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Langer Kampf: Die Mitarbeiter wehren sich gegen Tochterfirmen, in denen geringere Löhne gezahlt werden sollen
© dpa / J. Stratenschulte

Streik bei der Post: "Verräter, verpiss dich" - So werden Streikbrecher bei der Post gemobbt

Der Streik bei der Post ist in der dritten Woche. Er wird hoch emotional ausgetragen - auch zwischen Kollegen. Manche wissen nicht mehr, warum sie auf die Straße gehen sollen.

Tag für Tag laden Alfred und Klaus nebeneinander Pakete ein. Zwanzig Jahre schon kennen sie sich, zwei Männer mit Schnauzbärten, gleich groß, Anfang 50, der eine in Magdeburg geboren, der andere in Oberschlesien. Wenn sich ihre Touren kreuzen, zwischen 11 und 12 Uhr sei das meistens, hupt Alfred kurz, und Klaus hebt die Hand. Sie wissen voneinander, dass Klaus eine zickige Frau hat und Alfred einen pubertierenden Sohn. Manchmal ruft Alfred Klaus an, wenn er mit seinen Häusern durch ist, und fragt, wie weit Klaus ist. Weil Klaus es an der Wirbelsäule hat, schaffe er nicht immer alles so schnell, erzählt er. Schon gar nicht zu den vorgesehenen 15 Uhr. Wenn er noch Luft hat, hilft Alfred ihm deshalb mit dem Rest. „Bei uns in der Gruppe halten wir zusammen.“

Darum stehen sie jetzt ja auch hier – um sieben Uhr früh im sechsten Stock des Verdi-Hauptsitzes am Ostbahnhof mit Blick über die noch verschlafene Stadt. Gerade haben sie sich in die Streiklisten eingetragen, Raum 6.05. Elf Ehrenämtler sitzen da an Tischen, hinter denen an der Wand rot geränderte Papierwolken mit Buchstaben kleben. Klaus hat sich bei „C-E“ angestellt, Alfred bei „Sch“, ihren vollen Namen möchten sie nicht in der Zeitung lesen. Sei schnell gegangen, sagen sie, so groß sei der Andrang ja leider noch immer nicht. „Deshalb fahren wir gleich wieder zum Stützpunkt. Kollegen abfangen, die weiterarbeiten.“ Es geht auch um deine Zukunft, werden sie sagen. „Nur, wenn wir viele sind, erreichen wir was.“

Vertrag gebrochen? Nein. Lücke ausgenutzt? Ja

Wofür streiken sie? Für eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 auf 36 Stunden, für mehr Lohn, zunächst einmal. Doch der Kern der Auseinandersetzung liegt woanders – es ist die Gründung von 49 Tochtergesellschaften in Deutschland, bei denen Paketboten zu niedrigeren Löhnen beschäftigt sind, die die Fronten zwischen Verdi und der Post verhärtet hat. Dass sie überhaupt eingerichtet wurden, stelle einen Vertragsbruch dar, sagt Verdi – schließlich habe man vor 14 Jahren schriftlich geregelt, dass nicht mehr als zehn Prozent aller Zustellungen in den gut 9800 Paketzustellbezirken durch Firmen außerhalb des Post-Tarifvertrags erfolgen dürften. Jürgen Gerdes, bei der Post verantwortlich für das Brief- und Paketgeschäft, kommentierte das unlängst auf einer Veranstaltung in Berlin so: „Dabei ging es um das Privatkundengeschäft, nicht um Geschäftskunden. Haben wir einen Vertrag gebrochen? Nein. Gab es eine Lücke darin? Offensichtlich.“

In den neuen Firmen werden die Mitarbeiter nach Tarif bezahlt, aber nach dem für Logistik und Spedition, der deutlich niedriger ist als der Posttarifvertrag. Viele sind dabei, die früher für die Deutsche Post gearbeitet haben. Sie waren befristet beschäftigt, ihre Verträge im Unternehmen wurden nicht verlängert. Klaus und Alfred sagen: „Wir waren auch mal befristet angestellt. Wir hatten Glück. Die nicht.“

Verdi will den Arbeitskampf schrittweise ausweiten

Nun geht der unbefristete Streik in die dritte Woche. Knapp 26 000 Zusteller sind inzwischen dabei, meldet das Unternehmen. Verdi will den Arbeitskampf schrittweise weiter ausweiten. „Wie lange noch?“, fragt ein Kollege den Mann hinter dem Tisch. „Der Herr Appel müsste nur mal unterschreiben“, antwortet er. Aber Herr Appel, der Post-Chef, unterschreibt nicht. Weil er die Tochtergesellschaften, wie man bei der Post betont, ja nicht ohne Grund hat gründen lassen. Aktuell sei das Unternehmen nicht wettbewerbsfähig. Weitere Effizienzsteigerungen seien nicht machbar, aufgrund der hohen Personalkosten sei die Post gegenüber Mitbewerbern deutlich benachteiligt.

In dieser Auseinandersetzung geht es um fundamentale Fragen, etwa die, was höher wiegt: Der Anspruch einiger, ein gesichertes, vergleichsweise gutes Einkommen zu behalten? Oder der Anspruch aller, den Preis für eine Dienstleistung wie den Brief und vor allem den Paketversand, der durch Onlinehändler wie Amazon oder Zalando immer weiter zunimmt, so gering wie möglich zu belassen. Die Frage ist aber auch: Darf ein Konzern am Personal sparen, der Jahr für Jahr Milliardengewinne macht? Die Post, das waren einmal die Guten, die Gemeinnützigen, die Beamtengehälter zahlten. Aufgrund ihrer Historie wird sie mit höheren moralischen Maßstäben gemessen.

Die Post ist am freien Markt angekommen

„Während ich eine Tochter zu Hause versorge und gerade meine dritte Befristung in Folge ausläuft, bekommt Herr Appel immer noch zehn Millionen Euro Bonus im Jahr“, sagt eine Briefträgerin aufgebracht, die sich soeben an Alfred vorbei eine weiße Streikweste aus Plastikfolie vom Tisch genommen hat. „Wenn ich daran denke, kommt mir der Kaffee hoch.“

Doch auch das gehört zur Wahrheit: Wo täglich Millionen Briefe und Pakete bewegt werden, schrumpfen selbst Milliardengewinne schnell dahin, wenn nur eine Gleichung nicht mehr aufgeht. Die Antwort ist: Ja, die Post darf handeln, wie sie handelt. Sie ist am freien Markt angekommen. „Verdis Hauptforderung bezieht sich auf eine rein unternehmerische Entscheidung, bei der die Gewerkschaft schlicht nicht mitzureden hat“, formuliert es der Vorstand.

„Ich fühle mich durch das, was die da sagen, nicht vertreten“

Dieser Verdacht drängt sich selbst in der Belegschaft manchem auf. Dass da aus nachvollziehbaren Gründen, aber mit den falschen Argumenten gekämpft wird. Beim ersten Streiktag ist auch Thomas Berg, 48, dabei gewesen, der in Wirklichkeit anders heißt. Beim zweiten nicht mehr. „Auf der Versammlung ging es vielleicht fünf Minuten um unsere Arbeitszeit, danach peitschte der nur noch auf Delivery ein“, erzählt der schmale Mann mit dem Goldkettchen. „Ich frage mich: Was habe ich damit zu tun?“ Berg ist Verdi-Mitglied, zahlt wie Klaus und Alfred seit vielen Jahren in die Gewerkschaftskasse ein. Ende der Neunzigerjahre stand er täglich acht Stunden mit vorm Tor, diesmal hat er sich entschieden, wieder arbeiten zu gehen. „Ich fühle mich durch das, was die da sagen, nicht vertreten“, sagt er. „Man muss auch wissen, wofür man streikt.“ Ihm sei gar nicht klar, was die erreichen wollen. An Bergs Stützpunkt schieben sieben Kollegen weiter Dienst, obwohl sie streikberechtigt sind.

Als "Chefficker" und "Schwanzlutscher" beschimpft

Langer Kampf: Die Mitarbeiter wehren sich gegen Tochterfirmen, in denen geringere Löhne gezahlt werden sollen
Langer Kampf: Die Mitarbeiter wehren sich gegen Tochterfirmen, in denen geringere Löhne gezahlt werden sollen
© dpa / J. Stratenschulte

Von dem Teamgeist, den seine beiden Kollegen beschwören, die an einer anderen Zustellbasis arbeiten, hat er in den letzten Wochen wenig gespürt. Als er am Tag nach dem Warnstreik, an dem er nicht teilgenommen hatte, in den Aufenthaltsraum gegangen sei, da habe ein Kollege ihn sofort angebrüllt: Judas, Verräter, verpiss dich. Ein anderer boxte ihn in den Rücken. „Früher waren wir ein tolles Team, wir haben gemeinsam Grillabende veranstaltet und füreinander freie Tage drangegeben“, erzählt er. Jetzt reiße die Kette der Beschimpfungen nicht ab. Über seine Gründe habe ihn keiner befragt, dafür wurde er in der Kollegen-Chatgruppe bei WhatsApp als "Chefficker" und "Schwanzlutscher" bezeichnet. Zwei der Wortführer, sagt er, habe er selber ausgebildet.

„Ich glaube nicht, dass es denen beim Streik wirklich um Inhalte geht. Aber Verdi macht ihnen Angst.“ Diffuse Angst kann schlimmer sein als eine konkrete Bedrohung. Weil Berg und seine Kollegen eine offizielle Beschwerde wegen Mobbing eingereicht haben, kennt die Kommunikationsstelle des Unternehmens seinen Fall und hat ihn mitgebracht zu einem Gespräch über die Stimmung im Haus. „Ich habe auch darüber nachgedacht, ob ich mich versetzen lassen soll“, sagt Berg.

Ein "hoch emotionaler Zustand"

In einer Streikveröffentlichung von Verdi-Mitgliedern hieß es: „Nachdem Gott die Klapperschlange, die Kröte und den Vampir geschaffen hatte, hatte er noch etwas abscheuliche Substanz übrig, und daraus machte er den Streikbrecher.“ Streikbrecher hätten Sumpfhirne und statt des Herzens eine Geschwulst. Ein Betriebsgruppenvorsitzender in der Zentrale sagt: „Der Ton ist manchmal nicht zärtlich.“ Aber das seien Einzelfälle. Ein Arbeitskampf sei eben ein „auf allen Seiten hoch emotionaler Zustand“.

Dieser, so scheint es, besonders. Der Tag, an dem Klaus und Alfred im Morgengrauen über die Stadt blicken, in der sie sich so gut auskennen, ist einer von vielen Streiktagen, die schon waren. Schon vor Ostern waren Pakete liegen geblieben. Post-Vorstand Gerdes gab sich kürzlich betont gelassen. Eine Rückführung der Delivery-Firmen komme nicht infrage. „Ich kann nicht sagen, wann Verdi über diese Hürde klettert, ich kann nur sagen: Sie müssen es, denn drunter geht nicht.“ Bei der bisher größten Protestkundgebung vor dem Konzernsitz in Bonn am vergangenen Donnerstag unterstrich Verdis Vorsitzender Frank Bsirske dagegen seinerseits, die Post müsse auf die neuen Gesellschaften mit niedrigeren Löhnen verzichten, sonst werde „es keinen Frieden geben“. Verdi könne den Streik noch lange durchhalten.

Machtkampf mit GDL'schen Zügen

Die Auseinandersetzung, so scheint es, hat sich zu einem Machtkampf mit GDL’schen Zügen entwickelt. Was da verhandelt wird, durchschauen viele nicht mehr. Noch ist der Leidensdruck der Bevölkerung nicht der gleiche wie bei der Bahn. Auch wenn in einigen Straßenzügen seit zwei Wochen keine Post mehr ausgetragen worden ist – acht von zehn Paketen und Briefen kämen pünktlich an, heißt es. Damit das geht, springen Verwaltungsangestellte ein, sortieren selbst höhere Manager mit. Wird sogar sonntags, sehr zum Missfallen von Verdi, Post ausgetragen, um die Stapel abzuarbeiten. Zusätzlich hat die Post Boten der polnischen DHL-Tochter eingestellt auszuhelfen. Sie sind im Hotel einquartiert, solange es dauert.

Und dann sind da eben jene, die nicht wissen, wofür sie da die Stimme heben sollen. Die denken wie Thomas Berg. Er sagt: „Ich hab selber ’ne Oma, die unglücklich ist, wenn ihr Paket nicht kommt. Und ja auch eine Beziehung aufgebaut zu den Kunden über all die Jahre.“ Für viele Boten sei der Streik auch eine finanzielle Frage. „Ich habe für den einen Tag noch kein Streikgeld gesehen.“

Berauscht sich die Gewerkschaft an sich selbst?

Leider, bestätigen die Frauen hinter dem Tisch im sechsten Stock, gebe es aktuell Verzögerungen bei der Auszahlung. Sie kämen mit der Bearbeitung der Anträge nicht mehr hinterher. Weil ja so viel gestreikt werde im Land – Postboten, Pfleger, Erzieher, einige mehr. Berauscht die Gewerkschaft sich gerade an sich selbst? Stimmt die Wahrnehmung noch? Und der Fokus?

„Ob er streikt oder nicht und weshalb, muss jeder selber entscheiden“, sagt Klaus. Beschimpft werde an seiner Zustellbasis sicher niemand. Kurzsichtig seien die, die Dienst machen, aber schon. „Was hier auf dem Zettel steht, mehr Geld oder weniger arbeiten, das wollen wir ja gar nicht. Bloß, dass endlich Schluss ist mit der Fremdvergabe.“

"Irgendwann gibt es für unsereins überhaupt keine Jobs mehr bei der Post"

Sie beide mit ihrer langen Betriebszugehörigkeit haben ihre Verträge doch sicher. Oder? Alfred und Klaus sehen einander an. „Erzähl du.“ „Wir waren mal Kraftfahrer“, sagt Alfred. „Dass die Pakete gut von Berlin nach Hannover und Hamburg kommen, das war unser Job.“ Dann wurde der Aufgabenbereich ausgegliedert, man bot Klaus und Alfred an, stattdessen Briefkisten zu den grauen Ablagecontainern innerhalb der Stadt zu transportieren. „Wir waren Fernfahrer, aber natürlich haben wir ja gesagt, bevor wir zum Arbeitsamt mussten.“ Einige Jahre darauf wurde auch diese Tätigkeit an Subunternehmer abgegeben. „Und seither schleppen wir.“

Ende dieses Jahres laufen die mit der Gewerkschaft vereinbarten Kündigungsschutz-Regelungen aus. Die Verlängerung ist nur einer von vielen Punkten auf Verdis Liste. Es ist der eine, der Klaus und Alfred morgens hierhertreibt: „Wenn erst mal ein Teil ausgegliedert ist, folgt der andere bestimmt“, sagt Klaus. „Ewig kann die Versetzungs-Kette ja nicht weitergehen“, meint Alfred. „Wir könnten immer noch Herrn Appel chauffieren.“ – „Das mach du mal lieber, du siehst besser aus.“ – „Im Ernst“, sagt Alfred: „Irgendwann gibt es für unsereins überhaupt keine Jobs mehr bei der Post.“

Maris Hubschmid

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