Fachkräfte: Sie beißen nicht an
Vor ein paar Jahren hieß es: Es gibt zu wenig Akademiker. Heute wollen viele junge Menschen studieren – und die Unternehmen finden nicht genug Fachkräfte.
Rund 34 000 Stellen werden in diesem Jahr allein in der Hauptstadt unbesetzt bleiben. 2030 könnten es mehr als 150000 sein. In manchen Branchen würde sich der Mangel mehr als verdoppeln. Zu dieser Prognose kommt die Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) in ihrem aktuellen Fachkräftemonitor.
Damit es nicht so weit kommt, müssten Unternehmen die Arbeitnehmer, die sie haben, halten und fördern. Sie müssten heute mehr dafür tun, dass sich die Mitarbeiter mit ihrem Betrieb identifizieren, motiviert sind und sich wertgeschätzt fühlen. „Ein wichtiger Punkt ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, sagt Simon Margraf von der IHK Berlin. Viele Frauen würden noch immer eher Teilzeit arbeiten, um beides haben zu können, Karriere und Kinder. Durch den demografischen Wandel rückt die Pflege von Angehörigen verstärkt in den Mittelpunkt. Bei Kita-Plätzen gibt es nach wie vor Engpässe. Viele Angestellte würden sich mobilere und flexiblere Arbeitsmöglichkeiten wie Gleitzeit und Homeoffice wünschen – und mehr Weiterbildungen, um sich zu entwickeln.
Eine andere Lösung für den Fachkräftemangel ist die qualifizierte Zuwanderung. Experten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben ermittelt: Nur wenn im Schnitt 533000 mehr Menschen zu- als abwandern, lasse sich die Lücke füllen, die entsteht, wenn die sogenannten Babyboomer in Rente gehen. Von den Geflüchteten, die in Berlin leben, könnten nach Angaben der IHK derzeit 2500 Frauen und Männer in den Arbeitsmarkt integriert werden. „Das löst unser Problem aber nicht“, sagt Constantin Terton, Bereichsleiter Wirtschaftspolitik bei der Berliner IHK. Wobei die Menschen, die aus Syrien und Afghanistan geflohen sind, auch nicht deswegen hier seien, um den Fachkräftemangel zu beheben. Sie seien vor dem Krieg geflohen und würden Zuflucht suchen. Es ginge nicht primär um wirtschaftliche Nützlichkeit.
„Das Thema der qualifizierten Zuwanderung ist von der Agenda der Politik komplett verschwunden“, sagt Terton. Dabei bräuchten die deutschen Unternehmen dringend mehr Hochqualifizierte und Fachkräfte aus dem Ausland.
Wegen der sinkenden Auszubildenden-Zahlen wirbt die Bundesregierung verstärkt für die klassische betriebliche Lehre. In dieser Woche startete das Bildungsministerium die neue Informationskampagne „Du + Deine Ausbildung = Praktisch unschlagbar!“. Gezeigt wird sie im Internet, auf Plakaten und in Kinospots. Auf einer deutschlandweiten Tour geben Experten den Jugendlichen in Schulen, auf Bildungsmessen und Festivals Hinweise für ihre Berufsorientierung. Der Wert der dualen Ausbildung müsse auch in Deutschland wieder stärker in der Gesellschaft verankert werden, sagt Bundesministerin Johanna Wanka.
In Berlin gibt es zudem Patenschaften zwischen Schulen und Firmen, Praktika- und Lehrstellenbörsen, Messen wie die Tage der Berufsausbildung, die deutsch-türkische Ausbildungsmesse und die Last-Minute-Börse. Schüler haben dort die Möglichkeit, sich zu informieren, auf einen Beruf zu stoßen, von dem sie vielleicht noch nie gehört haben, und Betriebe kennenzulernen. Sie sollen sehen, dass eine Lehre keine Karriere zweiter Klasse ist.
Bestatter - Eine Frage der Reife
Jemand, der gerade von der Schule kommt, mit 16 oder 18 Jahren, ist oft nicht reif genug, um mit dem Tod umzugehen. Das ist eines der Probleme, wenn das Unternehmen „Hahn Bestattungen“ nach Auszubildenden sucht. Viele, sagt Editha Hahn, haben auch falsche Vorstellungen von dem Beruf. „Sie glauben, sie müssten nur zuhören und trösten. Dabei muss man organisieren können und sehr konzentriert arbeiten.“
Das Familienunternehmen, das sie mit ihrem Sohn Robert Hahn in Berlin leitet, existiert seit 1851. Um „Bestattungsfachkraft“ zu werden, lernen die Azubis in drei Jahren, einen Leichnam abzuholen, ihn zu waschen und gemäß der Hygieneregeln in den Sarg zu betten. Sie erledigen die Formalitäten einer Beerdigung und die nötigen Behördengänge, wie zum Beispiel die Verstorbenen beim Standesamt abzumelden. Ihnen wird gezeigt, wie sie Trauerfeiern organisieren und mit den Hinterbliebenen sprechen.
Weil die Gespräche mit den Hinterbliebenen sehr intim sind, ist die Ausbildung, die es erst seit 2006 gibt, nicht einfach. Nicht jedem Kunden gefiele es, wenn er die letzte Ruhe seiner Mutter bespricht – und ein Lehrling zum Zusehen dabeisitzt. Deswegen achtet Editha Hahn sehr auf das Auftreten und die Umgangsformen der Bewerber. Was nicht immer zu dem Beruf passen würde. „Unsere Azubis sind daher alle schon etwas älter“, erzählt sie. Viele würden den Beruf aus ihrem Umfeld kennen. Wobei Familienbetriebe oft das Problem haben, dass die Tochter oder der Sohn das Geschäft nicht übernehmen wollen. Ein Grund ist der Bereitschaftsdienst. Gestorben wird immer, zu jeder Uhrzeit.
Um neben Azubis schon ausgebildete Fachkräfte zu finden, setzt das Bestattungsunternehmen auf Quereinsteiger. „Bewerber sollten über 30 sein und eine kaufmännische Lehre hinter sich haben“, sagt Editha Hahn. „Sie werden dann von uns hausintern zwei Jahre geschult.“ Das erste Jahr ist allerdings Probezeit.
Rohr- und Kanalreiniger - Der Job hat ein Imageproblem
Manchmal stößt man in dem Job auf recht kuriose Fundstücke. Während der Video-Inspektion von Kanälen und Rohren blicke einem schon mal ein Dachs oder Waschbär entgegen, sogar einen Riesenkrebs gab es mal. Aber auch Schönes, wie kritzelige Liebesgrüße an der Rohrwand, finden Rohr- und Kanalreiniger bei ihrer Arbeit. Fäkalien? Damit haben sie eher selten direkten Kontakt. „Trotzdem hat das Berufsbild ein Imageproblem“, sagt Carsten Christ, Geschäftsführer von Mayer Kanal- und Rohrreinigung.
Die meisten jungen Leute hätten außerdem ein verzerrtes Bild von dem Beruf, oder er sei ihnen vollkommen unbekannt. Was sie tun, sei ja auch nicht sichtbar. Während die Menschen Straßen- und Brückenschäden im Alltag sehen, blieben Rohr- und Kanalschäden unbemerkt. Erschwerend hinzu kommen die ungeregelten Arbeitszeiten. Anfang der 90er gab es noch jede Menge Quereinsteiger, erzählt Christ weiter. Diese blieben mittlerweile aus, was zu einem akuten Engpass führe. Nach Ende der Ausbildung würde jeder Zweite dann noch das Unternehmen wechseln, weil er ein besseres Angebot bekäme. Deswegen versucht Christ, den Ausbildungsberuf attraktiver zu machen. Er sagt: „Wir müssen die Bedeutung für den Umweltschutz hervorheben und wie abwechslungsreich die Arbeit ist“.
Sicherheitsmitarbeiter - Viele brechen ab
Ende vergangenen Jahres zählte das Unternehmen „Securitas“ 763 offene Stellen. In der gesamten Sicherheitsbranche sind Mitarbeiter stark gefragt, der Markt ist leer. Ein Problem, das sich in Zukunft weiter verschärfen wird, denn das Bedürfnis nach Sicherheit wird wegen der latenten Terrorgefahr bleiben. Deswegen informiert das Sicherheitsunternehmen derzeit einmal in der Woche über seine Arbeitsmöglichkeiten. Was Bewerber mitbringen müssen: die Bereitschaft zur Schichtarbeit, Disziplin, physische und psychische Belastbarkeit, die Fähigkeit, aufmerksam zu beobachten. Branchenspezifische Kenntnisse sind hilfreich, aber nicht notwendig. Dafür ist der Bedarf zu groß.
„Wir haben gerade mehr Aufträge, als wir abarbeiten können“, sagt Bernd Weiler, Leiter der Unternehmenskommunikation. Was Bewerber noch bräuchten, sei eine „weiße Weste“, ein polizeiliches Führungszeugnis ohne Eintragungen. „Bei besonders sensiblen Einsätzen kann es auch mal eine Abfrage beim Verfassungsschutz geben“, sagt er. Um rechtsradikale, fremdenfeindliche oder islamistische Bewerber herauszufiltern.
Die meisten Security-Mitarbeiter besuchen einen Kurs der Industrie- und Handelskammer (IHK). 40 Stunden reichen für Angestellte aus. 80 Stunden, um sich selbstständig zu machen. Eine Ausbildung dauert zwei Jahre zur Servicekraft und drei Jahre zur Fachkraft. Die Abbrecherquote ist recht hoch. Vor Kurzem hatten sich 60 Frauen und Männer bei Securitas beworben. Zur ersten Info-Veranstaltung kamen 25, zur zweiten nur noch zwölf.
Ein Problem sei der Schichtdienst – nachts, am Wochenende, an den Feiertagen. Deswegen würde das Unternehmen darauf setzen, mehr als den Mindestlohn zu zahlen. Um trotz der Arbeitszeiten attraktiv zu sein. Was dem Konzern bei jugendlichen Bewerbern jedoch auffällt, ist, dass sie wenig über den Beruf wissen und die Schulnoten tendenziell schlechter werden. Und das, während die Qualitätsstandards bei all den momentanen Herausforderungen erhöht werden sollen.
Theologen - Mehr als nur beten
Für den Job auf Sex, eine Partnerschaft und Kinder verzichten – das wollen immer weniger. Gab es vor gut 50 Jahren 557 Neupriester im Jahr, waren es 2014 nur noch 75. Noch problematischer wird der Trend, wenn in den nächsten Jahren viele katholische Priester in den Ruhestand gehen. Ohne dass genügend Nachwuchs ihre Aufgaben übernimmt.
Was die Kirche gegen den Fachkräftemangel tut: Zum einen lockt sie Priester aus dem Ausland an. Vor allem aus Afrika, Indien und Polen. Sie versucht, das verstaubte Berufsbild attraktiver zu machen, setzt den Fokus mehr auf die karitative Arbeit und nicht nur auf die Seelsorge, erzählt an Info-Nachmittagen von der Erwachsenenbildung und Sozialberatung, die zu der Arbeit eines Priesters oder einer Gemeindereferentin dazugehören, betont die Vielfalt und Teamarbeit.
Es gibt Broschüren und Flyer. Bei einem Coaching können Jugendliche mit ihrer Berufung in Berührung kommen. Ein anderer Versuch, an junge Menschen heranzutreten, ist das Projekt „Sendung konkret“, bei dem Ordensleute oder Priester in den Religionsunterricht kommen. „Dort erzählen sie, was sie tun und warum ihr Job sie so begeistert“, sagt Regens Matthias Goy, der beim Erzbistum Berlin für das pastorale Personal und die Priesterausbildung zuständig ist. Manche seien dann doch erstaunt, wie es ist, einen Häftling oder Polizisten nach einem Schusswechsel zu betreuen.
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