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Viele sind wegen überlanger Tage erschöpft.
© imago/Westend61

Stress und psychische Erkrankungen: „Viele Arbeitgeber fahren auf Verschleiß“

Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme hat sich verdoppelt. Ein Grund: Dem Kopf wird keine Pause mehr gegönnt.

Das Risiko, einen Unfall auf der Arbeit zu erleiden, ist in Deutschland so niedrig wie nie. Maschinen übernehmen schwerstkörperliche Arbeiten, Computer die langweiligen. Zugleich ist es in den vergangenen Jahren immer unwahrscheinlicher geworden, seinen Job zu verlieren. Unternehmen klagen stattdessen über den Fachkräftemangel und locken Mitarbeiter mit lauter Versprechen zu sich. Man könnte meinen: Die Beschäftigten sind derzeit extrem entspannt. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme hat sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt – von rund 48 Millionen im Jahr 2007 auf 107 Millionen im Jahr 2017. Das geht aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Ausfallkosten haben sich demnach fast verdreifacht – von 12,4 Milliarden auf 33,9 Milliarden Euro.

Immer mal wieder veröffentlichen die Krankenkassen Reports mit dieser Aussage. Selbst die Bundesregierung hat vor einigen Wochen ihren Bericht „über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ vorgestellt. Mit dem Satz: „Mittlerweile ist unstrittig, dass psychische Belastungen mit dem Wandel der Arbeitswelt zunehmen.“ Hinter Muskel- und Skeletterkrankungen seien seelische Leiden inzwischen der zweithäufigste Grund für Fehltage. Für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben sind sie mit Abstand die häufigste Ursache. Im vergangenen Jahr gingen 71303 Menschen als erwerbsunfähig in Rente. Das waren 43 Prozent der vorzeitig Ausgeschiedenen. Erst danach lautete der Grund Krebs.

Die Ursachen für eine psychische Erkrankung sind vielfältig und komplex. Jenseits von arbeitsbedingten Belastungen spielen auch immer die persönliche Veranlagung und das Privatleben eine Rolle. Experten sind sich dennoch einig, dass es Faktoren gibt, die Menschen im Job stressen, auslaugen, krank machen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin nennt unter anderem zu viele Aufgaben, die in zu kurzer Zeit erledigt werden müssen, überlange Tage im Büro, wechselnde Schichten und fehlende Möglichkeiten zur Erholung. Andere nennen Hetze, Termin- und Leistungsdruck bei zu geringen Handlungsspielräumen, Konflikte, Multitasking. Auch wenn es meist ignoriert wird: Für das Gehirn ist konzentriertes Arbeiten an einer Sache ohne zu viel Druck und Unterbrechungen wichtig – und führt auch zu viel besseren Ergebnissen.

Chronischer Stress kann schwer krank machen

Eine der zahlreichen Psychologinnen und Psychologen, die Unternehmen zu mentalen Belastungen beraten, ist Julia Scharnhorst. „In einem Stresszustand zu sein, war mal für Notfälle gedacht“, sagt sie. „Heute befinden sich viele Menschen aber in einem Dauerzustand und dafür sind wir biologisch nicht gemacht.“ Zum Verständnis: Unter Stress reagiert der Mensch mit der Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Während die ersten beiden vor allem bei akuten Spannungszuständen ausgeschüttet werden, wütet Cortisol bei länger anhaltendem Stress und kann zu ernsthaften Erkrankungen führen. Weil das Immunsystem unterdrückt wird, begünstigt Stress auf Dauer die Entstehung von Krebs, steigt das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Auf der rein psychischen Seite kann chronischer Stress eine ernsthafte Depression auslösen.

„Pausen und richtige Erholungsphasen, in denen wir entspannen, uns locker machen, sind zum Beispiel sehr wichtig“, sagt Scharnhorst. Außerdem beobachtet sie, dass die Digitalisierung einige Stressoren verstärkt: „Die Informationsflut ist heutzutage immens!“ Ein weiteres Problem seien dienstliche Mails und Anrufe in der Freizeit. Dadurch werden Mitarbeiter mitunter in Anspannung versetzt und gewähren dem Kopf nicht die notwendige Auszeit.

Von den Unternehmen erwartet sie, noch mehr für die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu tun. Und wenn es nur aus wirtschaftlichen Motiven ist. Die Fehlzeiten sind immerhin viel länger als wenn jemand wegen körperlicher Erkrankungen ausfällt. „Ist jemand völlig erschöpft oder wird sogar psychisch krank, helfen keine drei Tage Bettruhe oder ein Antibiotikum“, sagt die Psychologin.

„Die Bundesregierung schaut Däumchen drehend zu“

Dirk Windemuth leitet das Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und hat ebenfalls seelische Belastungen im Beruf erforscht. Das Problem müsse sehr ernst genommen werden. „Die Verdopplung der Fehltage hat aber auch damit zu tun, dass psychische Krankheiten nicht mehr so tabuisiert sind und sauberer diagnostiziert werden“, sagt er. Außerdem sei die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt in den vergangenen Jahren gestiegen und damit auch die Zahl der Ausfalltage. Und: Die Menschen würden länger im Job bleiben, was die Statistik ebenfalls beeinflusst. So hatten laut der Antwort des Arbeitsministeriums Männer zwischen 60 und 65 die meisten Ausfalltage aus psychischen Gründen vorzuweisen.

„Es wird nie nur am neuen, unempathischen Chef liegen oder nur an der neuen Technik, dass jemand überfordert ist oder krank wird“, meint Julia Schröder, die beim Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK) die Abteilung Gesundheitsförderung leitet. „Kritisch wird es, wenn sich mehrere Probleme summieren.“ Sie benennt allerdings auch die „irre Beschleunigung, Verdichtung und Entgrenzung der Arbeit durch die Digitalisierung“. Deswegen empfiehlt sie im Berufsleben wie im Privaten bildschirmfreie Zeiten.

Die Bundesregierung sieht angesichts der aktuellen Zahlen die Arbeitgeber in der Pflicht: Gegen psychische Belastungen würden keine neuen Arbeitsschutzregeln helfen. Ziel müsse sein, Betriebe und Beschäftigte zu befähigen, das vorhandene Instrumentarium zu nutzen. Jutta Krellmann, arbeitspolitische Sprecherin der Linksfraktion, kritisierte die Haltung scharf. „Viele Arbeitgeber fahren auf Verschleiß: Starker Druck, hohe Flexibilität – immer schneller, immer mehr. Beschäftigte werden über ihre Belastungsgrenze getrieben“, sagte sie den Funke-Zeitungen, die zuerst über ihre Anfrage berichtet hatten. „Die Bundesregierung schaut Däumchen drehend zu“, meint Krellmann. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht die Politik gefordert. Die Regierung müsse handeln, sagte Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. „Dass die Bundesregierung angesichts dieser Zahlen einfach schulterzuckend auf die Arbeitgeber verweist, ist eine Frechheit.“ Die Gewerkschaften hätten schon vor Jahren einen konkreten Entwurf für eine Anti-Stress-Verordnung vorgelegt.

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