Lockdown im Handel: „Der Strukturwandel hätte manche auch ohne Pandemie getroffen“
Marketingexperte Werner Reinartz erklärt, mit welchen Konzepten inhabergeführte Geschäfte jetzt punkten können – und warum nicht nur Amazon Gewinner sein muss.
Herr Reinartz, es war nur eine Frage der Zeit, bis beim nächsten Lockdown auch der Einzelhandel schließen muss. Wie gravierend ist das für die Händler?
Das ist ein extremer Einschnitt. Der Umsatz vor Weihnachten und zwischen den Jahren ist enorm hoch. Rund ein Fünftel des Jahresgeschäfts fällt in den Tagen vor den Feiertagen an. Pro Tag liegt der Umsatz da täglich bei bis zu 750 Millionen Euro im Non-Food-Bereich. Das fällt dann zu großen Teilen weg. Und das Geschäft ab dem 27. ist wegen der vielen Gutscheine und Geldgeschenke zu Weihnachten ebenfalls sehr wichtig.
Welche Geschäfte leiden am meisten?
Die inhabergeführten, nicht filialisierten Händler ohne Online-Shop. Dieser Typus wird am härtesten getroffen werden – und wird es ja auch jetzt schon. Denn die Kundenfrequenz geht ja schon zurück. Sowohl wegen der Sorge vor Infektion als auch wegen des allgemeinen Strukturwandels.
Profitiert am Ende also nur Amazon von dem Lockdown?
Durchaus nicht. Es werden ja trotzdem Gutscheine und Bargeldgeschenke gemacht – damit können die Käufe einfach zeitlich verlagert werden. Außerdem ist inzwischen ja jedes größere filialisierte Konzept im Internet aktiv. Otto zum Beispiel ist zu einem hervorragenden Onlineshop geworden. Auch Mittelständler wie das Schuhhaus Zumnorde aus Münster oder die Modekette Breuninger. Wenn Händler allerdings eine Online-Allergie hatten, können sie das jetzt nicht mehr aufholen. Die Vorarbeiten müssen gemacht sein. Aber viele haben gerade Aktionstage wie den Black Friday Jahr für Jahr genutzt, um darin besser zu werden.
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Wird es die befürchtete Pleitewelle 2021 geben?
Mit Sicherheit. Die Frage ist dann dennoch: Woran liegt es genau? Natürlich war Corona der große Auslöser. Aber der beschriebene Strukturwandel hätte vielleicht den ein oder anderen auch ohne die Pandemie getroffen.
Wie lief das Jahr bislang für den Handel?
Insgesamt überhaupt nicht schlecht. Einige Branchen verzeichnen sogar ein großes Umsatzplus – und zwar nicht nur online. Händler von E-Bikes und Fahrrädern etwa können vor Kraft kaum gehen. Auch alles rund ums Thema do it yourself, Einrichtung und Computer lief überdurchschnittlich gut; genauso Lebensmittel. Also alles, was man zu Hause und im Homeoffice braucht. Schwierig war es dagegen für die Bereiche Beauty, Düfte, Schmuck, Mode. Gerade auch Businessmode, denn Anzüge wurden in diesem Jahr einfach viel weniger gebraucht.
Gibt es bei den Hygienekonzepten noch Verbesserungspotenzial?
Die funktionieren eigentlich gut. Wovon man sich trennen muss, ist derzeit das Thema Erlebniseinkauf. Die Kunden lassen sich aktuell eben nicht länger im Geschäft inspirieren. Sie tätigen stattdessen Suchkäufe, bei denen sie genau wissen, was sie wollen. Click & Collect könnte man ebenfalls noch forcieren. Aber auch hier gilt: Da hätte man die Zeit im Sommer nutzen müssen. Die Kette Butlers beispielsweise hat einen großen Teil ihres Geschäfts auf Gutscheine und feste Termine vor Ort gelenkt. So überlebt auch ein solches Konzept, das extrem vom Weihnachtsgeschäft abhängig ist. Andere Kunden haben Einkauf per Livestream angeboten, bei dem ein Verkäufer die Ware im Laden für den Kunden holt – im individuellen Verkaufsgespräch per Video. Solche Konzepte müsste man fördern.
Viele Verbraucher haben ihre Sparquote in diesem Jahr erhöht. Winkt dem Handel im kommenden Jahr ein Boom?
In einigen Branchen ist, wie beschrieben, ja jetzt schon mehr Geld angekommen, das anderswo – etwa fürs Reisen – eingespart wurde. Dieser Trend wird sich wohl zunächst halten, denn vermutlich wird es ja mindestens bis zum Sommer dauern, bis alle geimpft sind. Danach aber dürften definitiv die Branchen profitieren, die jetzt darben. Da gibt es eine Sehnsucht der Kunden. Die Leute wollen ja verreisen, Klamotten kaufen und in Restaurants gehen. Das wird wiederkommen.
Ein langfristig anderes Verbraucherverhalten erwarten Sie also nicht? Viele sahen in der Coronakrise ja schon eine Blaupause für den Konsum und die Klimafrage.
Die Nachhaltigkeitswelle wird bleiben. Aber der Konsum wird nicht in dem Maße eingeschränkt bleiben wie jetzt. Dafür ist der Nutzen des Shoppings zu groß. Auch bei Fast Fashion, was ja unter Klimagesichtspunkten auch nicht das Beste ist. Ich denke eher, dass es Diskussionen geben wird, ob wir weiterhin von weltweiten Lieferketten abhängig sein wollen. Das betrifft aber ja eben nicht nur Mode, sondern auch Arzneimittel und andere Güter. Wir werden uns die Frage stellen müssen, ob es sich da wirklich lohnt, immer den niedrigstmöglichen Preis zu zahlen.
Werner Reinartz (57) ist Direktor am Institut für Handelsforschung (IFH) sowie Professor für Marketing an der Universität Köln. Er lehrt zudem an der Business-Hochschule INSEAD.