zum Hauptinhalt
Füße hoch legen. Die Generation Y möchte zwar arbeiten. Sie will das Leben aber auch genießen.
© Nicole Harrington/unsplash.com

Wandel der Arbeitswelt: Weniger leisten, mehr leben

Vor 200 Jahren sollte der Mensch fleißig und gesellig sein. Dann hat er angefangen, sich nur noch über die Arbeit zu definieren. Was sich wieder ändert.

Es ist ein gefährliches Versprechen: Wer viel leistet, wird mit Geld belohnt und hochgeschätzt. Doch was sollen dann hart arbeitende Putzfrauen denken, die kaum etwas für ihre Arbeit bekommen? Was Pflegekräfte? Oder Hebammen? Machen sie keinen wichtigen Job? Haben sie keinen Grund, abends stolz nach Hause zu gehen?

Im heutigen Alltagsverständnis ist Leistung gleichbedeutend mit Erwerbsarbeit und ein wesentliches Kriterium für unterschiedlich hohe Löhne. Dieses Denken wird zunehmend kritisiert: von Nicht-Akademikern, weil die Herkunft nach wie vor stark bestimmt, was aus jemandem wird. Von Briefträgern, die lesen, dass der Post-Chef jeden Tag 232 Mal so viel verdient wie sie. Von Rentnern, die an der Suppenküche anstehen, obwohl sie ihr Leben lang geschuftet haben. Das Leistungsversprechen führt entweder zu Enttäuschungen oder zur völligen Erschöpfung. Es bröckelt sichtbar.

Die Historikerin Nina Verheyen von der Universität Köln hat in diesem Jahr passend dazu das Buch mit dem Titel „Die Erfindung der Leistung“ veröffentlicht. Sie schreibt darin: „Jede Leistungsgesellschaft produziert Ungerechtigkeiten und Kummer.“ Wie wahr, werden Psychologen denken: Das Gefühl, nur bei Erfolgen etwas wert zu sein, aus diesem Grund nicht zu genügen, ist Anlass von etlichen Therapien in diesem Land.

Erste Frage: Und was machst du so beruflich?

Die Vorstellung von individueller Leistung, wie sie heute in den Köpfen existiert, entstand dabei erst im 19. Jahrhundert. Zuvor hatten bürgerliche Männer zwar auch Wert auf ihre Arbeit gelegt, aber ebenso auf Bildung, Geselligkeit, Wohltätigkeit, die Familie. Das Ideal war ein „ganzer Mensch“ – und keiner, der sich nur über seinen Job definiert. Die erste Small-Talk-Frage lautet heutzutage meist: Und was machst du so beruflich?

Zunächst einmal hatte der Wandel damals einen guten Kern, da er Status und Einkommen an Leistung statt an die Abstammung knüpfen wollte. Das sollte die Produktivität steigern und die Gesellschaft gerechter machen. Im Zuge der Industrialisierung entstand jedoch das Bild, dass auch der menschliche Körper ein Motor sei und dementsprechend eine Leistung erbringe – definiert als Arbeit pro Zeit. Man fing an, das Ergebnis des Einzelnen genau zu messen und mit denen von anderen zu vergleichen, etwa mit Schulnoten und ersten Intelligenztests. Doch schon im deutschen Kaiserreich wurde diskutiert, ob der schulische Notendruck nicht krank mache.

„Es gibt aber keine individuelle Leistung im quasiphysikalischen Sinn“, kritisiert Verheyen. Das soziale Umfeld sei unter anderem entscheidend: Haben die Eltern den Charakter gestärkt? Motiviert der Chef oder frustriert er? Außerdem komme es immer darauf an, wer über das Können eines anderen urteile und nach welchen Maßstäben. Zur Gegenwart sagt die Historikerin: „Wir leben im Zeitalter der Leistung und der Leistungskritik.“

Sollte der Philosoph Richard David Precht in seinen Interviews Recht haben, wird es damit bald vorbei sein. Seine These lautet: Wegen der Digitalisierung werden viele Jobs verschwinden. Die Menschen würden insgesamt weniger oder gar nicht mehr arbeiten. Deshalb sollte langsam schon jetzt überlegt werden, was den Menschen in Zukunft ausmacht, wenn Arbeit an Bedeutung verliert.

Die jungen Menschen wollen anders leben

Hinzu kommt, dass die junge Generation anders leben möchte. Ihre Eltern und Großeltern haben wegen ihrer Sozialisation noch gelebt, um zu arbeiten. Es galt Sicherheit statt Selbstverwirklichung. Viele junge Menschen denken heute andersherum. Jeder zweite Beschäftigte möchte zum Beispiel weniger Zeit im Büro verbringen. Der Wunsch ist eine 35-Stunden-Woche, wie eine aktuelle Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz zeigt – auch ruhig für weniger Geld. Manche Unternehmen werben mit mehr Freiheit und Freizeit um gute Mitarbeiter. Das Sabbatical, heißt es, sei der neue Dienstwagen geworden.

Auch bei den beschlossenen Arbeitsgesetzen in diesem Jahr wie dem Rechtsanspruch auf Brückenteilzeit geht es um dieses Bedürfnis. „Arbeit, die zum Leben passt – das ist für immer mehr Menschen ein entscheidender Wert und für mich ein wesentliches Ziel“, sagt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Zwar liegt das auch an der gesellschaftlichen Entwicklung, dass Frauen und Männer berufstätig sein, und nicht mehr nur der Mann, während die Frau zu Hause für Kinder und Haushalt sorgt. Es liegt aber auch an einem Zuviel an Stress und permanenter Optimierung – sogar des Schlafs – und dem Wunsch, die Lebenszeit wieder ausgeglichener aufzuteilen. Die einen mögen das eine Luxushaltung nennen, die anderen eine dringende Notwendigkeit.

Der Numerus clausus wird infrage gestellt. Neben Noten zählen emotionale Fähigkeiten immer mehr. Väter, die sich eine längere Auszeit für die Familie nehmen, sind Vorbilder. Immer mehr Führungskräfte wollen eher gute Ergebnisse sehen als überlanges Rumsitzen am Abend. Es verändert sich etwas. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sieht aber auch ein Konfliktpotenzial darin, „wie wir als Gesellschaft Leistung definieren“. Einige würden sie noch immer mit hohen Einkommen gleichsetzen und eine Entlastung der Besserverdienenden fordern. „Immer mehr Menschen definieren Leistung jedoch nicht mehr über Geld, sondern über den gesellschaftlichen Beitrag und Solidarität“, sagt er. Dieser Konflikt spalte das Land. „Daher brauchen wir dringend eine stärkere Debatte zu dieser wichtigen Frage.“

Auch Verheyen verteufelt den Leistungsgedanken nicht per se. Es sei im Vergleich zu Herkunft oder Gesinnung immer noch die beste Ordnungskategorie des Miteinanders. Aber auch sie plädiert für ein sozialeres Verständnis. Dass jemand fürsorglich ist, sich um andere Menschen kümmert, solle wieder von größerem Wert sein.

Aktuelle Debatten über weniger Leistung und mehr Zeit

Füße hoch legen. Die Generation Y möchte zwar arbeiten. Sie will das Leben aber auch genießen.
Füße hoch legen. Die Generation Y möchte zwar arbeiten. Sie will das Leben aber auch genießen.
© Nicole Harrington/unsplash.com

Diese aktuellen Debatten drehen sich ebenfalls um weniger Leistungsdruck und mehr Zeit:

Geld ohne Gegenleistung

Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens rüttelt am Kern der Prinzipien von Lohnarbeit und Leistungsgesellschaft. Wird sie Realität, soll sich niemand mehr um seine Existenz sorgen. Was der Mensch zum Leben braucht, wäre minimal gesichert. Er könnte arbeiten, müsste es aber nicht unbedingt.

Schon im 16. Jahrhundert propagierte der britische Autor Thomas Morus in seinem Roman „Utopia“ einen bedingungslosen Lebensunterhalt, unabhängig von Vermögen, um Diebstähle zu vermeiden. Heute diskutieren Politiker und Unternehmer regelmäßig darüber. In mehreren Ländern gab es schon Pilotprojekte und Volksabstimmungen. Hierzulande ist das Konzept zwar umstritten, aber wer Glück hat, kann es ein Jahr ausprobieren. 2012 gründete der Berliner Michael Bohmeyer den Verein „Mein Grundeinkommen“. Per Crowdfunding wird eine Summe von 12 000 Euro gesammelt und dann an einen von mindestens einer halben Million Teilnehmern verlost. Besonders starkes Interesse hätten 30- bis 40-Jährige mit höherem Bildungsabschluss. Momentan wird für die 247. Runde gesammelt.

Was Gewinner mit dem Geld gemacht haben? Manche haben gekündigt, sich weitergebildet oder den lang ersehnten Schritt in die Selbstständigkeit gewagt. Andere haben ihren Job behalten, aber die Stunden reduziert, um weniger gestresst zu sein und mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Oder sie haben gar nichts geändert, sondern lediglich mit weniger Druck gearbeitet. Dass jemand ein Jahr rein gar nichts macht, habe es noch nicht gegeben. Mit tausend Euro im Monat ist auch kein ausschweifendes Leben möglich. Außerdem seien die meisten intrinsisch motiviert, zu arbeiten. Vor allem, wenn die Aufgaben Spaß machen.

Sozialhilfe ohne Strafen

Momentan diskutieren Politiker wieder darüber, ob Hartz IV reformiert oder abgeschafft werden sollte. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte kürzlich im Interview mit dem Tagesspiegel: „Arbeit muss immer einen Unterschied machen. Ich bin deshalb auch kein Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens.“ Außerdem ist Heil dagegen, auf Forderungen an die Leistungsbezieher vollkommen zu verzichten. „Wenn jemand zum zehnten Mal nicht zu einem Termin beim Amt erscheint, sollte das Konsequenzen haben.“

Parteichefin Andrea Nahles hatte zuvor eine „Sozialstaatsreform 2025“ gefordert und angekündigt: „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen.“ Eine neue Grundsicherung solle ein Bürgergeld sein. Grünen-Chef Robert Habeck schlägt eine „Garantiesicherung“ vor, bei der es keinen Zwang zur Arbeit und Sanktionen geben soll. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist dagegen. „Geld ohne Gegenleistung widerspricht meinem Bild einer sozialen Marktwirtschaft“, sagte er dem „Handelsblatt“. Wer arbeite, müsse am Ende des Monats mehr Geld haben als jemand, der das nicht tut. Der Bund der Steuerzahler kritisierte in diesem Jahr, dass dieses Prinzip schon jetzt nicht immer gelte. Wer eine vierköpfige Familie ernähren wolle, brauche einen Bruttolohn von mindestens 2540 Euro, um netto das Hartz-IV-Niveau zu erreichen. Allerdings wurde bei den Berechnungen das Kindergeld nicht einbezogen.

Arbeiten und leben

Über die jungen Arbeitnehmer wird oft gemosert, sie seien anspruchsvoll und freizeitorientiert. Jutta Rump ist Leiterin des Instituts für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen und Autorin des Buchs „Die jüngere Generation in einer alternden Arbeitswelt – Baby Boomer versus Generation Y“. Zwar seien die Nachwuchskräfte noch immer leistungsorientiert, sagt sie, aber mit der Einschränkung, dass der Job Spaß machen müsse, eine Perspektive habe und sinnvoll erscheine. Außerdem werde der Leistungsbegriff in der Generation Y breiter definiert als rein über den Beruf. „Durch die Relativierung der Arbeit als Lebenssinn im Vergleich zu Lebensgenuss und der Wertschätzung von Familie und Freundeskreis bezieht sich Leistung immer stärker auf das gesamte Leben“, sagt sie.

Die jüngere Generation sei sich sehr wohl bewusst, in einer Leistungsgesellschaft zu leben, und scheue auch keine harte Arbeit. Gleichzeitig habe sie allerdings auch ein gesundes Bewusstsein für die Gefahren, die mit einer hohen beruflichen Belastung einhergehen. Oder die jungen Erwachsenen erinnern sich an Väter, die wegen der Arbeit kaum zu Hause waren und das irgendwann bereut haben.

Aspekte wie „Work-Life-Balance“ oder „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ stehen heute für viele junge Erwachsene vor Statussymbolen und Karriere. Das zeigt sich auch darin, dass die Gewerkschaft IG Metall in diesem Jahr einen Tarifvertrag ausgehandelt hat, der Beschäftigten die Wahl zwischen mehr Lohn und mehr freien Tagen lässt. Die Mehrheit nimmt die freie Zeit. Auch bei der Deutschen Bahn haben in diesem Jahr 58 Prozent der Tarifbeschäftigten anstelle einer Lohnerhöhung sechs Urlaubstage mehr gewählt.

Frei und depressiv sein

Es gibt etliche Umfragen und Studien dazu, dass Stress und psychische Erkrankungen in Deutschland seit Jahren zunehmen. Laut dem DGB-Index Gute Arbeit 2018 fühlen sich bundesweit 52 Prozent der Beschäftigten sehr oft oder oft bei der Arbeit gehetzt und unter Zeitdruck. Ein Viertel der Menschen zeigt nach Angaben des Statistischen Bundesamtes depressive Symptome. Mehr als eine Million sind wegen Angststörungen oder Depressionen in stationärer Behandlung; sehr viel mehr lassen sich ambulant von einem Therapeuten behandeln. Arbeitsausfälle wegen dieser Leiden haben laut der Techniker Krankenkasse in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 80 Prozent zugenommen.

Die Deutschen seien heute frei wie nie zuvor und trotzdem kollektiv depressiv, beschrieb die Autorin Juli Zeh das Dilemma vor Kurzem in einem Interview mit dem Tagesspiegel-Sonntag. Burnout und Panikattacken seien die Symptome dieser Zeit. Die vielen Optionen würden einen Druck erzeugen, das bestmögliche Leben zu leben. „Das führt dazu, dass schon Dreijährige im Kindergarten Chinesisch lernen sollen, damit sie mit 24 Jahren einen guten Job bekommen.“ Jutta Rump spricht ebenfalls von einem krank machenden Pflichtgefühl der jungen Menschen eben nicht nur im Job, sondern in jedem Lebensbereich: „Der Angehörige dieser Generation, das ist die Schwierigkeit, muss eigentlich in jeder Hinsicht perfekt sein.“

Zur Startseite