Digital malochen: Was Industrie 4.0 mit Mensch und Maschine macht
Mit der Digitalisierung ändert sich die Arbeit in der Industrie. Wie Unternehmen und Gewerkschaften sich darauf einstellen.
Es trifft fast jeden Zweiten. Das jedenfalls glauben Carl Benedikt Frey und Michael Osborne in ihrer düsteren Studie über die Zukunft der Beschäftigung. Die Digitalisierung der Wirtschaft gefährde in den kommenden zwei Jahrzehnten fast die Hälfte der Arbeitsplätze in den USA, erwarten die beiden Oxford-Professoren. Den Machern der Cebit können solche Visionen nicht gefallen. Schließlich haben sie die in Hannover stattfindende Computermesse in diesem Jahr mit dem Kunstwort „D!conomy“ überschrieben. Das Ausrufezeichen soll signalisieren: Die Zukunft der Wirtschaft (Economy) ist digital. Ohne die Informationstechnologie, die sich einmal im Jahr in der niedersächsischen Landeshauptstadt trifft, ist die klassische Industrie künftig nicht denkbar, soll das heißen. Und tatsächlich ist die Verschmelzung von IT und Produktion das bestimmende Thema.
Die vierte Revolution erfasst alle Lebensbereiche
Die größte Industriegewerkschaft der Welt versucht sich darauf einzustellen. „Industrie 4.0 kann nur funktionieren, wenn die Belange der Arbeitnehmer rechtzeitig einbezogen werden“, sagt Jörg Hofmann, zweiter Vorsitzender der IG Metall. Er hat dafür gesorgt, dass seit Anfang des vergangenen Jahres in einer neuen Abteilung „Zukunft der Arbeit“ Soziologen und Politologen für die IG Metall erforschen, was alles droht. „Die vierte industrielle Revolution erfasst alle Lebensbereiche, vom privaten Haushalt bis ins Büro und in die Fabrik, von der Freizeitgestaltung bis zur Gesundheitsversorgung. Das können wir nicht der Wissenschaft und den Unternehmen überlassen“, sagt Hofmann.
Nur wenige Wochen nach Angela Merkel ist er kürzlich in Amberg gewesen, um sich die Vorzeigefabrik von Siemens anzuschauen. Siemens ist ein mitbestimmter Konzern, in dem die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaft in den einzelnen Betrieben aber auch im Aufsichtsrat mitreden. Das ist aber bei weitem nicht überall so. „Wir wehren uns gegen die Amazonisierung der Arbeitswelt, in der Arbeitgeber allein bestimmen, wann und zu welchen Bedingungen gearbeitet wird, wie die Arbeit organisiert wird und welche Daten der Arbeitnehmer dafür genutzt werden“, sagt Hofmann, der voraussichtlich im kommenden Herbst zum IG Metall-Chef gewählt wird. „Und wir brauchen neue Antworten in Bezug auf Datenschutz und Datensicherheit."
Was geschieht mit dem Heer der Industriearbeiter?
Sicher, die Zahl der Arbeitsplätze in der IT- und Telekommunikationswirtschaft hierzulande wächst ständig. Rund 26 000 sind nach Angaben der Branche allein 2014 hinzugekommen, Ende dieses Jahres ist die Millionenmarke in Sicht. Aber in der Industrie sind mehr als sieben Mal so viele Menschen beschäftigt. Was also geschieht mit dem Heer der Industriearbeiter, wenn sich künftig die Maschinen ohne ihr Zutun miteinander unterhalten können? Was passiert mit den einfachen Industriearbeitsplätzen, wenn Algorithmen die mechanischen Konstruktionen zu ungeahnter Effizienz treiben? Wenn Roboter nicht mehr nur programmierte Bewegungen stoisch absolvieren, sondern mit fünf Sinnen lernen und flexibel reagieren können?
Die meisten von ihnen werden weiterhin Arbeit haben, sind sich Fachleute aus der Wissenschaft sicher. „Die menschenleere Fabrik, ist eine Vision, die es nicht gibt“, stellt Josephine Hofmann klar. Sie forscht am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation unter anderem zur Flexibilisierung der Arbeitswelt. Vieles werde sich durch Automatisierung verändern – und viel stärker als bislang werde das auch die Industriearbeitsplätze betreffen und nicht mehr nur die Dienstleister an ihren PCs und in ihren Büros. Aber es wird Verschiebungen geben. „Es werden Stellen wegfallen, gleichzeitig werden neue entstehen. Es wird auch neue Berufe geben, die wir heute noch nicht kennen.“ Von Endzeitszenarien wie sie Frey/Osborne oder Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee („The Second Machine Age“) prophezeien, hält sie nicht viel. „Das zweite Maschinenzeitalter, also die pure Automatisierungsgewalt, müssen wir nicht befürchten.“ Die Industriekonzerne hätten aus den Entlassungswellen der 1980er gelernt. „Die Unternehmen – auch in der Industrie – sind sehr daran interessiert, die Menschen mitzunehmen.“
Arbeitsmarktforscher bemühen sich derzeit um eine breite gesellschaftliche Debatte über Digitalisierung. „Dafür bedarf es einer engen Kooperation von Soziologen, Ingenieuren sowie dem Kontakt zum ,Hallenboden’“, sagt Julian Wenz, selbst Politikwissenschaftler und nun bei der IG Metall mit der Zukunft der Arbeit beschäftigt. Diese Zukunft hat nach Einschätzung des Industriesoziologen Hartmut Hirsch-Kreinsen viele Gesichter: Durch zunehmende Automatisierung werden Arbeitsplätze ersetzt; auf der Facharbeiterebene kann es zu Dequalifizierungen kommen; eine „Qualifikationsaufwertung“ ist aber auch möglich, weil die Fertigung komplexer wird und „Überblickswissen“ gefragt ist. Kurzum: Es gibt Chancen und Risiken. Aus Sicht des Gewerkschafters Hofmann ist auch deshalb „eine solide Technologiefolgeabschätzung sowie eine Abschätzung künftiger Bildungsbedarfe“ nötig.
Wie Unternehmen mit Industrie 4.0 umgehen:
Firmen wie die Post oder Volkswagen nutzen Datenbrillen
Brille statt Klemmbrett, Kamera statt Handscanner. Für Lagerarbeiter wird die digitale Zukunft leichter – und zwar buchstäblich. Mit gut 50 Gramm ist eine Datenbrille gerade so schwer wie eine halbe Tafel Schokolade. Als Konsumgegenstand bislang ein Flop eignen sich die Kamerabrillen, die dem Nutzer Informationen so einblenden, dass er sie direkt im Sichtfeld wahrnimmt, offenbar in der Arbeitswelt umso besser. Statt umständlich mit ausgedruckter Auftragsliste in der einen und Kleincomputer in der Hand durch die Gänge zu eilen, brauchten zehn Kommissionierer in einem Test der Post-Sparte DHL drei Wochen lang lediglich eine Datenbrille, um ihren Job zu erledigen. Die Mitarbeiter seien „positiv überrascht“ gewesen, sagt eine Sprecherin. Und beim Unternehmen sei man angetan von der positiven Resonanz durch die Tester. „Die Handhabung der Brillen ist einfach, die Mitarbeiter haben die Hände frei.“ Kritikpunkte habe es von Mitarbeiterseite nicht gegeben. Die Effizienz gegenüber der herkömmlichen Arbeitsweise stieg um ein Viertel. Für DHL liegen die Knackpunkte zum einen in der Konstruktion der getesteten Google- und Vuzix-Brillen. Die Akkus waren zu schwach, die Brillen wurden teils ziemlich warm. Auch an der Software werde noch getüftelt. Während die Post weitere Tests plant, werden die Computerbrillen in der Logistik von Volkswagen bereits in diesem Frühjahr zum Alltag. sf
Automobilhersteller setzten auf das Robot Farming
„Wie bekommen wir heute Innovationen in die Fabrik?“, fragt Michael Zürn das Fachpublikum auf einer Veranstaltung zu Industrie 4.0 in Potsdam. Und antwortet gleich selbst: „Das geht nur mit dem Bagger.“ Das meint der Spezialist für Fertigungstechnik beim Autokonzern Daimler nicht ganz ernst. Er will vielmehr verdeutlichen, dass Fabriken wesentlich unflexibler sind als sie es künftig sein werden. In Fertigungshallen von VW, Daimler, BMW, Audi oder Opel werkeln Roboter derzeit noch größtenteils hinter Zäunen, damit sie die Menschen nebenan nicht verletzen können. Doch diese starre Produktion mit Robotern sei nicht mehr effizient. Viel effizienter ist in den Augen der Industriemanager das so genannte Robot Farming: Ein einzelner Mensch betreut sechs bis acht Roboter praktisch von Angesicht zu Angesicht. Die modernsten Maschinen haben inzwischen Sinne, können mithilfe von Sensoren hören, sehen, riechen – und vor allem aktiv handeln. Kommt ein Mensch ihnen zu nah, stoppen sie ihre Bewegung. Stellen sie fest, dass ein Werkstück nicht so wird, wie es soll, schlagen sie Alarm. Bemerken sie, dass ein technisches Problem sie bald außer Gefecht setzen könnte, melden sie sich selbstständig. Sie lassen sich führen und ahmen Bewegungen nach. Sie helfen bei komplizierten Verschraubungen in Fahrzeug-Karosserien oder holen die passenden Schrauben aus dem Lager. Gebaut werden sie unter anderem bei Kuka in Augsburg. sf
Wie Firmen Bedienungsanleitungen aufs Tablet bringen
Wie schön wäre es doch, wenn sich eine Montageanleitung an den Benutzer anpassen würde. Vielleicht ungefähr so: Ein Kunde hat sich eines von diesen skandinavischen Möbeln gekauft und die intelligente Anleitung zum Aufbau erkennt, welche Schritte wie erklärt werden müssen, so dass das neue Möbelstück schnell, nervenschonend, ohne Kratzer und sogar mit einem gewissen Spaß- und Lerneffekt steht. Denn nebenbei erläutert die intelligente Anleitung warum das Teilstück XY rechts und nicht links angebracht werden muss. Der Schrank oder das Bett wären sonst nämlich schief.
Nun geht es beim Forschungsprojekt „Appsist“, das vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) betreut wird, nicht um Regale oder Einbauküchen. Es geht um Fertigungsprozesse in Unternehmen, und die Frage, wie die Verknüpfung von Mensch und Maschine mit den technologischen Möglichkeiten von heute verbessert werden kann. Federführend ist das schwäbische Unternehmen Festo, das sich mit seinen rund 17 000 Mitarbeitern auf Automatisierungstechnologien spezialisiert hat. Das Ziel: Mitarbeiter auf allen Ebenen sollen effektiver mit ihren Arbeitsgeräten und den Produktionsabläufen umgehen. Mit „Augmented Reality“ möchte das Projekt Arbeitnehmern ihren Arbeitsprozess erleichtern und sie dabei auch kontinuierlich weiterbilden. Zahlen und Anweisungen tauchen in Echtzeit und anschaulich aufbereitet direkt an der Produktionsstrecke auf. „Die Nutzer bekommen Wissenshäppchen vermittelt“, sagt Klaus Herrmann, Projektkoordinator bei Festo. Da komplette Bedienungsanleitungen auf Papier oft kein Mensch versteht, möchte Appsist dem Arbeiter eine dynamische Anleitung zur Hand geben. Mit der Zeit lernt das System sogar aus dem Lernprozess des Arbeiters. Geliefert werden die situativ angepassten Hinweise und Anweisungen auf vertrauten Technologien: Tablets, Smartphones, digitale Uhren oder Datenbrillen. „Das sieht aus wie Spielerei“, sagt Herrmann, „es macht aber viel Sinn.“ Damit könne der Standort Deutschland an Produktivität und die Mitarbeiter an Kompetenz gewinnen. In einigen Pilotprojekten sind Betriebsräte und Gewerkschaften involviert. Immerhin geht es hier dann doch um Menschen und nicht nur um Arbeitsprozesse. moa
Wie die Unternehmen in Ostwestfalen Industrie 4.0 fördern
Gekleckert wird nicht zwischen Paderborn und der Porta Westfalica. „It’s owl“ haben die Macher ihr Spitzencluster genannt, wobei owl für Ostwestfalen steht. 100 Millionen Euro fließen in insgesamt 46 Forschungsprojekte; 60 Millionen kommen von 174 Unternehmen und 40 Millionen von der Bundesregierung, also dem Steuerzahler. Nach Angaben der Westfalen ist „it’s owl“ das größte Projekt der Industrie 4.0. Das große Ziel: 10 000 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen und fünf neue Forschungsinstitute mit 500 Wissenschaftlern in die Region holen. Ostwestfalen ist Weltmarktführer bei elektronischer Verbindungstechnik, drei Viertel aller Stecker kommen aus dieser Gegend. Die it’s-owl-Projekte sind zumeist an Industriefirmen gebunden, so etwa der Wärmetransport im Elektroauto beim Autozulieferer Benteler, die elektronische Umfelderkennung bei Erntemaschinen (Claas), die „selbstkorrigierende Fertigung von elektrischer Verbindungstechnik und Führungsschienen für Möbel“ (Weidmüller) oder intelligente Hausgeräte für intelligente Stromnetze (Miele). Der Cluster setzt systematisch vier Einheiten zusammen: Da ist das Grundsystem, gewissermaßen die mechanische Basis aus Maschinen und Anlagen. Dazu kommt die Sensorik, die Informationen aus der Umgebung wahrnimmt, und die Aktorik, die physikalische Aktionen ausführt. Und zum Vierten und gewissermaßen im Kern des Systems steht natürlich die
Informationsverarbeitung. Der Cluster ging vor zweieinhalb Jahren an den Start, und ist „sehr techniklastig“, wie Lutz Schäffer, Chef der IG Metall in Minden moniert. „Industrie 4.0 funktioniert aber nur, wenn man auch Arbeit 4.0 denkt und Gesellschaft 4.0“, meint der Gewerkschafter. Was nütze die schönste Technik und Verknüpfung von Systemen, wenn die Menschen damit nichts anzufangen wissen. Die Projektmanager von „it’s owl“, Wissenschaftler und Unternehmer, würden das inzwischen auch kapieren. „Jetzt stellt man fest, dass da auch Menschen sind“, sagt Schäffer. alf
Was die Digitalisierung für die Berufsausbildung bedeutet
Wie künftig die Berufsausbildung in der Automobilbranche aussehen könnte, das versuchen derzeit Volkswagen und Das Bundesinstitut für Berufsforschung (BIBB) herauszufinden. Dazu untersuchen Projektteams des BIBB und von VW konkrete Arbeitsplätze daraufhin, wie sich Tätigkeiten und Anforderungen durch die Digitalisierung ändern. Zum Beispiel die Wartung von Maschinen und Robotern, die Produktion von Komponenten und schließlich die Endmontage. Die Erkenntnisse sollen dann in einer Reform der Aus- und Weiterbildung einfließen. „Der Arbeitsplatz der Zukunft wird stärker mit komplexen Prozessen zu tun haben“, sagt ein BIBB-Sprecher. Entsprechend werden sich neue Inhalte bei der Berufsausbildung ergeben müssen. Neben Informatik-Kenntnissen wie Programmierung werden demnach vor allem Problemlösungskompetenzen etwa bei Wartung und Reparatur, einen höheren Stellenwert bekommen. Da ist man sich auch bei VW sicher. „Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt in Fabrik und Büro revolutionieren“, sagt Ralph Linde, Leiter der Volkswagen Group Academy, die für Aus- und Weiterbildung im Konzern zuständig ist. Nach BIBB-Angaben erhofft man sich, aus Erfahrungen in dem gemeinsamen Projekt mit VW auch Rückschlüsse für Arbeitsplätze in ähnlichen Branchen, zum Beispiel bei Automobilzulieferern und anderen metallverarbeitenden Betrieben ziehen zu können. VW bildet weltweit 20 000 Menschen aus, in insgesamt 36 „Berufsfamilien“. Ob diese Familien Zukunft haben, wird das neue Projekt zeigen. wal