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Du hast Zeit. Es ist wichtig, in unserem immer dichter werdenden Alltag die Ruhepunkte zu finden.
© Kevin Lamarque, REUTERS

Entschleunigung: Warum es so wichtig ist, ein Gegengewicht zur Alltagshast zu finden

Unsere Gesellschaft ist auf Hochgeschwindigkeit getrimmt. Doch es wächst die Einsicht, wie wichtig die Balance zwischen Arbeit und sinnstiftender Muße ist. Ein Kommentar.

Die Muße der Weihnachtstage. Was für ein Geschenk. Und mahnender Hinweis zugleich. Zeit der Entspannung, der Begegnung mit Freunden oder der kontemplativen Hingabe an Bücher und Hobbys gewidmet oder im Kreis der Familie verbracht – ohne Hast und Hektik. Die Stadt ruhig, die Geschäfte geschlossen. Tage ohne unerbittliche Zuordnung der Stunden, wie sonst im Alltag. Zwischen den Jahren, aus der Zeit gefallen.

Die in den Weihnachtstagen erfahrene Entschleunigung schafft neben der daraus erwachsenden Sehnsucht, sich weniger der Maschinerie der Effektivität auszusetzen, zugleich ein Bewusstsein, dass zur zukunftsfesten Industriegesellschaft eine neue Zeitökonomie gehört. Eine auf Hochgeschwindigkeit getrimmte Republik braucht neben der effektivierten Arbeit mit immer mehr verdichteten Abläufen als Gegengewicht ein institutionalisiertes Lob der Langsamkeit. Die entfesselte Zeit einhegen zu wollen, ist keine generelle Kapitalismuskritik, vielmehr nötig, um die Grundfesten der Demokratie zu sichern. Eine mitfühlende, sich sorgende Gesellschaft kann nämlich nur wachsen, wenn es den schützenden Rahmen einer entschleunigten Zeit gibt.

Dem Alltag entzogen

Denn Muße, das merken wir nicht nur zu Weihnachten, ist weit davon entfernt, sinnentleert zu sein. Erst in der Entschleunigung kann jener Raum entstehen, der nötig ist, um Beruf und Familie in Einklang zu bringen. Alle bürgerschaftlich engagierten Menschen, die sich regelmäßig anderen zuwenden, die hilfebedürftig sind, wissen um deren Dankbarkeit für die geschenkte Zeit – und kennen auch das eigene Gefühl der Befriedigung, sich den allzeit drängenden Aufgaben des Alltags entzogen zu haben.

Je verdichteter der Alltag, umso dringlicher wird Entschleunigung. Die gute Nachricht ist, dass immer mehr Menschen bewusst wird, dass eine Welt, in der die Zeit aus den Fugen geraten ist, neue Regeln und Instrumente braucht. Das hat nicht zuletzt die Wirtschaft erkannt, die neue Antworten auf den Wunsch nach besserer Work-Life-Balance anbieten muss. Angesichts grenzenloser Erreichbarkeit rund um die Uhr entwickeln immer mehr Unternehmen freiwillig einen Kodex der Verfügbarkeit. Für die ganze Republik steht das noch an; das ist eine Zukunftsaufgabe der Tarifpartner und der Politik, diese neuen Grenzen festzulegen. Porsche-Betriebsrat Uwe Hück hat etwa eine technische Blockade dienstlicher E-Mails nach Feierabend gefordert, um den Beschäftigten Ruhezeiten ohne schlechtes Gewissen zu ermöglichen.

Weniger Urlaub, mehr Feiertage

Einen neuen Horizont öffnet auch der aktuelle Vorschlag von Gert Wagner, Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaft, die Zahl der Urlaubstage zu reduzieren und einen Teil in allgemeine Feiertage umzuwandeln. Statt Urlaubstage individualisiert zu verbringen, während die Freunde oder der Rest der Familie arbeiten müssen, haben an diesen Feiertagen alle Menschen Zeit, um sie gemeinsam zu verbringen. Um wie zu Weihnachten und zwischen den Jahren die verlangsamte Zeit zu genießen.

Jede Zeit hat ihren Rhythmus; niemand kann die Geruhsamkeit des 19. Jahrhunderts fordern. Doch aus dem Geschenk der Weihnachtszeit, wo Menschen statt Alltagshast eine sinnstiftende Muße genossen, formuliert sich ein Auftrag an die Politik. Vielleicht hat ja auch Bundeskanzlerin Angela Merkel im Weihnachtsurlaub beim stillen Gleiten über die Langlauf-Loipe darüber nachgedacht.

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