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Gestrandete Bahnreisende warten am 18.01.2018 auf dem Hauptbahnhof in Berlin auf Auskunft.
© dpa

Permanent erzwungene Pausen: Warten auf die Bahn, den Bus, den Handwerker

Rekordstaus, verspätete Züge, gestrichene Flüge: In diesen Tagen brauchen wir Geduld. Viel Geduld. Doch die Zeit lässt sich auch nutzen.

Warten nervt, verursacht Stress und schlechte Laune. Es zerstört Pläne, Termine, Verabredungen, ist eine Verplemperung kostbarer Lebenszeit, gar eine Zumutung, wenn man draußen bei Regen oder Minusgraden schlotternd dasteht, weil der Bus nicht dann kommt, wann er sollte. Für die Mehrheit der Deutschen sind erzwungene Wartezeiten das allergrößte Ärgernis in ihrem Alltag, zeigt eine Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Im vergangenen Jahr dürften sie sich besonders viel geärgert haben.

Nicht nur, dass die Regierungsbildung so lange dauert wie nie. Auch auf der Autobahn gab es einen Warterekord: 457 000 Stunden standen die Menschen im Stau. Wer die vollen Straßen umgehen wollte und auf die Bahn umstieg, musste ebenfalls Geduld mitbringen: Fast jeder vierte Zug kam 2017 unpünktlich, was etwas mehr war als 2016. Gleiches galt an den Flughäfen: Deutlich mehr Frauen und Männer meldeten sich bei der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, weil ihr Flieger später startete. Oder gar nicht.

Der ADAC erklärt die vielen Staus mit der „regen Bautätigkeit“ und mehr Autos auf den Straßen. Die Deutsche Bahn nennt technische Probleme, Baupannen und den Herbststurm „Xavier“, der den Zugverkehr vorübergehend stillgelegt hatte. Für die Probleme an den Flughäfen wird vor allem der Insolvenz von Air Berlin die Schuld gegeben.

Ein Handwerker? Das kann dauern

Hinzu kommt aber auch, dass die Konjunktur so gut ist und die Arbeitslosigkeit so niedrig. „Wenn mehr Menschen erwerbstätig sind, sind auch mehr Menschen täglich unterwegs, pendeln mit dem Auto oder dem Zug“, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Außerdem sind sie kauffreudiger, was wiederum bedeutet, dass mehr Waren hin und her transportiert und verschickt werden – und dass sich die Menschen eher Bahnfahrten, Flüge oder ein Auto leisten können.

Dass es dem Land gerade wirtschaftlich gutgeht und die Firmen reichlich zu tun haben, spüren die Menschen auch daran, dass sie etwa in Berlin monatelang auf einen Handwerker warten können. Möchte jemand neue Fliesen im Bad haben oder seine Wände streichen lassen, braucht er Geduld. Wobei die Berliner das ewige Warten schon fast gewohnt sind – für Termine beim Bürgeramt, Anträge auf Unterhalt und Elterngeld oder die Eröffnung des Pannenflughafens BER.

Dass ausgerechnet die Deutschen es überhaupt nicht mögen, zu warten, hat mehrere Gründe. „Pünktlichkeit ist in unserer Gesellschaft eine recht stark ausgeprägte Tugend“, erklärt der Soziologe Andreas Göttlich, der an der Universität Konstanz seit Jahren den Zustand des Wartens erforscht. Hinzu kommt die hohe Geschwindigkeit, in der hierzulande gearbeitet und gelebt wird. „Je temporeicher und enger getaktet ein Tag aber ist, desto problematischer sind Verzögerungen.“ Menschen in hochentwickelten Ländern hätten außerdem einen recht hohen Anspruch daran, dass die Infrastruktur funktioniert. Deswegen reagierten sie sehr empfindlich auf Störungen.

Das Smartphone schafft das Warten ab

Amazon will dagegen nun eine Lösung parat haben: Anfang der Woche eröffnete der Onlinehändler in Seattle einen Supermarkt ohne Kassen. Sensoren und Kameras registrieren, was der Kunde aus dem Regal nimmt. Wer fertig ist, verlässt das Geschäft einfach durch die Eingangsschranken – ohne sich in eine Schlange stellen zu müssen. Der Rechnungsbetrag wird automatisch vom Amazonkonto des Kunden abgebucht.

Wie sehr die Toleranz des Wartens kulturell geprägt ist, zeigt eine Untersuchung der Psychologin Bettina Lamm der Universität Osnabrück. Sie führte vor drei Jahren den sogenannten Marshmallow-Test in leicht abgeänderter Form durch – und verglich die Geduld vier Jahre alter Kinder aus einer ländlichen Region in Kamerun mit gleichaltrigen Kindern aus Deutschland. Das Resultat: Mehr als zwei Dritteln der afrikanischen Kinder gelang es, zehn Minuten lang auf eine Süßigkeit zu warten. Im Gegensatz dazu schaffte dies nicht einmal ein Drittel der deutschen Kinder.

Wie die Menschen warten, worauf sie warten, verändert sich. Heutzutage ist das Smartphone eine Zäsur. Im Supermarkt anstehen? Da kann man ja bei WhatsApp chatten. Auf die S-Bahn warten? Stöpsel in die Ohren und einen Podcast hören. „Das epochal Neue ist, dass wir uns mit solchen technischen Geräten praktisch überall beim Warten beschäftigen können, unabhängig von den Möglichkeiten, die uns der Ort selbst bietet“, sagt Göttlich. Der Mensch kann jede einzelne Minute irgendetwas tun. Gleichzeitig hat das Smartphone aber auch mehr Wartemomente geschaffen. „Wir schreiben zum Beispiel viel mehr Nachrichten“, sagt Göttlich, „und meist erwarten wir eine sofortige Antwort.“

Aus dem Übel eine Chance machen

Wer nach der Arbeit nicht noch einkaufen gehen möchte, bestellt seine Lebensmittel im Internet. Amazon liefert in Berlin mittlerweile innerhalb einer Stunde. Wer nicht auf die Liebe warten möchte, meldet sich bei Parship an. Angesichts dieser Entwicklungen warnt Stefan Gosepath, Philosophieprofessor an der Freien Universität Berlin: „Wenn wir das Warten verlernen würden, wäre das ein kultureller Verlust.“ Von Kindern weiß man, dass sie nicht kreativ sein können, wenn sie jeden Tag ein vollgepacktes Programm haben. Das dürfte bei Erwachsenen nicht viel anders sein. Jeder brauche laut Gosepath Phasen des Nichtstuns, „um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen“.

Viele können es sich nicht mehr vorstellen, beim Warten einfach in den Himmel zu starren, andere Leute zu beobachten, die Welt auf sich wirken zu lassen. Doch so kommen einem neue Ideen. Auch für den Job.

Wer den Mangel an Zeit beklagt, könne „das Warten auch in angenehme Pausen umwandeln“, empfiehlt Göttlich. Positiv umgedeutet, kann warten Entschleunigung bedeuten. Aus verschenkter wird geschenkte Zeit.

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