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Um 165 Euro steigt die Staatsverschuldung pro Sekunde an, zeigt die Schuldenuhr in der Französischen Straße in Berlin.
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Dispo für die Zukunft: Schulden sind längst nicht so schlecht wie ihr Ruf

Ohne Schulden kommt keine Volkswirtschaft aus. Obwohl es als lasterhaft gilt, mehr auszugeben, als man hat. Doch das Ideal der schwäbischen Hausfrau ist weder zeitgemäß noch sinnvoll. Zeit für ein Lob auf die Schulden. Ein Essay.

Ein Essay von Carla Neuhaus

Die Schuldenuhr in der Französischen Straße in Berlin-Mitte ist eine Touristenattraktion. Immer wieder bleiben Besucher vor der roten Digitalanzeige stehen und starren auf die 13-stellige Zahl, die sekündlich größer wird. Mit über 2,2 Billionen Euro sind Bund und Länder demnach aktuell verschuldet – das sind mehr als 25 000 Euro pro Bundesbürger. Jede Sekunde wachsen die Schulden um weitere 165 Euro an. Tack. Tack. Tack. Die Deutschen staunen über diese hohen Zahlen – und regen sich auf. Denn Schulden, ob privat oder staatlich, sind hierzulande verpönt. Die landläufige Meinung: Geld auszugeben, das man nicht hat, ist lasterhaft. Seit Ausbruch der Finanzkrise hat sich diese Ansicht noch deutlich weiter verbreitet. In jeder Nachricht, die in diesen Tagen aus Griechenland kommt, sehen Schuldengegner ihre Argumente bestätigt.

Doch: zu Unrecht.

Schulden sind längst nicht so schlecht wie ihr Ruf. Im Gegenteil. Für eine moderne Volkswirtschaft sind Schulden unverzichtbar. Ohne sie gäbe es weder Fortschritt noch Wohlstand. Es ist deshalb an der Zeit für ein Lob auf die Schulden. Es ist Zeit, dass wir Schulden wieder als das begreifen, was sie eigentlich sein sollten: eine Investition in die Zukunft.

Im Idealfall profitieren von einem Kredit alle

Verständlich wird das, wenn man sich anschaut, wie Unternehmen wirtschaften. Will ein deutscher Mittelständler wachsen und in weniger Zeit mehr Aufträge abarbeiten, braucht er neue Maschinen. Weil die teuer sind und der Unternehmer sie nicht aus der Portokasse bezahlen kann, leiht er sich das Geld bei der Bank. Im Idealfall ist dieser Kredit ein Geschäft, von dem alle Seiten profitieren. Die Bank kassiert für das Risiko, das sie eingeht, Zinsen. Das Unternehmen kann seine Maschinen kaufen und mehr produzieren. „Auf seinen Schulden reitet der Unternehmer zum Erfolg“, schrieb der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter bereits 1911.

Doch nicht nur für die Bank und den Unternehmer ist der Kredit ein Gewinn: Von ihm profitieren selbst Menschen, die mit der Firma gar nichts zu tun haben. Macht das Unternehmen dank der neuen Maschinen mehr Gewinn, kann es mehr Mitarbeiter beschäftigen, die dann zum Beispiel mehr Geld in den Geschäften ausgeben. So entsteht ein selbstverstärkender Effekt: Die Wirtschaft wächst, die Einkommen steigen. Aufgrund dieser Wirkung ist es auch nicht überraschend, dass die Wirtschaft hierzulande erst so richtig zu florieren begann, als Banken im Zuge der Industrialisierung anfingen, im großen Stil Kredite zu vergeben. Erst mit der stärkeren Verschuldung kam der Wohlstand für die Masse.

Heute vergessen wir das gerne. Schulden zu verteufeln, ist populär. Dabei ist eine vernünftige Verschuldung eine Tugend – kein Laster.

Das Leitbild der Sparerrepublik ist die schwäbische Hausfrau

Nun wird niemand ernsthaft in Abrede stellen, dass Unternehmen Kredite aufnehmen sollten, wenn sie dadurch Arbeitsplätze schaffen. Anders ist das jedoch, wenn es um private Schulden und erst recht um Staatsschulden geht. Wer in der Sparer-Republik Deutschland mit seinem Konto ins Minus rutscht, dem ist das über die Maßen peinlich. Er schweigt lieber und nimmt hohe Dispozinsen in Kauf, als mit dem Bankberater über eine Umschuldung auf einen günstigeren Ratenkredit zu sprechen. Die Geldinstitute können die extrem hohen Dispozinsen auch deshalb durchsetzen, weil die Verbraucher zu wenig über ihr Geld und noch viel weniger über ihre Schulden reden.

Das Leitbild ist schließlich die schwäbische Hausfrau, die nicht mehr ausgibt, als sie einnimmt. Ein Ideal, auf das sich auch Kanzlerin Angela Merkel gerne beruft. Bereits Ende 2008, wenige Monate nach Ausbruch der Finanzkrise, sagte die Kanzlerin auf einem CDU-Parteitag: „Man hätte einfach nur eine schwäbische Hausfrau fragen sollen.“ Die wisse: „Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben. Das ist der Kern der Krise.“ Seitdem halten die Deutschen ihr Geld noch viel mehr zusammen.

Die Ersparnisse des einen sind stets die Schulden des anderen

Um 165 Euro steigt die Staatsverschuldung pro Sekunde an, zeigt die Schuldenuhr in der Französischen Straße in Berlin.
Um 165 Euro steigt die Staatsverschuldung pro Sekunde an, zeigt die Schuldenuhr in der Französischen Straße in Berlin.
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Dabei war unser Verhältnis zur Verschuldung bereits lange vor der Krise verkrampft. Das zeigt allein schon unser Wortschatz.  In dem Begriff der Schulden steckt die Schuld. Wer sich Geld leiht, steht in der Schuld des anderen – man könnte gar annehmen, er mache sich schuldig. Dabei sind Schuld und Schulden zwei sehr unterschiedliche Dinge. Während sich Schulden klar beziffern lassen, ist Schuld ein Gefühl, das man schwer in Worte fassen, erst recht nicht in Zahlen ausdrücken kann. Doch damit nicht genug. Dem Schuldner steht in der deutschen Sprache auch noch der Gläubiger gegenüber. Beim Glauben ist man schnell bei der Religion, bei Gott. Was für eine Verantwortung es für den Schuldner ist, dem Gläubiger Geld zu schulden! In der englischen Sprache ist das leichter. Den Zusammenhang zwischen „guilt“ und „debt“ stellt man so schnell nicht her. Auch der englische Begriff „creditor“ klingt deutlich technischer als das deutsche Wort Gläubiger.

"Sparsamkeit ist eine Peinlichkeit", meinte Immanuel Kant

So ist es dann auch wenig verwunderlich, dass Menschen im angelsächsischen Raum viel entspannter mit Schulden umgehen als wir Deutschen. In den USA oder Großbritannien werden private Kredite tatsächlich als Investition in die Zukunft verstanden – nicht als gesellschaftlicher Makel. Zwar liegt das auch daran, dass viele Verbraucher dort keine andere Wahl haben: Weil zum Beispiel die Studiengebühren in den USA so hoch sind, sind Studenten dort im Schnitt mit über 30 000 Dollar verschuldet. In der Regel zahlen sie dieses Geld noch lange nach ihrem Abschluss ab. Gleichzeitig sind Amerikaner aber auch grundsätzlich schneller dazu bereit, etwas auf Pump zu kaufen. Der Wunsch nach einem Eigenheim und die Bereitschaft, sich dafür hoch zu verschulden, ist in den USA viel größer als hierzulande. Das eigene Haus gilt unter Amerikanern als Inbegriff für persönliche Freiheit. Deutsche bauen oder kaufen ein Eigenheim dagegen erst nach Jahren des Bausparens.

Dabei schrieb bereits Immanuel Kant: „Die Sparsamkeit ist eine Peinlichkeit.“ Zum Sparen, argumentierte der Philosoph, gehörten weder „Geschicklichkeit noch Talent“. Auch wenn ein allzu laxer Umgang mit Krediten unvernünftig ist – sich rein aufs Sparen zu fixieren und jegliche Art von Schulden auszuschließen, ist es ebenfalls. Zumal das Sparen und das Verschulden untrennbar zusammengehören. Kauft der Unternehmer eine neue Maschine, mit der er mehr produzieren kann, steigert er seine Einnahmen: Für ihn macht ein Kredit heute also das Sparen morgen erst möglich. Auch Verbraucher, die sich verschulden, tun das oft, um zu sparen: Wer einen Immobilienkredit aufnimmt, will sich schon heute die Miete schenken – nicht erst in 20 Jahren, wenn er das Geld für den Kauf zusammen hat.

Die Ersparnisse des einen sind stets die Schulden des anderen

Auch gesamtwirtschaftlich gäbe es ohne Schulden keine Ersparnis. Das Geldsystem funktioniert wie ein Kreislauf: Eine Bank kann den Sparern nur deshalb Zinsen zahlen, weil sie das Geld nicht nur hortet, sondern als Kredite an andere Verbraucher und Unternehmen ausreicht. Würden nun alle ausschließlich sparen, ginge diese Rechnung nicht mehr auf. Stattdessen würde Weltwirtschaft erlahmen, es käme zum ökonomischen wie gesellschaftlichen Stillstand. In der Volkswirtschaft ist das nicht anders als im Fußballstadion: Steht einer von seinem Platz auf, um besser zu sehen, hat er tatsächlich einen tollen Blick aufs Spielfeld. Springen dagegen alle von ihren Sitzen hoch, verbessern sie ihre Sicht kein Stück. Deshalb wäre nichts gewonnen, wenn auf einmal alle dem deutschen Idealbild der schwäbischen Hausfrau folgen und um die Wette sparen würden. Die Ersparnisse des einen sind stets die Schulden des anderen.

So ist auch zu erklären, warum trotz der anhaltenden Schuldenkrise die Geldvermögen weltweit steigen. Und weshalb ein Schuldenschnitt so hart ist: Erlässt man einem Land einen Teil seiner Schulden, heißt das, dass auf der anderen Seite Anleger auf einen Teil ihrer Vermögen verzichten müssen. Selbst wenn wir wollten, könnten wir das Leben auf Pump gar nicht einstellen.

Und es gibt auch gar keinen Grund dazu. Selbst Wolfgang Schäuble, Finanzminister und Verfechter der schwarzen Null, antwortet auf die Frage, wann wir unsere Schulden endlich los sind, stets: „Hoffentlich nie!“ Schließlich will die Regierung mit der Schuldenbremse die Staatsverschuldung eindämmen – nicht komplett abschaffen. Für das Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft ist nämlich nicht die Höhe der Schulden entscheidend, sondern ihr Verhältnis zum Wirtschaftswachstum.

Griechenland braucht einen Schuldenschnitt, um wieder schuldenfähig zu werden

Um 165 Euro steigt die Staatsverschuldung pro Sekunde an, zeigt die Schuldenuhr in der Französischen Straße in Berlin.
Um 165 Euro steigt die Staatsverschuldung pro Sekunde an, zeigt die Schuldenuhr in der Französischen Straße in Berlin.
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Anders als an deutschen Stammtischen gerne behauptet wird, sind Staatsschulden nicht per se schlecht. Der Soziologe Lorenz von Stein hat das schon 1871 erkannt, als er schrieb: „Ein Staat ohne Staatsschuld tut entweder zu wenig für seine Zukunft, oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“ Wie aktuell dieses Zitat ist, zeigt ein Manifest, das eine Gruppe von elf Wissenschaftlern im Juni vorgelegt hat. Die Forscher – darunter der Freiburger Ökonom Lars P. Feld und der Berliner Wirtschaftshistoriker Carl-Ludwig Holtfrerich – rufen dazu auf, „sich selbst und anderen zum Thema Staatsschulden keine Denkverbote zu verordnen“. Entgegen manchem Vorurteil müsse „Staatsverschuldung als solche nicht notwendig nachteilig für Staat und Gesellschaft sein“.

Wir vererben nicht nur Schulden sondern auch wichtige Infrastruktur

Die Kreditgegner argumentieren dagegen stets mit der Last, die wir unseren Kindern aufbürden, in dem wir ihnen unsere Staatsschulden vererben. Sie ignorieren dabei jedoch, was mit den Schulden geschaffen wird. Zum Beispiel wären neue Autobahnen, IT-Netze, Kindergärten, Schulen oder Universitäten ohne Schulden kaum finanzierbar. Dabei sind gerade solche Ausgaben wichtige Investitionen in die Zukunft. Von ihnen profitieren künftige Generationen besonders stark. Entsprechend ist es nur gerecht, wenn nicht allein die heutigen Steuerzahler die Kosten dafür tragen, sondern auch die Nachfahren. Unseren Kindern vererben wir somit nicht nur Schulden sondern vor allem eine Menge Vermögen in Form von Infrastruktur.

Wichtiger als die Höhe der Schulden ist die Frage, wofür man das geliehene Geld ausgibt. Probleme gibt es mit den Schulden immer dann, wenn man das anvertraute Geld verschwendet, wenn es in die falschen Projekte fließt. So ist die Finanzkrise entstanden, weil zu viele Amerikaner Immobilienkredite aufgenommen haben, die sie sich nicht leisten konnten. Und weil die Banken diese Risiken an Hedgefonds weiterverkauft haben. Eine solche Entwicklung zu verhindern, ist Aufgabe der Finanzaufsicht. Sie muss darauf achten, dass Verschuldung tatsächlich den volkswirtschaftlich gewünschten Effekt hat. Denn sonst passiert es schnell, dass sich eine Krise ausbreitet – wie 2008, als die Banken sich plötzlich nicht einmal mehr gegenseitig Geld leihen wollten. Schließlich ist jeder Kredit ein Geschäft mit dem Vertrauen. Geht es verloren, führt das in die Krise.

Griechenland braucht einen Schuldenschnitt, um wieder schuldenfähig zu werden

Ganz deutlich wird das am Beispiel Griechenlands. Das Land steckt in der Bredouille – obwohl die Pro-Kopf-Verschuldung in vielen anderen Staaten deutlich höher ausfällt: etwa in Österreich, Irland, der Schweiz oder den USA. Doch anders als Griechenland genießen diese Schuldenstaaten noch immer das Vertrauen ihrer Investoren und haben keine Probleme, neue Schulden aufzunehmen. Was wir in Griechenland beobachten, ist deshalb streng genommen keine Schuldenkrise – sondern eine Vertrauenskrise. Zu lange hat das Land die schwache Wettbewerbsfähigkeit und die hohe Korruption ignoriert, mit dem geliehenen Geld einen aufgeblähten Staatsapparat finanziert und noch dazu mit kreativer Buchführung seine Zahlen geschönt. Indem die übrigen EU-Staaten nun Beweise für den Reformwillen einfordern, versuchen sie das Vertrauen wiederherzustellen. Ein wichtiges, aber mühsames Unterfangen.

Ob es gelingt, wird sich zeigen. Womöglich braucht Griechenland für einen Neuanfang tatsächlich einen Schuldenschnitt. Für die Anleger wäre das ärgerlich, für die Griechen hart. Doch so abstrus es klingen mag: Ein Schuldenschnitt könnte dem Land langfristig helfen, überhaupt wieder schuldenfähig zu werden. Denn auch Griechenland braucht Schulden. Gute Schulden, die die Wirtschaft ankurbeln, das Wachstum stärken. So gesehen wären neue, schlau eingesetzte Schulden eine Chance für Griechenland. Ein Neuanfang.

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