Migrationszahlen der großen Industrieländer: OECD empfiehlt der neuen Regierung dringend neue Anwerbepolitik
Corona hat die Migrationsströme weltweit unterbrochen. Die OECD meint, in Sachen Fachkräftewerbung könnte die Ampel mehr tun als bisher geplant.
Der dringende Wunsch nach Fachkräften bewegt nicht nur Deutschland, erst recht nach dem Einbruch auch der weltweiten Migration durch die Covid-Pandemie. Nach Erkenntnissen der OECD ist in vielen Mitgliedsländern "erstmals wieder Arbeitsmigration auf der Agenda", sagte Thomas Liebig, Migrationsspezialist des "Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung", in der die 34 wichtigsten Industrieländer zusammengeschlossen sind.
Dauerhafte Einwanderung ging in den reichen Industriestaaten durch die Pandemie um ein Drittel zurück und fiel damit auf den Stand von 2003.
Liebig, der in Berlin die Auswertung des „Migration Outlook 2021“ der OEC präsentierte und dabei vor allem auf die deutschsprachigen Länder Deutschland, Schweiz und Österreich einging, sieht die Pläne der entstehenden Ampelkoalition zur Fachkräfte-Anwerbung allerdings nicht ausreichend beziehungsweise teils auf dem falschen Weg: Es werde „spannend sein zu sehen, wie weit SPD, Grüne und FDP mit ihren Plänen eines Punktesystems nach kanadischem Vorbild kommen“, sagte Liebig.
Deutsch ist wichtiger als Diplome
Das in Deutschland seit Jahren diskutierte Punktesystem erlaubt Menschen und ihrer Familie die Einwanderung, die für bestimmte im Zielland gewünschte Eigenschaften – Bildung, Alter, Qualifikation – die nötige Zahl von Punkten erreicht haben. Ähnliche Systeme gelten auch in Australien und Neuseeland. Liebig und sein Team in Paris beoachten diese Systeme seit Jahren; er warnte am Donnerstag vor deren Kompliziertheit.
Länder mit Punktesystem für Migration könnten eher aus anderen Gründen ein Vorbild sein, nämlich für die praktische Umsetzung der nationalen Migrationsziele und für begleitende, erfolgreiche Programme: Während für deutsche Ausländerbehörden Fachkräfteeinwanderung „ein Nischengeschäft“ sei, kümmerten sich deren öffentliche Verwaltungen gezielt, mit viel Fachpersonal und gut digitalisiert darum.
Entscheidend seien auch Programme wie „Work and Travel“ , mit denen sich künftige Zuwander:innen erst einmal im Land ihrer Wahl umsehen und Jobs finden könnten. In einigen Staaten habe der weit überwiegende Teil derer, die später einwandern, zuvor ein solches Programm absolviert. „Wie anders sollte eine Unternehmerin in Neuseeland auch ihren künftigen ausländischen Mitarbeiter kennenlernen?“ sagte Liebig dem Tagesspiegel. Für Deutschland müsste das Programm um die Komponente „Spracherwerb“ ergänzt werden.
Die Pariser Migrationsfachleute sehen sich durch Umfragen in Unternehmen weltweit bestätigt. Denen gehe es vom kleinen Betrieb bis zur großen Firma selten um passgenaue Qualifikation und Diplome. Auch eine Umfrage zusammen mit dem DIHK habe erbracht, dass den meisten Chef:innen das Deutsch ihrer künftigen Beschäftigten viel wichtiger als fertige Qualifikationen sei.
"Auch andere Länder werben um Fachkräfte"
So könnten sie sich Fertigkeiten im Land aneignen und das Einleben in Deutschland werde für sie leichter. Das müsse man den Menschen aber im Land selbst ermöglichen – womöglich nach dem Erwerb eines Minimums an Deutschkenntnissen bereits in der Heimat.
Die Möglichkeit, sich in Deutschland ein halbes Jahr Arbeit zu suchen, gibt es per Gesetz bereits. Sie kann aber kaum genutzt werden, weil viele, die sie nutzen wollen, nicht an Visa kommen – entweder weil die Botschaften zu wenig Termine vorhalten, weit entfernt sind oder sie aus Angst vor unerwünschter Einwanderung sehr zögernd vergeben.
Der künftigen Regierung, die ohnehin das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz reformieren will - es ist gerade ein Jahr alt - empfahl Liebig Tempo: „Auch andere Länder werben um die fehlenden Fachkräfte, da wird Druck entstehen.“
Die Bedeutung von Migration für den Reichtum eines Landes lässt sich im aktuellen Bericht gerade für Deutschland nachweisen: 2007 noch recht deutlich negativ, war er bis zum Corona-Einbruch „deutlich positiv“, so Liebig. Der Nettofiskalbeitrag, also die Summe aller Steuern und Abgaben, die gezahlt werden, gegen das, was an Eingewanderte zurückfließt, sei selbst im vorsichtigsten Szenario von minus 1.840 Euro auf plus 839 Euro gestiegen. In absoluten Zahlen sei Deutschland Spitze, die mehr als 56 Milliarden plus bis 2018 „fast schon spektakulär“.
Nirgendwo sind Schulen mit vielen Migrantenkindern so schlecht für sie
Migrant:innen tragen in der gesamten OECD mehr an Steuern und Abgaben bei, als sie aus Gesundheits-, Bildungs- und Sozialversicherungssystemen erhalten. Ihre Arbeitsmarktintegration wurde aber auch in Deutschland durch die Corona-Pandemie stark zurückgeworfen. Der Beschäftigungsrückgang war für sie viermal so stark wie für Menschen, die hier geboren wurden. OECD-weit hat Covid in nur einem Jahr sogar ein Jahrzehnt an Integrationsfortschritten zunichte gemacht, schreibt die Organisation.
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Deutschland empfiehlt sie dringend neue politische Schwerpunkte: Schulen mit einem starken Mgrationsanteil liegen hierzulande um ein ganzes Schuljahr zurück, selbst dann, wenn man alle äußeren belastenden Faktoren herausrechnet - bildungsferne Eltern, Leben in einem ethnisch und sozial wenig durchmischten Viertel zum Beispiel. In keinem anderen OECD-Staat sei die Benachteiligung von Migrantenkindern so abhängig davon, dass sie vornehmlich mit anderen Migrantenkindern die Schulbank drücken.
Auch um eingewanderte Frauen beziehungsweise um Familien müsse sich die Politik viel mehr und zielgenauer kümmern, sagt Liebig. Viele bekämen erst einmal Kinder, sobald sie angekommen sind. Da sich aber viele Angebote an Neuzugewanderte richteten, würden junge Mütter oft nicht erreicht. Investitionen in sie und in Schulen mit hohem Migrationsanteil „in der Breite, nicht mit der Gießkanne“ sei zunächst nicht billig. „Langfristig sind sie aber die wichtigste Investition in Integration.“
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