Wettbewerb um den Parteivorsitz: Wie Christina Kampmann und Michael Roth die SPD retten wollen
Christina Kampmann und Michael Roth versprechen der Partei den „echten Aufbruch“, falls sie an die SPD-Spitze gewählt werden. Nicht alle Genossen glauben ihnen.
Draußen regnet es in Strömen, drinnen ist es trocken und heiß, im sechsstöckigen Atrium der SPD-Zentrale staut sich die Luft. Im Erdgeschoss drängen sich die Zuhörer, oben in den Etagen lehnen Hunderte an den Geländern und schauen hinunter auf die Bühne, auf die 14 Kandidaten.
Es ist Mitte September, SPD-Regionalkonferenz im Berliner Willy-Brandt-Haus, Halbzeit im Wettrennen um den Parteivorsitz. Vorne auf dem Podium steht Christina Kampmann, 39 Jahre alt und Landtagsabgeordnete in Nordrhein-Westfalen. „Hallo Berlin!“, ruft Kampmann, als begrüße sie das Publikum eines Popkonzerts.
Neben ihr steht der zehn Jahre ältere Michael Roth, Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, beide tragen knallblaue Kapuzenpullis mit bunten Europa-Sternen. Wie Teenager im Partnerlook.
Spitzengenossen wie Finanzminister Olaf Scholz oder Parteivize Ralf Stegner haben für diesen so wichtigen Tag weiße Hemden und dunkle Jacketts angezogen. Kampmann und Roth möchten sich von den anderen Zweierteams nicht nur optisch abgrenzen, sie wollen sich als die frischen Newcomer auf der SPD-Bühne präsentieren. Sie machen Scherze, geben sich verspielt, immer bestens gelaunt. Das sorgt für viel Applaus, nicht nur hier in Berlin.
Doch viele Genossen nervt das heitere Auftreten. Nicht mehr als „eine sehr gut gemachte Show“ sei das, sagen die Kritiker.
„Mit Herz und Haltung“
Die gute Stimmung aber ist Programm bei Kampmann und Roth – und auch die zentrale Botschaft ihrer Kampagne. Der Slogan: „Mit Herz und Haltung“. Nach all den Wahlpleiten, Personalquerelen und dem Groko-Frust versprechen die zwei einen „echten Aufbruch“. Unter ihrer Führung soll es fröhlicher zugehen in der „notorisch schlecht gelaunten“ SPD, wie Roth die Partei einmal bezeichnete. „Wenn ihr uns wählt“, wiederholt er regelmäßig vor den Genossen. „Dann traut ihr euch wirklich was!“
Aber ist die SPD überhaupt reif dafür? Die Grünen haben es vorgemacht, als sie mit Annalena Baerbock und Robert Habeck Anfang 2018 zwei bis dahin weitgehend Unbekannte zu ihren Vorsitzenden machten.
Soll nun auch die SPD ein politisches Poster-Pärchen an die Spitze wählen? Passen ihre klassischen Parteibiografien zum Revoluzzer-Image? Haben Kampmann und Roth überhaupt das nötige Gewicht, um die Partei zu führen – in die nächste Wahl, in eine neue Koalition, in die Zukunft?
Als große Verhandler und kluge Strategen seien sie bislang jedenfalls nicht aufgefallen, meint ein ranghoher Genosse.
Viele Genossen wollen einen Neustart für die SPD
Im Kampf um den Vorsitz bedienen die beiden eine tiefe Sehnsucht vieler Sozialdemokraten, den dringenden Wunsch nach Veränderung, nach besseren Zeiten, in denen Sozialdemokraten wieder Wahlen gewinnen und es zur Abwechslung auch mal Spaß macht, in der SPD zu sein. Nur noch der komplette Neustart könne die Sozialdemokratie retten, glauben viele. „Der Wettbewerb um den Parteivorsitz ist die letzte Chance der SPD“, sagt Roth. „Ein richtig guter Prozess“, findet Kampmann. Sieben Duos konkurrieren um den Vorsitz, 23 Regionalkonferenzen müssen sie absolvieren. Die letzte findet am 12. Oktober in München statt. Anschließend stimmen die Mitglieder ab.
„Wir sind Christina und Michael“, stellt Kampmann sich und ihren Partner gerne vor. „Manche sagen, das klingt wie ein Schlagerduo.“ Sie komme aus Bielefeld, der „Stadt, die es gibt“. Sie sei Standesbeamtin gewesen und habe „Menschen für immer glücklich gemacht“, erzählt sie aus ihrem Berufsleben vor der Politik – und erntet Lacher und Zwischenapplaus.
Wie alle Bewerber beten auch Kampmann und Roth bei den Regionalkonferenzen routiniert die sozialdemokratischen Klassiker herunter – von Frieden über Europa bis zum Sozialen. Doch dramaturgisch stechen sie heraus – mit einer speziellen Rollenverteilung: Sie ist für Humor und Leichtigkeit zuständig, er für die leidenschaftlichen Plädoyers.
Roth tritt ernst auf, spricht energisch, mit Verve. Er will die SPD wieder zur „Heimat der Weltverbesserer“ machen, sagt er. Er schwingt dabei seine Hand durch die Luft, als hämmere er mit der Faust auf einen unsichtbaren Tisch. Wettert er gegen die „Trumps und Bolsonaros dieser Welt“, dann geht Roth in die Knie, sein ganzer Körper bebt. „Michael begeistert da die Menschen“, sagt Kampmann.
In einer parteiinternen Umfrage liegen die beiden vorn
Doch reicht das, um die Macht in der SPD zu übernehmen? Bislang haben knapp 16 000 Menschen an den Regionalkonferenzen teilgenommen. Rund 430 000 Mitglieder hat die Partei. Mehr als die Hälfte davon ist 60 Jahre und älter – nicht gerade die Generation, die typischerweise im Livestream die Konferenzen verfolgt oder sich per Twitter erreichen lässt. An ihnen dürfte Kampmann und Roths Kampagne vorbeigehen: Die Scherze auf der Bühne, die heiteren Tweets, die Selfie-Videos – etwa wenn Roth vor dem Schlafengehen ein kurzes Filmchen ins Netz schickt, in dem er sich darauf freut, bei der Konferenz am folgenden Tag „die Bühne rocken“ zu können.
Möglicherweise reicht es tatsächlich. In einer unter SPD-Mitgliedern erhobenen Umfrage liegt das Duo knapp vorn.
Mehr als zehn ehrenamtliche Helfer bedienen die Online-Profile der beiden Kandidaten. Alles wirkt gut eingespielt, oft aber auch einstudiert. Bei Terminen ist immer jemand mit der Kamera dabei. Wie professionelle Influencer wollen Kampmann und Roth in den Sozialen Medien die maximale Nähe zur Basis erzeugen. Roth sagt, er und seine Mitstreiterin wollten „auf allen Kanälen unterwegs und ansprechbar“ sein.
Nach der Regionalkonferenz im westfälischen Troisdorf Ende September lächeln die beiden in die Kamera. „Das Essen von Mama Kampmann, das war super“, erzählt Roth vom kürzlichen Besuch auf dem Bio-Bauernhof nahe Bielefeld, wo Christina Kampmann aufgewachsen ist. „Euch allen einen schönen Sonntag noch!“
Die Kandidatur war Michael Roths Idee. Nachdem die SPD im Juni ihre Vorsitzende Andrea Nahles vom Hof gejagt hatte, begann der Sozialdemokrat aus Hessen, mit dem Gedanken einer Bewerbung zu spielen. Als mögliche Partnerin sei ihm schnell Kampmann in den Sinn gekommen, erzählt er. Die zwei kennen sich seit 2013, der gemeinsamen Zeit aus dem Bundestag. „Politisch standen wir uns damals schon nah“, erinnert sich Kampmann. Beide gelten als mittig-links. Im Sommer 2019 schlug Roth dann die gemeinsame Kandidatur vor. Kampmann sagte zu, eine Kampagne wurde geplant, eine Webseite erstellt – alles von ehrenamtlichen Helfern, ohne Werbeagentur.
Die Ersten, die Jüngsten, die Schnellsten
Kampmann und Roth sind mächtig stolz darauf, dass sie die ersten in der Partei waren, die sich vorwagten und offiziell um den Vorsitz bewarben. „Uns musste niemand überreden“, betonen sie bei nahezu jeder Gelegenheit - es ist ein Seitenhieb auf Parteivize Olaf Scholz, der sich so lange nicht anzutreten traute. Doch viele Genossen rollen da auch mit den Augen. Sie stört es, wenn Kampmann und Roth ihre Vorreiterrolle so häufig hervorheben. „Man muss da nicht ständig darauf herumreiten“, sagt eine SPD-Bundestagsabgeordnete. Die Ersten, die Jüngsten, die Schnellsten.
„Wir waren die ersten, die das Ende der Schwarzen Null gefordert haben“, ruft Kampmann im Willy-Brandt-Haus ins Publikum. Kurz darauf, in der Fragerunde, tritt eine junge Frau ans Mikrofon und sagt, diese Aussage habe sie schon „mit ein bisschen Verwunderung“ zur Kenntnis genommen. Die Forderung nach dem Ende des schuldenfreien Haushalts stellten doch viele in der SPD, sagt sie. Kampmann muss sich korrigieren. Etwas verlegen und mit einem Lächeln sagt sie: „Wir haben nie gesagt, dass wir die Schwarze Null erfunden haben – und auch nicht das Ende der Schwarzen Null.“
Bei vielen Themen inszenierten sich Kampmann und Roth als Vordenker, sagen Kritiker. Doch oft sei nichts dahinter. Die „nötige Tiefe“ fehle dem Duo. „Für die komplizierten Dinge, wo es kein schwarz und weiß, richtig und falsch gibt, haben wir auf den Konferenzen leider keine Zeit“, gibt Roth zu. „Das Format ist toll, hat aber eine Schwäche: Man kann die Themen nicht in der Tiefe besprechen.“
Hinter der Bühne reagiere der Staatsminister „zunehmend dünnhäutig“ auf Kritik, erzählt man in der Partei. „Das Klima wird rauer im Wettbewerb, das merken wir“, sagt Roth. Manchmal geht ihm das sichtbar nahe. Er sitzt dann kerzengerade auf seinem Stuhl, mit steifem Rücken und harter Miene.
Etwa im hessischen Friedberg Anfang September, als ihm ein junger Mann vorwirft, in „Sonntagsreden“ das eine zu predigen – und dann im Bundestag das andere zu tun. Mit gereizter Stimme verteidigt sich Roth, verweist auf Fraktionsdisziplin und innerparteiliche Solidarität.
Doch der Vorwurf des jungen Genossen sitzt. Zwar gibt Roth gerne den Außenseiter. So wollen er und Kampmann „Frischluft in die Strukturen“ der Partei bringen. Sie fordern einen radikalen Umbau der Parteizentrale, etwa die Abschaffung des SPD-Präsidiums – ein Angebot an die frustrierte Basis, in der viele das Willy-Brandt-Haus für die Misere der Partei verantwortlich machen.
„Die Groko muss überwunden werden“
Doch vor allem Roths Werdegang passt nicht zum Image als Anti-Establishment-Kandidat. Mehr als sein halbes Leben hat er in der SPD verbracht, eine gerade Laufbahn verfolgt. Seit 2017 ist er Mitglied im Bundesvorstand. Roth, der aus einer hessischen Bergmannsfamilie stammt, sitzt seit 1998 im Bundestag. Er war Juso-Vize, Generalsekretär der Hessen-SPD, seit 2013 ist er Staatsminister.
„Die Groko muss überwunden werden“, sagt er heute, vor zwei Jahren warb er für das Bündnis. Einen harten Groko-Exit will er nicht. Sollte er gewinnen, will Roth seinen Job im Außenministerium aufgeben und als einfacher Abgeordneter die SPD anführen. Der Abschied von der Regierungsbank wäre zugleich die Krönung seiner mehr als 30-jährigen Parteikarriere.
Für Kampmann ist die Kandidatur hingegen ein Comeback-Versuch. Sie galt einst als eine Hoffnungsfigur ihrer Partei, als sportliche „Kämpfernatur“. 2013 knöpfte sie im ersten Anlauf der CDU in Bielefeld das Direktmandat für den Bundestag ab. Zwei Jahre später machte SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sie zu Nordrhein-Westfalens Familienministerin – mit 35 Jahren. Im Amt blieb Kampmann aber glücklos. „Keine Ausdauer“, erinnert sich ein prominenter Genosse. Im Mai 2017 wurde die rot-grüne Landesregierung abgewählt, Kampmann verschwand auf der Oppositionsbank im Landtag - bis Roth ihr im Juni die gemeinsame Kandidatur vorschlug. Seither redet man wieder über die Frau aus Bielefeld.
Obwohl sie mit 39 Jahren die jüngste aller Kandidaten ist, konnte sich Kampmann die Unterstützung der Jusos nicht sichern. „Das muss der Juso-Bundesvorstand selbst wissen“, sagt sie. Auch ihr nordrhein-westfälischer Landesverband hat sie nicht nominiert. Und selbst in Bielefeld sei man „ziemlich irritiert“ gewesen über ihr Streben an die Spitze, heißt es.
Ein bodenständiger Genosse
Offiziell aufgestellt hat das Paar im Juli Roths SPD-Bezirk Hessen-Nord. Der Sozialdemokrat gilt bei den örtlichen Genossen als bodenständig. Angefeindet wird er mitunter, weil er sich für eine „feministische Außenpolitik“ und LGBTI-Rechte starkmacht. Ein SPD-Wähler schrieb ihm im Juli, er wolle „keinen Homo als Parteichef“.
Ob Kampmann und Roth es in die Stichwahl schaffen, wird sich am 26. Oktober zeigen. Dann liegt das Ergebnis der ersten Basis-Befragung vor. Unabhängig davon haben sie den Wettbewerb um die SPD-Spitze durch ihre Art – die gewisse Leichtigkeit, das Showtalent – verändert. Die anderen Kandidaten versuchen das mittlerweile zu kopieren, mit Scherzen auf der Bühne oder im Netz.
Misstrauisch ist die Konkurrenz trotzdem geblieben. „Wenn man mit nur guter Laune die Partei wieder aufrichten könnte“, sagt Hilde Mattheis, Bewerberin vom linken Flügel, bei der Konferenz in Berlin, „glaubt mir: Wir hätten 24 Stunden nur gute Laune.“
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