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Alles zu viel. Vor allem Ältere schlucken für den Job leistungssteigernde Medikamente.
© Oliver Berg / dpa

Psychische Erkrankungen: Alles zu viel

Psychische Erkrankungen machen den Deutschen immer mehr zu schaffen. Wo liegen die Ursachen und was lässt sich dagegen tun?

In den Studien der verschiedenen Krankenkassen zeigt sich die Tendenz seit längerem. Nun wird sie durch einen Regierungsbericht mit Langzeitbeobachtung quasi amtlich belegt: In Deutschland fallen immer mehr Beschäftigte wegen psychischer Erkrankung aus. Die dadurch begründeten Fehlzeiten steigen drastisch. Von den 668 Millionen Arbeitstagen, die Beschäftigte im vergangenen Jahr aufgrund von Krankheit im Job fehlten, gingen 107 Millionen auf das Konto seelischer Leiden wie Depression oder Burnout. Binnen zehn Jahren hat sich die Zahl der durch die Psyche verursachten Fehltage somit mehr als verdoppelt.

Wie groß ist das Problem?

Hinter Muskel- und Skeletterkrankungen (150,4 Millionen Fehltage) haben sich seelische Leiden bei den Gründen für Fehlzeiten auf Platz zwei geschoben, heißt es im Bericht der Bundesregierung zum Stand von „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“. Die dadurch entstandenen Produktionsausfälle werden auf rund 12,2 Milliarden Euro beziffert – das entspricht 0,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Die Psyche ist inzwischen die mit Abstand häufigste Ursache für vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben. Wegen seelischer Erkrankungen gingen im vergangenen Jahr 71303 Menschen als erwerbsunfähig in Rente. Das waren 43 Prozent der vorzeitig Ausgeschiedenen. Es folgen Krebserkrankungen mit einer Erwerbsunfähigen-Quote von 13,1 Prozent, Muskel- und Skeletterkrankungen mit 12,9 und Krankheiten des Kreislaufsystems mit 9,3 Prozent.

Weshalb fallen immer mehr Arbeitnehmern wegen psychischer Leiden aus?

Zum Beispiel, weil immer mehr Beschäftigte über ihre Arbeitszeit hinaus per Mail, SMS oder Telefon verfügbar zu sein haben. Das gehe „mit einer schlechteren gesundheitlichen Situation der Beschäftigten einher“, heißt es in dem Regierungsbericht. Nur 34 Prozent der Arbeitnehmer, von denen ständige Erreichbarkeit erwartet wird, könnten in ihrer Freizeit wirklich abschalten. Bei anderen Beschäftigten seien es 55 Prozent.

Dazu kommen Job-Unsicherheit, Ärger über Vorgesetzte oder Kollegen, schlechte Bezahlung. Und vor allem: Arbeitsverdichtung. Einer aktuellen DGB- Studie zufolge bestimmen Hetze und Zeitdruck den Arbeitsalltag von Millionen Arbeitnehmern in Deutschland. 52 Prozent berichteten davon. Fast jede Arbeitnehmerin und jeder dritte Arbeitnehmer klagten über Anforderungen, die schwer miteinander zu vereinbaren seien. Besonders belastet sind der Befragung zufolge Beschäftigte, die viel mit Kunden, Patienten oder Kindern zu tun haben. Als zentrale Stressfaktoren nannten sie zu knappe Zeitvorgaben, hohen Dokumentationsaufwand, zu wenig Personal, zu hohe Erwartungen der Kundschaft. Mehr als jeder Dritte gab an, mit eigenen Gefühlen während der Arbeit hinterm Berg halten zu müssen. Fast jeder Fünfte berichtete von Konflikten, jeder Zehnte von herablassender Behandlung. Zudem – auch das gilt als hoher Stressfaktor – fühlt sich die Hälfte der Beschäftigten in solchen Berufen nicht angemessen bezahlt.

Noch drastischer sind die Ergebnisse einer Online-Befragung der Pronova BKK vom April dieses Jahres. Demnach fühlen sich neun von zehn Arbeitnehmern gestresst – und jeder zweite hat das Gefühl, kurz vor einem Burnout zu stehen. Sechs von zehn Befragten klagten über typische Burnout-Symptome wie anhaltende Erschöpfung, innere Anspannung, Schlafstörungen, häufigen Rückenschmerz. Als Gründe wurden am häufigsten ständiger Termindruck (34 Prozent), emotionaler Stress durch Kunden oder Patienten (30 Prozent), Überstunden und schlechtes Arbeitsklima (je 29 Prozent) genannt. Ständige Erreichbarkeit setzt jeden Vierten unter Stress.

Was ist mit dem Weg zur Arbeit?

Auch der spielt eine große Rolle. Pendler zum Beispiel erkranken deutlich häufiger an psychischen Leiden als Beschäftigte mit kurzem Arbeitsweg, wie eine Studie der Techniker Krankenkasse belegt. Ihre Fehlzeiten wegen seelischer Leiden lägen um fast elf Prozent höher, bei Frauen sogar um 15 Prozent. Der TK-Studie zufolge entfielen 2017 auf 100 Pendler 242 Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen. Bei den Beschäftigten mit kurzer Anreise waren es nur 219 Tage. Als Stressfaktor habe „der Straßenverkehr denselben Stellenwert wie die ständige Erreichbarkeit durch Smartphone, Facebook & Co“, so das Resümee.

Wen trifft es besonders?

Am häufigsten krankgeschrieben werden Beschäftigte in Gesundheitswesen, Sozialberufen und öffentlichem Dienst. In Bergbau oder Landwirtschaft gebe es nicht mal halb so viele Krankheitstage mit dieser Diagnose, heißt es im Fehlzeiten-Report der Betriebskrankenkassen. Auch das Alter spielt demnach eine Rolle. Während neun von 100 Beschäftigten über 50 wegen seelischer Leiden krankgeschrieben würden, seien es bei den 20- bis 30-Jährigen nur sechs. Zudem seien Fehlzeiten mit solcher Diagnose bei Älteren mit durchschnittlich sechs Wochen fast doppelt so lang wie bei Jüngeren.

Welche Rolle spielen bessere Diagnose und die Enttabuisierung psychischer Leiden?

Eine beträchtliche. Nach der Meinung von Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverbandes, hängen die gestiegenen Zahlen jedenfalls auch damit zusammen. Psychische Störungen würden heute nicht nur schneller erkannt und öfter behandelt als früher. Die Gesellschaft sei auch sensibilisierter für dieses Problem, Betroffene würden weniger stark stigmatisiert und insofern auch eher als Erkrankte registriert. Allerdings schleppt sich nach eigenen Angaben immer noch mehr als jeder dritte mit psychischen Beschwerden zur Arbeit statt sich krank schreiben zu lassen. Bei körperlichen Erkrankungen blieben Beschäftigte eher zuhause, sagen auch Experten.

Was ist zu tun?

Die Gewerkschaften fordern, den besonderen Belastungen in sozialen und interaktiven Berufen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Bei vielen Unternehmen sei „noch nicht ausreichend angekommen, dass auch moderne Bildschirm-Arbeitsplätze zu Belastungen und Erkrankungen führen können“, meint der SPD-Politiker Björn Böhning, Staatssekretär im Arbeitsministerium. Die Grünen sehen die Regierung in der Pflicht. Beate Müller-Gemmeke, Fraktions-Sprecherin für Arbeitnehmerrechte, fordert etwa eine Verordnung darüber, wie Arbeitgeber und Betriebsräte gemeinsam Lösungen gegen „jede Form von Stress“ entwickeln können. Zudem müsse „endlich Schluss sein mit prekären und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen“. Auf einen anderen Aspekt, nämlich den Zusammenhang zwischen Fehlzeiten und Unternehmenskultur, verweist das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO). Der Expertenbefund ist eindeutig: Wer sich in der Arbeit wohlfühlt, sich mit den Zielen des Unternehmens identifiziert und erlebt, dass sein Arbeitgeber hinter ihm steht, wird seltener krank. Tatsächlich empfindet aber nur jeder siebte Beschäftigte eine emotionale Bindung zu seinem Unternehmen, wie eine Gallup-Studie von Anfang 2018 belegt. 14 Prozent haben demnach innerlich gekündigt. Und 71 Prozent verrichten in ihrem Job lediglich „Dienst nach Vorschrift“.

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