zum Hauptinhalt
Schnellwege für Fußgänger. Touristen, Abgeordnete, Mitarbeiter des Kanzleramts und der Schweizer Botschaft entscheiden sich zwischen Hauptbahnhof und Reichstag für die Kurzstrecke.
©  Reinhart Bünger

Trampelpfad am Hauptbahnhof: Wo ein Wille ist, entsteht ein Weg

Immer wieder folgen Fußgänger dem offenbar angeborenen Drang zum Abkürzen - und treten dabei Planungen von Landschaftsarchitekten in Grund und Boden. Auch zwischen Hauptbahnhof und Reichstag entsteht eine neue Kurzstrecke.

Man sieht sie allenthalben, in Stadt und Land: Wilde Pfade durchziehen Grünanlagen und Parks oder queren die lieblos begrünten Mittelstreifen sechsspuriger Straßen, mit denen Verkehrsplaner den Fußgängern in allen größeren Städten den Weg abgeschnitten haben, um ihn den Kraftfahrern zu ebnen. Oder Stadtplaner haben Fußwege zwar vorgesehen, bloß nicht dort, wo die Menschen entlanggehen möchten.

In Berlin ist das schön zu sehen auf dem begrünten Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude, wo einige wilde Wege der 2009 eröffneten U-Bahn-Haltestelle „Bundestag“ vor dem Paul-Löbe-Haus zustreben, aber noch eindrucksvoller im Spreebogenpark nördlich der Schweizer Botschaft: Dort haben die vielen Fußgänger, die vom Hauptbahnhof kommen und auf dem kürzesten Weg über die Gustav-Heinemann-Brücke in Richtung Reichstagsgebäude gelangen wollen, die Planung des Schweizer Landschaftsarchitekten Toni Weber mit Füßen getreten.

Auf Schritt und Tritt haben sie so etwas geschaffen, was Jürgen Götte „eine Trampel-Autobahn“ von ungefähr fünf Metern Breite nennt. Und als Fachbereichsleiter Grünanlagen beim Bezirksamt Mitte hat Götte schon viele Trampelpfade gesehen.

Mögen wir keine Ecken?

Diese ungehobelten Wege seien „immer ein Zeichen dafür, dass nicht entsprechend den Anforderungen von Fußgängern geplant wurde“, sagt der Kasseler Verkehrs- und Stadtplaner Andreas Schmitz, ein Fachmann für Fußgängerverkehr. Wie empfindlich Fußgänger gegenüber aufgenötigten Umwegen sind, beweisen für ihn schon die regelmäßig festgetrampelten Ecken an rechtwinkligen Pflanzbeeten.

Mögen wir keine Ecken? Beim Gehen jedenfalls nicht. „Der Mensch ist in der Regel recht gehfaul“ und kürze bereits ab, „wenn er dadurch ein paar Schritte sparen kann“, weiß auch der Garten- und Landschaftsbauer Johannes Windt aus dem niederrheinischen Korschenbroich. Am besten sieht der Nutzer das Ziel eines Weges nicht schon vor dem ersten Tritt. Das wäre langweilig, weshalb Windt gerne „unregelmäßige Biegungen“ einplant, weil sie „Überraschungsmomente schaffen“.

Große Steine oder hohe Büsche in Kurven verhüllen die Sicht auf den weiteren Verlauf der Wege. Außerdem disziplinieren sie Spaziergänger, die überhaupt keinen Umweg laufen möchten. Doch das sind Ausnahmen. Denn wie Umweltpsychologen vielfach haben feststellen können, finden die meisten Menschen einen Wanderweg erst so richtig anziehend, wenn er leicht geschwungen verläuft und immer wieder einmal hinter einer Feldsteinmauer, einem Wäldchen oder einer Hecke ins Ungewisse verläuft.

Doch so schön und harmonisch geschwungene Wege auch wirken mögen: Übertreiben dürfen sie ihr Mäandern nicht, sonst schneidet der Mensch sie kurzerhand ab und tritt sich einen weniger kräftezehrenden Pfad. Denn letztlich wollen wir Energie sparen – unser in Jahrhunderttausenden bewährtes Überlebensprogramm gegen Futterknappheit und Verhungern.

Protest mit Füßen. Wer läuft schon gerne über Eck?
Protest mit Füßen. Wer läuft schon gerne über Eck?
© Reinhart Bünger

Ein Trampelpfad entsteht schrittweise

Wissenschaftler um den heute in Zürich lehrenden Physiker und Mathematiker Dirk Helbing haben diese tief verwurzelte Bequemlichkeit erforscht und etwas Interessantes herausgefunden: Fußgänger wichen erst dann von vorgegebenen Wegen ab und träten sich bequemere Trampelpfade, wenn der aufgenötigte Umweg um etwa ein Viertel – nämlich 20 bis 30 Prozent – länger sei als die kürzestmögliche Strecke. Darin sind Menschen, laut Helbing, überaus beharrlich. Sie folgten dem offenbar angeborenen Drang zum Abkürzen selbst „bei Strecken, die bloß zehn Meter lang sind“.

Die Sache funktioniert wie von Geisterhand und so verlässlich, als sei auch der Trampelpfad geplant worden. Doch entsteht er buchstäblich schrittweise: Ein innovativer Vorläufer weicht erstmals von der planerisch vorgegebenen Strecke ab, Nachfolger tun es ihm gleich, bis sich die Spur im Untergrund abzuzeichnen beginnt und nun noch mehr Fußgänger anlockt – vorausgesetzt freilich, das Ziel des Pfades erscheint auch der Masse plausibel, und sei es eine neue Pommesbude jenseits einer bis dahin gemiedenen Wiese.

Am Ende ist Helbing zufolge ein „hochkomplexes Wegesystem entstanden“, und das wie von selbst. Systemtheoretiker nennen diese Phänomen Emergenz, was so viel wie „spontanes Hervortreten“ bedeutet. Jedenfalls entstehen Trampelpfade, wo immer Planer – aus welchen Gründen auch immer – Fußgänger oder Radler zu absurden Umwegen zwingen wollen oder müssen.

"So geht kein Mensch"

Nicht jeder Pfad durch den Großstadtdschungel ist breit ausgelegt.
Nicht jeder Pfad durch den Großstadtdschungel ist breit ausgelegt.
© Gerd W. Seidemann

„So geht kein Mensch“, sagt denn auch Jürgen Götte vom Bezirksamt Mitte, wenn er sich die Wegeplanung im Spreebogenpark genauer vornimmt. Zwar hat der verantwortliche Landschaftsarchitekt Weber einen Fußweg für die Überquerer der Brücke vorgesehen, doch verläuft dieser schnurstracks – und eine Straße querend – nach Süden zur Otto-von-Bismarck-Allee, wo die Fußgänger sich dann bitteschön im rechten Winkel nach Osten drehen möchten, um ihren Umweg zum Reichstag fortzusetzen. Für Städte ist es laut Gotte nicht einfach, solche Planungen zu korrigieren, denn Architekten pochten nicht selten auf das Urheberrecht an ihrem Werk und wollten nicht, dass ihr Konzept nachträglich geändert werde.

Allerdings konnte Landschaftsplaner Weber nicht vorhersehen, dass die provisorische „Willy-Brandt-Straße“ Bestand haben würde (siehe nebenstehendes Interview). „Wenn aber ein Provisorium zu einem dauerhaften Zustand wird“, sagt der Sprecher der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Martin Pallgen, „dann muss man damit klarkommen.“ Das Land sehe, dass dieser Trampelpfad „keine schöne Eingangspforte“ ins Regierungsviertel sei.

Deshalb: „In Abstimmung mit dem Bezirksamt Mitte, das zuständig für die Instandhaltung ist, haben wir für den Sommer geplant, den Trampelpfad soweit zu einem Fußweg auszubauen, dass man sicher, trocken und komfortabel darauf laufen kann“, sagt Pallgen. Bei der endgültiger Fertigstellung des Parks werde der Fußweg dann mit einbezogen. Vorausgesetzt, der Landschaftsarchitekt zieht und zeichnet mit.

Quo vadis Fußgänger?

Vorerst also scheint die Abstimmung mit den Füßen Früchte zu tragen. Doch auch diese Lösung wäre wieder ein Provisiorium – wie die „Willy-Brandt-Straße“ als Umgehungsstraße für den längst fertig gestellten Tiergartentunnel. „Jetzt geht es darum, sich mit dem Bund zu verständigen, wie die Verkehrsplanung hier einmal aussehen soll“, sagt Pallgen zum weiteren Verfahren. Das kann dauern.

Viel klüger und billiger wäre es in der Regel, die Wege- und Grünflächenplaner machten erst einmal ein grobes Angebot und schauten dann, wohin das Fußvolk im Einzelnen zu latschen beliebt. Oder sie ließen den Fußgängern buchstäblich den Vortritt. Genau so verfährt man Götte zufolge bei neu zu begrünenden Flächen in Berlin-Mitte: „Wir schauen, wo die Menschen gehen und wo sich die Hauptwege herausbilden.“

Außerdem können Landschaftplaner beim Entwerfen von Wegen in Gärten und Parks mögliche Ziele von Fußgängern aufgrund von Erfahrungswissen identifizieren und so den Wegebedarf ermitteln. Die Leitfrage dabei: Wohin könnten wie viele Menschen von wo aus gehen wollen? Neue U-Bahnhöfe wie der 2009 am Berliner Paul-Löbe-Haus hinzugekommene schaffen an der Erdoberfläche oft auch neuen Wegebedarf.

So zu verfahren setzt aber voraus, in Trampelpfaden hilfreiche Korrekturvorschläge zu sehen – und nicht etwa ein Ärgernis, dem mit amtlich verordneten Barrieren aus Büschen, Holz oder Metall ein Ende bereitet wird. Oder gar mit Verbotsschildern.

Zur Startseite