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Nur wenige Menschen sind in der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße unterwegs. Bund und Länder beraten am Dienstag über die Verlängerung des Lockdowns in Deutschland.
© David Hutzler/dpa

90 Millionen Euro Hilfe für 36 Milliarden Verlust: Handel und Gastronomie klagen über zu wenig Coronahilfen

Die Verlängerung des Lockdowns trifft die gebeutelten Branchen hart - und Hilfe kommt oft zu spät. IW-Chef Hüther fordert eine Anpassung der Einschränkungen.

In vielen Unternehmen steht man derzeit vor einem Gewissens-Spagat. Auf der einen Seite ist jedem klar, dass das Infektionsgeschehen gebremst werden muss. Auf der andere Seite, würde eine Verlängerung des Lockdowns ganze Branchen vor immer größere Probleme stellen. 

Denn wie es derzeit aussieht, dürften die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder am Dienstag beschließen, dass etwa Restaurants, Hotels und der Einzelhandel weiterhin geschlossen bleiben. Mit jedem Tag des Lockdowns werden die Finanzhilfen für betroffene Unternehmen nötiger. Doch gerade hier hapert es gewaltig.

„Der vom Lockdown betroffene Einzelhandel bekommt derzeit kaum staatliche Unterstützung“, sagt etwa Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE), dem Tagesspiegel. So komme die Überbrückungshilfe 3, die einen Beitrag zur Finanzierung der Fixkosten leisten soll, kaum bei den Händlern an und reiche in vielen Fällen bei Weitem nicht aus, um Insolvenzen zu vermeiden. 

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So sagen in einer aktuellen HDE-Umfrage drei Viertel der befragten Händler, dass die Hilfen zu gering ausfallen, um das wirtschaftliche Überleben abzusichern. Zwei Drittel der Innenstadthändler sehen sich demnach aktuell in Existenzgefahr.

„Wirtschaftshilfen verschwindend gering“

Genth belegt diese Einschätzungen mit Zahlen. „Der gesamte deutsche Einzelhandel hat im vergangenen Jahr 2020 Überbrückungshilfen in Höhe von 90 Millionen Euro erhalten“, rechnet er vor. „Der Nonfood-Handel hat jedoch im vergangenen Jahr 36 Milliarden Euro Umsatz durch die Pandemie und die damit verbundenen Schließungen verloren.“ Dem gegenüber stünden insgesamt rund zwölf Milliarden Euro Fixkosten in den betroffenen Unternehmen.

„Wenn man bedenkt, dass jetzt 200.000 Unternehmen vom zweiten Lockdown betroffen sind, ist die Menge der bisherigen Wirtschaftshilfen also verschwindend gering.“ Die Kriterien stimmen laut Genth nicht, der Einzelhandel „geht oft leer aus oder wird mit Summen abgespeist, die nicht weiterhelfen“. Beim HDE geht man davon aus, dass der Lockdown 50.000 Geschäften die Existenz kosten könnte und damit 250.000 Arbeitsplätze in Gefahr sind.

Gerade die großen Firmen bekommen Probleme

In der Gastronomie sieht die Lage nicht viel besser aus. Die Abschlagszahlungen in Höhe von zunächst maximal 10.000 und später bis zu 50.000 Euro waren für Teile der Branche, insbesondere die kleineren Betriebe, wenigstens ein Anfang, heißt es zwar vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga). „Bislang sind aber noch nicht einmal diese Gelder bei allen Unternehmen angekommen“, sagte Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges. „Viele Firmen haben also noch überhaupt nichts erhalten.“

Sie sieht gerade größere Firmen in dieser Krise vor Problemen. „Denen helfen diese Summen überhaupt nicht“, so Hartges. „Die Großen haben hohe Fixkosten und sind zudem ja auch große Arbeitgeber, die Löhne müssen pünktlich gezahlt werden.“ 

Die Erstattung des Kurzarbeitergeldes erfolgt erst einige Wochen später. „Dort sind noch gar keine Hilfen angekommen, das ist völlig inakzeptabel“, schimpft Hartges. Es herrsche maximaler Frust. „Wir erwarten von der Politik, dass die Auszahlung der November- und Dezemberhilfen für alle Unternehmen schnellstmöglich startet, ansonsten sind Insolvenzen vorprogrammiert.“

Bis zu fünf Milliarden Euro Kosten pro Woche

Beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW) bestätigt man diese Schilderungen. „Die Unternehmen leben zunehmend aus der Substanz und – in geringem Maße – von staatlicher Hilfe“, sagte dessen Direktor Michael Hüther dem Tagesspiegel. „Allerdings sind die Überbrückungshilfen wenig wirksam, weil das Bundesfinanzministerium die Zugangshürden so gesetzt hat, dass es kaum zu Auszahlungen kommt.“

Der Ökonom Michael Hüther fordert eine Änderung der Lockdown-Regeln.
Der Ökonom Michael Hüther fordert eine Änderung der Lockdown-Regeln.
© Michael Kappeler/dpa

Der entscheidende Unterschied zum Lockdown im Frühjahr ist aus seiner Sicht, dass die Industrie bislang kaum beeinträchtigt ist; die volkswirtschaftlichen Auswirkungen seien in diesem Fall verkraftbar. „Wenn die Grenzen offen bleiben, die Wertschöpfungsketten und die Weltwirtschaft sich halbwegs stabilisieren lassen, kann das gelingen.“ Doch auch ohne Schäden in der Industrie rechnet Hüther mit Kosten des Stillstands von rund 3,5 bis 5 Milliarden Euro je Lockdown-Woche.

Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hält man eine Verlängerung des Lockdowns dennoch auch aus wirtschaftlicher Sicht unvermeidbar. „Andernfalls wären die wirtschaftlichen Kosten einer lang anhaltenden zweiten Infektionswelle jedoch deutlich höher“, meint DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Gerade angesichts des verspäteten Handelns im Herbst sei eine konsequente Entscheidung nun notwendig.

"Kein Grund für undifferenzierte Lockdown-Beschlüsse"

Hüther findet allerdings nicht, dass der Lockdown zwingend in seiner bisherigen Form weitergeführt werden muss. Schließlich habe man anders als im Frühjahr inzwischen weitere Erkenntnisse über die Infektionsausbreitung gewonnen. 

So haben sich etwa Altersheime als weitaus größere Hotspots erwiesen als etwa der Einzelhandel. „Es gibt evidenzbasiert schon jetzt keinen Grund für undifferenzierte Lockdown-Beschlüsse“, meint er deshalb und fordert, die Impfanstrengungen zu intensivieren.

„Eine weitere Verlängerung des Lockdowns über den Januar hinaus muss unbedingt vermieden werden“, so Hüther. „Das kann gelingen, wenn dann alle Menschen in Alters- und Pflegeheimen geimpft sind und die Alterskohorten über 70 Jahre beschleunigt geimpft werden – das heißt auch Tag und Nacht.“

Schulpolitik ist Wirtschaftspolitik

Damit aber erst mal die nächsten vier Wochen überstanden werden, fordern die Verbände, dass die Förderinstrumente nachgebessert werden. „ KfW-Kredite mit einer Laufzeit von mehr als sechs Jahren werden mit ihrem Nennbetrag als Beihilfe bewertet, obwohl ein Kredit ja nun wirklich nicht dasselbe ist wie eine direkte Finanzhilfe“, nennt Hartges als Beispiel. „Hier gibt es dringenden Korrekturbedarf des EU-Beihilferechts.“ 

Auch der HDE erwartet bessere Hilfestellung von der Bundesregierung. „Der Verweis auf beeindruckend klingend große Zahlen reicht nicht“, so Genth. „Die theoretisch zur Verfügung stehende Unterstützung rettet keinen einzigen Betrieb, das Geld muss bei den Unternehmen ankommen.“

Und auch wenn die Schlagworte Kinderbetreuung und Schulpolitik nicht in erster Linie nach Wirtschaftspolitik klingen, sind die derzeit auch für die Unternehmen von größter Bedeutung. „Wenn Kinder nicht betreut werden können, fallen Mitarbeiter aus. Das kann zu empfindlichen und teuren Störungen in der Industrie führen, wo Homeoffice oftmals nicht möglich ist“, so Hüther. „Die Sicherstellung der Betreuung für jüngere Kinder ist daher auch wirtschaftspolitisch zentral.“

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