Interview mit Schriftstellerin Juli Zeh: "Ich bin eine gut bezahlte Arbeitslose"
Die Deutschen sind frei wie nie zuvor und trotzdem kollektiv depressiv, sagt Autorin Juli Zeh. Sie wünscht sich weniger Druck, ständig besser zu werden.
Frau Zeh, im neuen Roman beschreiben Sie eindrücklich Panikattacken. Ein Gefühl, das Sie kennen?
Ich hatte vor drei Jahren einen Burnout, der mit Angstzuständen verbunden war.
Das war nach dem Erfolg von „Unterleuten“, das sich über 600 000 Mal verkauft hat?
Davor schon hatte ich erste Anzeichen, hab’s halt nur nicht gecheckt. Flimmern im Gesichtsfeld, Kopfschmerzen, Unruhe, die übliche psychosomatische Palette, die sich ganz gut ignorieren lässt, solange man nicht die rote Karte gezeigt kriegt.
Sind Burnout und Panikattacken Symptome unserer Zeit?
Absolut. Ich habe jetzt keine Zahlen parat, aber ich kenne niemanden im erweiterten Bekanntenkreis, der damit nicht in irgendeiner Form zu tun hatte. Wir reden hier von einer Volkskrankheit.
Jeder rennt ins Yoga-Studio und regt sich trotzdem auf, wenn ein Fahrradfahrer falsch abbiegt.
Es existiert ein Missverhältnis zwischen der Gelassenheit, die man erreichen möchte, und der Selbstoptimierung, die man verfolgt. Man will Störquellen ausschließen, nach dem Motto, ich bin ruhebedürftig, mich nervt das Kind, der Hund, das Handyklingeln. Wir neigen dazu, Dinge aus dem normalen Leben als Belästigung zu begreifen, die es abzuschaffen gilt. Letztlich steckt hier auch eine Ursache für Intoleranz gegenüber allem Fremden: sich darüber aufzuregen, was jemand anders macht, wie der aussieht, wie der sich benimmt.
Ab den 60er Jahren hieß es doch: Sei anders! Finde dich selbst!
Die Grundidee war, den Menschen von Zwängen und übergeordneten Mustern zu befreien, in die er hineingepresst wird. Sei es die Religion, die patriarchale Familie, der hierarchische Arbeitgeber. Erst mal ein schöner Gedanke. Nur, was tun mit dieser individuellen Freiheit? Aha, Selbstverwirklichung. Diesen Raum muss man dann auch füllen. Dass das mit enorm viel Druck verbunden ist, haben viele nicht bedacht. Die Chance wird zum Imperativ: Du musst deine Freiheit nutzen, du musst gut sein, glücklich sein. Das führt dazu, dass schon Dreijährige im Kindergarten Chinesisch lernen sollen, damit sie mit 24 Jahren einen guten Job bekommen. Die Biografie muss bis ins Letzte durchgeplant sein, nur keinen Fehler machen. Wie soll man sich denn entspannen, wenn man zu dieser Optimierung gezwungen ist, egal worum es geht, Sport, Sex, Liebe, Familie?
Das sagen ausgerechnet Sie. Das Jura-Studium haben Sie mit cum laude abgeschlossen, fast jedes Jahr schreiben Sie einen Bestseller, nun sind Sie für das Amt einer Verfassungsrichterin vorgeschlagen worden. Warum halsen Sie sich das auf?
Mit dem Aufhalsen habe ich vor ein paar Jahren Schluss gemacht, als mir klar wurde, was für ein Teufelskreis da läuft. Nun tue ich fast nur noch Dinge, die mir wichtig sind. An erster Stelle stehen die Familie und das Schreiben, an zweiter Stelle gesellschaftliches Engagement. Dazu würde das Amt als Verfassungsrichterin gehören.
Hatten Sie zuletzt ein schlechtes Gewissen, weil Sie nach Ihrem Studium eine heroische Arbeitsrechtlerin oder Asylanwältin hätten werden können?
Schuldgefühle hatte ich oft, ja.
Sie beschreiben sich als Schreibtischtäterin.
Es ist kein quälendes Gefühl, eher ein Bedauern. Ich glaube fest daran, dass das Rechtssystem ein wichtiger Baustein ist, um gesellschaftlichen Frieden zu bewahren. Genau das gleiche schlechte Gewissen plagt mich, wenn einer sagt, ich könnte politisch eine noch viel wichtigere Rolle spielen.
Vor zwei Jahren sind Sie in die SPD eingetreten.
Da werden ja wahrscheinlich bald Jobs frei. Aber das kommt für mich nicht infrage. Weil ich das nicht aushalte, was ein Politiker leisten muss. Mit 500 verschiedenen Leuten am Tag zu reden und immer wieder seine zwei, drei Punkte deutlich zu machen. Nach drei Tagen wäre ich reif für die Klinik. Ein Politiker muss ein bestimmter Menschentypus sein, ohne Schlafbedürfnis.
Und Sie haben ein hohes?
Normal, würde ich sagen. Sieben Stunden sind super. Aber ich weiß nicht, wie viel eine Frau Merkel pennt. Kann man sich überhaupt mitten in der Flüchtlingskrise abends aufs Kissen legen und sagen, haaaa, jetzt schlummern?
In „Unterleuten“ schreiben Sie: „Politik ist, wenn sich gelangweilte Westdeutsche mehr für Vögel als für Menschen interessieren.“
Ein Seitenhieb auf Geschichten wie Stuttgart 21. Das ist im Moment passé, weil wir wieder Rechtspopulismus haben, doch davor waren über Jahrzehnte hinweg Infrastrukturprojekte das Einzige, womit du Leute noch zu einer Demo gekriegt hast.
Die Waldschlösschen-Brücke …
… Bahnhöfe, Flughäfen, Startbahn West. Irgendwas bauen, und dann beschweren sich alle.
Für Sie sind das Nebenschauplätze?
Wie würden Sie das nennen? Es geht um eine Belästigungspolitik. Uh, die bauen hier einen Flughafen, ich höre immer den Lärm. Ach so, in Syrien fallen Bomben, ja, das ist schlecht, aber wehe, es hat 60 Dezibel mehr in meinem Wohnzimmer.
Sie haben mal gesagt, seit der Wende leben wir in einem Deutschland, das ungeheuer bequem geworden ist, und trotzdem ertragen wir es nicht.
Ja, man kann sich’s kaum noch besser vorstellen. Was wäre jetzt noch die Steigerungsform? Doch wofür lohnt es sich noch zu kämpfen, wenn Menschen, denen es richtig gut geht, an dem Punkt ankommen, kollektiv depressiv zu werden? Wir müssen es schaffen, ein Thema wie Arbeit wieder mehr in unsere Politik reinzubringen. Nicht nur Krisenverwaltung zu machen oder uns jahrelang über ein faktisch nicht sehr existentes Flüchtlingsproblem zu unterhalten. Wer sind wir, wie fühlen wir uns dabei, wo wollen wir hin? Ich glaube, das tut Gesellschaften gut, wenn die Menschen gemeinsam das Gefühl haben, in eine Richtung zu gehen.
„Fürsorge ist unser größtes gesellschaftliches Defizit“
Welches Modell schwebt Ihnen vor?
Ein System zu finden, was das menschliche Leben unabhängig von Arbeit würdigt. Denn die Digitalisierung wird unsere Arbeitswelt weiter verändern. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein allererster zarter Ansatz. Die große Frage bleibt, wie wollen wir uns in Zukunft definieren, wenn nicht über die Arbeit? Und dann kommen wir zu unserem größten gesellschaftlichen Defizit. Wir sind ein schweinereiches durchindustrialisiertes Land und bei der Fürsorge für Schwächere, die Alten, die Kranken, die Kinder, völlig defizitär aufgestellt. Pflegenotstand, Krankenhäuser am Abgrund, zu wenige Kitaplätze. Das kann doch nicht sein. Wäre es möglich, eine Gesellschaft zu organisieren, in der die Fürsorge den menschlichen Wert ausmacht und nicht die bezahlte Arbeit? Ansätze gibt es schon, kleine Gemeinschaften, die sich in einem Stadtviertel vernetzen und eine Hilfeleistungstauschbörse anbieten. Einer kann Kinder betreuen, Hunde ausführen, Klavierspielen, was weiß ich. Dann brauchst du nur einen Umrechnungsmodus, aber ich meine jetzt nicht Geld, sondern ein Creditsystem.
Seit Jahren leben Sie in einem Brandenburger Dorf. Hat Ihnen das Landleben diese soziale Dimension nahegebracht?
Zumindest greifbarer gemacht. Es hat mir eine Idee davon verschafft, was Leute zufrieden macht. Ich lebe in einer Gegend, in der Menschen ökonomisch betrachtet sehr arm sind. Sie arbeiten viel, kriegen aber keinen Burnout. Weil sie ihr Selbstbild, ihre Freude, ihre Energie über die soziale Dimension beziehen.
Sie sind gut im Dorf vernetzt. Die Nachbarin kommt und bringt Ihnen Selbstgebackenes?
Kuchen ist die Idee des Städters vom Landleben. Nee, bei uns ist das nicht so. Neulich bin ich mit einer Schubkarre voll perfekt reifer Pfirsiche durch das Dorf gefahren, frisch gepflückt aus unserem Garten. Die wollte keiner haben. Es gibt hingegen eine große Selbstverständlichkeit in der Begegnung und in der Kooperation. Jeder sieht sich ständig, redet über seinen Alltag, findet eine Möglichkeit, zu helfen.
Umgekehrt fühlt man sich im Dorf schnell überwacht.
Also das empfinde ich halt null, ich habe mich in der Stadt total beobachtet gefühlt, da hängen doch die Kameras. Ich kann bei uns im Schlafanzug mit hochstehenden Haaren und einer Zahnbürste im Mund aus dem Haus gehen und mit meinem Hund morgens seine Pinkelrunde machen. Interessiert keine Sau.
Sie reden von persönlicher Freiheit, die Sie empfinden. Wie haben Sie die als Jugendliche in Bonn erlebt?
Ich habe mich total frei gefühlt. Vielleicht lag’s auch an der Epoche, Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, die Zeit des Mauerfalls, des Endes von Blockkonfrontation. Die Zukunft sahen wir positiv. Wir Schüler waren so: Yeah, ich will reisen, Sprachen lernen, raus hier. Das schon mal sowieso. Ich wollte weg ...
… von der Godesberger Mischung, wie Sie das einmal nannten ...
… aus der sehr sicheren und ein wenig langweiligen Stadt. Wir hatten alle hochtrabende Pläne. Aber eben nicht, um bloß keinen Fehler zu machen. Wir sind mit 16 auf Interrail gegangen, wo die Eltern gekreischt haben. Richtung Süden, durch Italien tingeln, das war unser Ausdruck von Lebensgefühl. Natürlich hatte das was Kulissenhaftes. Wir spielten Vagabunden. Landstreicher, die sich vier Wochen plagten und dann zurück nach Hause fuhren.
Und wie war es, ohne Eltern zu verreisen?
Objektiv betrachtet: die Hölle. Ich hatte nach einer Woche einen Darminfekt, habe nachts draußen in irgendwelchen Stadtparks gepennt, bin von der Polizei mit einem Wasserschlauch weggespritzt worden. Aber ich fand mich selber toll, der erste Gang in die Welt hinaus. Interrail steht symbolisch für die damalige Zeit. Zu sagen, ich brauche keine Sicherheit, kein Geld, nur mich selber und dieses Zugticket. Heute ist es ja oft so, oh Gott, ich muss in die Stadt, wo ist mein Handy, wo sind meine passenden Schuhe und noch drei Pullover. Diese Absicherung gegen jede Form von Alltagsrisiko empfinde ich als den Zeitgeist.
Sie haben damals auch die sichere Variante gewählt und nach der Schule Jura studiert – in Passau.
Können wir das nicht ausklammern? Ich bin wirklich nur hin, weil ich dachte, ich kann da mein Studium mit einer fachspezifischen Fremdsprachenausbildung kombinieren. Das gab es kaum an einer anderen Uni. Unter den Studenten war die Perlenketten- und Barbour-Jacken-Dichte extrem hoch, die trugen alle diese Gold-Creolen, richtig fies. Das hatte den angenehmen Effekt, dass ich provokant sein konnte, ohne mich weit aus dem Fenster zu lehnen. Es hat völlig gereicht, keine Barbour-Jacke zu tragen – schon war ich der Ober-Punk.
Was haben Sie sich davon versprochen?
Keine Ahnung, einfach so „anti“, das war damals die Zeit, superlinks, Grunge, kaputte Klamotten. Wir aus dem gesettelten Westen wollten irgendwie der Wohlstandsgesellschaft entkommen.
Während zur selben Zeit der Osten hinein wollte.
Endlich mal was zu haben, was nicht kaputt ist, stimmt. Als ich 1995 nach Leipzig zog, hatte ich am Anfang Diskussionen mit Leuten, die nicht verstanden, dass ich die kaputte Stadt so romantisch fand. Ich konnte mich begeistern für das alte Reichsgericht, den Birkenwald auf dem Dach, der in den Regenrinnen gewachsen war und einen Kranz um das Gebäude bildete. Die Leute fanden es obszön, dass ich das nicht als Zeichen einer Verwahrlosung begriff.
War die persönliche Freiheit in Leipzig größer als in Passau?
Nach Ostdeutschland zu gehen, das war wie der Aufbruch ins Weltall. Ich fand es so irre in den ersten Jahren, welche unterschiedlichen Lebensauffassungen ich im Vergleich zum Westen sah. Dass es im Leben nicht nur darum geht, mehr zu erreichen, mehr zu schaffen. Natürlich herrschte eine Aufbruchsstimmung, ein Zustand der Befreiung. Und der wurde nicht umgesetzt in roboti, roboti, sondern es wurde Kunst gemacht, gefeiert, ohne Ende geredet.
Spielten andere soziale Werte eine Rolle?
Der hilfsbereite Ossi, dieses Klischee stimmt eben auch. Ich bin mit meiner ganzen WG von Passau nach Leipzig gezogen, in ein total frisch saniertes, nach Trockenbau stinkendes Haus. Nach drei Monaten waren wir nicht mehr zu viert, sondern zu acht, weil der Winter kam, es bei vielen Leuten keine Heizung gab oder gerade keine Kohlen, und die gingen dann zu denen, die warme Öfen hatten. Das war völlig normal. Oder dass man in einen Elektronikladen geht, wo irgendein Bastler sitzt, man wollte eigentlich nur was gucken, und dann trinkt man drei Stunden Kaffee mit dem Mann.
„Wo kommen denn die ganzen AfD-Wähler her?“
Haben Sie Sächsisch lieben gelernt?
Nee. Sorry. Und auch nicht die damals schon krass ausgeprägte rechte Szene. Wenn ich heute Politiker höre: Wo kommen denn die ganzen AfD-Wähler her, denke ich, wo seid ihr Anfang der 90er Jahre gewesen? Als die am helllichten Tag mit Hitlergruß durch die Straße marschiert sind? Wenn du die Polizei angerufen hast, hatte die überhaupt kein Unrechtsbewusstsein. In Leipzig gab es die National Befreite Zone Grünau, da haben Rechte patrouilliert. Einmal sind wir mit unserem bunt bemalten VW-Bus reingefahren, haben geparkt, und die Nazis haben versucht, den Bulli umzuwerfen. Haben von außen gegen die Scheiben geklatscht, erst mal mit der flachen Hand, dann angefangen, das Auto aufzuschaukeln. Ich bin voll aufs Gas, aber das war Alltag.
Hat Ihnen das Angst gemacht?
Als die an dem Bus rumgerüttelt haben, hatte ich total Schiss. Ich linke Zecke mit meinen Dreadlocks. Wäre ich farbig gewesen, hätte ich bei jedem Gang auf die Straße Panik gehabt.
Denken Sie, man hätte damals stärker einschreiten müssen?
Hallo, natürlich, volles Rohr. Und das war Leipzig, ich will nicht wissen, wie das in der Umgebung in irgendwelchen kleinen Käffern war. Das gehörte schon Ende der 80er Jahre zum Widerstand gegen das System. Wenn du in einem kommunistischen Staat aufwächst, ist Rechts-Sein der Protest. So wie wir Punks waren als Antikapitalisten.
Wenn Sie sich die Ausschreitungen in Chemnitz Ende August angucken, sehen Sie eher ein Rassismusproblem oder die Folgen der nicht aufgearbeiteten Wendeerfahrung?
Also Letzteres glaube ich gar nicht. Diese Legende vom abgehängten Ostler, der das in Aggression umsetzt. Ich glaube, wir haben kein Problem mit akuten Gewalttätern. Das ist eine vergleichsweise kleine Zahl, vielleicht ein paar tausend. Wenn ich Ostdeutschland betrachte, sehe ich das Problem viel eher darin, dass es Rückenwind aus einem bürgerlichen Milieu gibt. Und an der Stelle habe ich keine Lust, diese Abgehängten-These zu akzeptieren, weil die nach Rechtfertigung klingt. Nach dem Motto, wir sind ja selber Opfer.
Soll man mit den Nazis reden, oder ist da eine rote Linie überschritten?
Für mich ist die entscheidende Frage nicht das Reden mit denen, mein Problem ist das Reden über die. Seit spätestens Anfang 2016 haben wir einen überdominierten Diskurs. Zunehmend wird das zum Metathema, also was darf man sagen, mit wem darf man sprechen, wie viel darf man reden. Das halte ich für grundfalsch. Ist natürlich schwer, es sein zu lassen. Dafür müsste man ja die Medien auf Knopfdruck abschalten.
Besteht da nicht die Gefahr, wenn sie es ignorieren, könnte Schlimmeres folgen?
Ich habe an der Stelle so einen negativen Reflex: Ihr Saubeutel geilt euch dran auf. Das stimmt gewiss nicht in allen Redaktionen, ich weiß, dass dort darüber diskutiert wird, ob man bei einem Gewaltverbrechen schreibt, dass der Tatverdächtige ein Iraker war, also wo die Informationspflicht endet und wo die Diskursverantwortung beginnt. Aber dann gucke ich mir die Talkshow-Themen an und denke, kommt schon, ihr stürzt euch doch nur darauf, weil es medial so verdammt sexy ist. Weil es nach wie vor das Skandalöseste ist, was du in Deutschland machen kannst. Mit Rechten reden.
Sie sitzen selbst als eine der wenigen Frauen in Talkshows. Über was würden Sie lieber reden?
Solange die über die AfD diskutieren, gehe ich da nicht hin. Warum reden wir nicht mal über Arbeit? Überlegen uns, ob wir nicht eine neue Definition dieses Gedankenkonzepts brauchen. Geht dieses „immer schneller, immer weiter“ noch, wenn unsere Ressourcen endlich sind und alle Wirtschaftsforscher prognostizieren, dass ganze Jobbranchen wegen der Digitalisierung vom Aussterben bedroht sind? Arbeit soll ja heute Selbstverwirklichung sein. Die Identität baut sich auf den Job auf. So werden wir alle zu Selbstausbeutern. Schlecht gerüstet für die Zukunft.
Identifizieren Sie sich über Ihren Beruf als Schriftstellerin?
Das ist keine Arbeit. Also wirklich, wirklich, wirklich nicht.
Berufung?
Eher Hobby. Ich verbringe damit so wenig Zeit, im Schnitt eine Stunde am Tag, dass ich das nicht als Arbeit definiere.
Also sind Sie ...
... eine gut bezahlte Arbeitslose. Ich habe mich tatsächlich, als ich entschieden habe, die Schriftstellerei zum Beruf zu machen, vor allem an dieser Frage aufgehalten. Packe ich das, mein Leben im beruflichen Nichts zu führen? Kann ich mit Kunst genug Geld verdienen, dass die Familie davon leben kann und ich mich gleichzeitig als kompletter Mensch fühle?
Aha, sogar Sie haben sich selbst verwirklicht.
Schreiben ist natürlich eine Selbstverwirklichung, Kunst ist die Urmutter des Selbstausdrucks. Aber ich meine was anderes, wenn ich von Arbeit rede. Was mache ich von acht bis 18 Uhr, und wie fühle ich mich dabei? Wenn ich ins Büro gehe, meine Kollegen treffe, meine Aufgaben kriege. Was ist mein Status? Dieses komplexe System mit seinen Sozialstrukturen, seinen Dynamiken. Die Arbeitslosen, die ich kenne, leiden am meisten nicht an wirtschaftlicher Armut, sondern an Schuldgefühlen: dem Eindruck, nicht mehr zur Gesellschaft zu gehören. Auch das ist symptomatisch für unsere Zeit.