händler wollen sich damit aber nicht abfinden. Sie fühlen sich ungerecht behandelt. Schließlich dürfen bestimmte Geschäfte weiterhin öffnen, obwohl etwa Supermärkte weitaus voller sind als die meisten Einzelhändler es wären. Auch haben andere Branchen wie die Gastronomie im November und Dezember andere Coronahilfen bekommen. Und den Nachweis, dass das Infektionsrisiko im Einzelhandel höher ist, sehen sie auch nicht erbracht.
Die Zahl derer, die deshalb den Staat verklagen, wächst rasant. „Wir haben bislang eine dreistellige Anzahl von Eilanträgen auf Wiederöffnung und Entschädigungsklagen eingereicht“, sagt Klaus Nieding, Rechtsanwalt der Kanzlei Nieding und Barth, dem Tagesspiegel. Er geht davon aus, dass bald eine deutliche vierstellige Anzahl an Klagen auf seinem Schreibtisch liegen wird. „Das wird nach unserer Einschätzung definitiv die größte Klagewelle, die Deutschland je gesehen hat.“
Sofortige Öffnung oder Entschädigung?
Bei den Eilanträgen auf Wiedereröffnung sind „der rechtswidrige Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, der rechtswidrige Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit und die Freiheit der Person sowie ungerechtfertigte Ungleichbehandlung im wesentlichen gleicher Sachverhalte“, zählt Nieding auf.
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Bei der Frage nach Entschädigungen muss jeder Betrieb individuell und ausführlich darlegen, welcher Schaden entstanden ist. „Wir setzen die Umsatzwerte in den von den Schließungen betroffenen Vorjahresmonaten abzüglich ersparter Aufwendungen an“, so Nieding. Im Unterschied zu Schadenersatz, wo die konkrete Schadenssumme ersetzt würde, liegt die Höhe der Zahlung im Erfolgsfall bei Entschädigungen im Ermessen des Gerichts.
„Unsere Mandanten haben noch nie den Staat verklagt, sehen aber aufgrund der dramatischen wirtschaftlichen Auswirkungen des DauerLockdowns keine andere Möglichkeit mehr“, berichtet Nieding. Es gehe um Familienunternehmen, teils in vierter Generation, die bereits viel Geld in Hygienemaßnahmen investiert hätten. „Da geht es oft um das Lebenswerk.“ Um die Entschädigungsklagen auch kleinen Firmen zu ermöglichen, steht Niedings Kanzlei in Gesprächen mit Prozessfinanzierern. Für die „erste Welle“, wie Nieding sagt, sind bereits eine Million Euro zugesagt worden.
"Wir raten dazu, in die höheren Instanzen zu gehen"
Er ist nicht der einzige Anwalt, der solche Klagen vorantreibt. Auch Nico Härting hält die entschädigungslosen Betriebsschließungen für verfassungswidrig. „Auch muss Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes beachtet werden, der bei sinkenden Inzidenzen Öffnungsschritte vorschreibt“, so Härting.
Manche Maßnahmen seien zudem unverhältnismäßig. „Wenn Berliner Gastronomen jetzt Wodka in Flaschen verkaufen dürfen, aber nicht im Becher, ist das nicht nur „crazy“, sondern verstößt auch gegen das Willkürverbot.“ Wenn Baumärkte in einigen Bundesländern wieder öffnen dürfen, sei es außerdem gleichheitswidrig, dass Kaufhäuser oder Textilgeschäfte geschlossen bleiben müssen.
Bislang war laut Härting bundesweit allerdings noch keine Klage auf Entschädigung erfolgreich. „Wir raten aber dazu, in die höheren Instanzen zu gehen, und sind zuversichtlich, dass es eines Tages ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs oder des Bundesverfassungsgerichts geben wird“, meint Härting. „Führende Staatsrechtler wie Hans-Jürgen Papier sind der Auffassung, dass monatelange Betriebsschließungen eine Enteignung darstellen, die von Verfassungswegen zu entschädigen ist.“
Unternehmen tun sich zusammen
Unter den Klägern sind auch große Marken. So haben sich S.Oliver, Hugo Boss, Deichmann, Kik, Ernsting’s Family, Breuninger, P&C Düsseldorf, Thalia und Katag zusammengeschlossen, um juristisch gegen die Schließung vorzugehen. Sie alle erwirtschaften zu hohe Umsätze, um Coronahilfen zu erhalten. Der Eilantrag sei war abgelehnt worden, heißt es auch von Breuninger. Es sei aber signalisiert worden, dass der Fall im Hauptverfahren – das allerdings 12 bis 18 Monaten dauert – anders aussehen könnte.
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Über 170 Firmen haben sich zudem der Initiative „Handeln für den Handel“ angeschlossen, um eine baldige Öffnung zu erreichen. „Wir stützen uns auf die Gleichstellung mit Friseur-Betrieben, sowie auch mit Blumengeschäften, Baumärkten oder Gartencentern, die ab März in vielen Teilen Deutschlands unter Einhaltung bestimmter Regularien wieder öffnen dürfen“, heißt es dazu von dem Modeunternehmen Riani. „Auch die Bekanntgabe der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) zu einer Öffnung mit strenger Terminvergabe wäre ein erster Ansatz und eine Perspektive für den Einzelhandel.“
Viele Händler von der Pleite bedroht
In der Tat schätzen die Händler ihre Situation katastrophal ein. Laut einer HDE-Umfrage gehen 67 Prozent der Händler im Bereich Schuh- und Lederwaren davon aus, ihr Geschäft ohne weitere Hilfen in diesem Jahr schließen zu müssen. Im Bereich Mode liegt der Wert bei 64, im Spielwarensegment bei 50 Prozent. Bei drei Vierteln der Händler reichten die aktuellen Hilfsmaßnahmen nicht zur Existenzsicherung aus. Im Schnitt habe der Handel im vergangenen Jahr rund 11.000 Euro pro Betrieb an Coronahilfen erhalten.
Ob die Wiedereröffnung aber die hohen Erwartungen erfüllt, wird von einigen Experten bezweifelt. "Ich erwarte keinen Run auf die Geschäfte", sagt etwa Werner Reinartz, Professor an der Universität zu Köln und Direktor am Institut für Handelsforschung. Viele Konsumenten seien noch sehr vorsichtig, zudem gebe es die Problematik einer möglichen dritten Welle. "Viele Kunden haben sich auch an den Online-Kanal gewöhnt. Insbesondere Neu-Onlinekäufer", gibt er weiter zu bedenken. Hilfreich für den Handel wäre aus seiner Sicht ein digitaler Impfpass, die Gleichbehandlung von Geschäften und Warengruppen sowie eine regionale Anpassung der Einschränkung mit Blick auf das jeweilige Infektionsgeschehen.
Insgesamt hat die Politik im Handel allerdings viel Vertrauen verspielt. Die Hoffnung auf rationale Maßnahmen hat HDE-Vizepräsident Homann jedenfalls aufgegeben. „Es geht offensichtlich allein darum, den Bürgern das Verlassen der eigenen vier Wände so unattraktiv wie möglich zu machen“, sagte er in dieser Woche und fügte an: „In welchem Land leben wir denn, dass die Regierung entscheiden darf, wer bei gleichem individuellen Verhalten kaputt geht und wer prosperieren darf?“
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