Wie ein Kammer-Kritiker die Berliner IHK vorführt: Gerangel um IHK-Wohnheim für Flüchtlinge spitzt sich zu
Soll die Industrie- und Handelskammer ihr altes Arbeiterwohnheim in Berlin für Flüchtlinge zur Verfügung stellen? Ein IHK-Kritiker mobilisiert die Öffentlichkeit.
Wo Uwe Wegner wohnt, wer er ist - und ob er überhaupt wirklich so heißt, bleibt unklar. Doch aus der Art der Formulierung seiner E-Mail an das Vorzimmer von Eric Schweitzer, dem Präsidenten der Berliner IHK und des Dachverbandes DIHK, darf man schließen, dass der Mann nicht ganz bei Trost ist. „Es ist für Sie sicher nicht einfach, in dieser verhärteten Situation Herrn Dr. Schweitzer gegenüber loyal zu bleiben und ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken“, schreibt dieser angebliche Herr Wegner an Schweitzers Büroleiterin beim DIHK. Er an ihrer Stelle hätte längst den Dienst quittiert, schreibt er.
Und an Schweitzer selbst: „Sind Sie – wie von anderen vermutet wird – in Ihrer Eitelkeit getroffen, weil ein aufrichtiges IHK-Mitglied eine Petition gestartet hat? Wollen Sie weiter schweigen und Hunderte Menschen, die ein festes Dach über ihren Köpfen ersehnen, erhoffen und erbeten, ignorieren?“ Sein bisheriges Verhalten in dieser Frage sei „sehr schandhaft und schadhaft für das Ansehen Berlins und Deutschlands in der Welt“, meint der quasi anonyme Absender.
Vordergründig geht es um ein Wohnheim
Es ist nicht klar, ob Schweitzer diese Mail persönlich gelesen hat. Sie ging in CC an den Tagesspiegel. Und nicht nur die: Es dürfte derzeit mehr Schmutz als üblich im Postfach von Schweitzer landen, der im Hauptberuf ja auch noch seinen milliardenschweren Entsorgungs- und Recyclingkonzern Alba leitet.
So sieht er aus, der Wirbel um die um ein stets aufgeräumt wirkendes Erscheinungsbild bemühte IHK. Vordergründig geht es um eine Debatte innerhalb der Kammer. Es geht um die Frage, ob diese ihr seit den 1960er Jahren bestehendes Arbeiterwohnheim in Berlin-Westend dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) als Flüchtlingsunterkunft anbieten soll. Sachlich gibt es objektiv gute Argumente dafür - und dagegen. Aber darum geht es hier nur noch am Rande. Hauptgeschäftsführung und Präsidium der Kammer hatten sich zu dieser Frage lange nicht eindeutig positioniert. Und das sollte sich rächen.
Jungunternehmer Huebner gilt als Rebell
Denn nun nutzen Kammerkritiker innerhalb der gewählten Vollversammlung, dem formal obersten Entscheidungsgremium mit rund 100 Delegierten, diese Frage, um die Kammerspitze vorzuführen. Sie testen aus, inwieweit öffentliche Aussagen der Führung im Realitätscheck bestehen und wie es um demokratische Prinzipien steht in dieser Körperschaft des öffentlichen Rechts. Rund 270.000 Mitglieder hat die Berliner IHK, da jeder Unternehmer, ob er will oder nicht, Mitglied ist.
Die Debatte um das Wohnheim in die Öffentlichkeit getragen hat der Jungunternehmer Christoph Huebner (32). Er ist Mitglied im Bundesverband der freien Kammern (bffk), der sich unter anderem für eine Abschaffung der Zwangsmitgliedschaft in den IHKen stark macht. Huebner hatte sich als Mitglied reformorientierten Berliner Initiative ProKMU bei der letzten Wahl in die Vollversammlung wählen lassen.
Huebner galt, anders als ProKMU-Gründer Oliver Scharfenberg (der sofort der Wahl wieder aus dem Gremium ausgeschieden ist), bisher für die Kammerführung als eher konstruktiv mitarbeitender Kritiker. „Huebner ist clever, sehr aktiv, ein Unternehmer mit Herzblut“, würdigt Hauptgeschäftsführer Jan Eder Huebners Arbeit aus dem Urlaub am Telefon. „Aber er legt auch eine große Selbstdarstellungsmentalität an den Tag und verprellt mit seiner Art dann auch die Mehrheit der Delegierten. Die sind nicht bereit, seine Spielchen mitzumachen.“
Die Kammerspitze respektierte ihn - bisher
Eder hatte Huebner öfter auch im informellen Rahmen angehört, ihm zu verschiedenen Fragen Einblick in interne Dokumente gewährt. Das Verhältnis wurde von beiden Seiten bisher als kritisch, aber sportlich fair, beschrieben. Gilt das auch künftig? „Eine sehr gute Frage“, sagt Eder. Und beantwortet sie nicht.
Auf der Vollversammlungssitzung im Januar forderte Huebner erstmals, dass das besagte Heim mit 60 Wohngemeinschaften und insgesamt 240 Betten dem Lageso als Flüchtlingsunterkunft angeboten wird. Das wurde zunächst abgelehnt. Begründung: Das Lageso würde sich wohl nicht darauf einlassen, das Haus mit einer Kündigungsfrist von nur einem Monat anzumieten. Das ist Praxis bei dem Haus, das seit jeher nur für kurzfristige Unterbringung - etwa für Arbeiter auf Montage - gedacht war. Derzeit ist es vorwiegend an Handwerker und Studenten vermietet. Die müssen bei längerem Aufenthalt jeden Monat einen neuen Mietvertrag unterschreiben. Sie zahlen für ein abschließbares 14 Quadratmeter Zimmer in einer 4er-WG mit geteiltem Bad und Küche 299 Euro.
Der Ex-Chef der IBB unterzeichnete die Petition
Kritiker sagen, die Kammerspitze hätte irgendwann in den letzten Monaten angesichts der sich zuspitzenden Flüchtlingslage von sich aus Huebners alten Vorschlag aufgreifen können und diese Immobilie doch dem Lageso überlassen können - auch mit längerfristiger Kündigungsfrist. Der geplante Verkauf der Immobilie geht seit Jahren nicht voran, die IHK hatte die vergangenen Jahre damit zudem rund 200.000 Euro Verlust geschrieben. Mit der vom Senat bezahlten Miete für Flüchtlinge hätte die Kammer das Heim wohl sogar deutlich wirtschaftlicher betreiben können, sagen Huebner und Co.
Doch von der Kammerspitze kam nichts, also legte Huebner nach. Er startete Mitte August eine Petition, in der er das Präsidium auffordert, „das voll ausgestattete und möblierte 4.000 m²-Wohnheim Reichsstraße“ zur Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Ergebnis bis Dienstagmorgen (25. August 2015): knapp 16.000 Unterzeichner.
Darunter sind sicher nicht nur Mitglieder der IHK-Berlin, sondern auch mutmaßlich völlig unbeteiligte Zeitgenossen. Aber eben auch doch einige Mitglieder der Vollversammlung und etwas prominentere Persönlichkeiten wie zum Beispiel Dieter Puchta. Der war von 2004 bis 2009 immerhin Vorstandsvorsitzender der Investitionsbank Berlin (IBB).
„In welcher Stadt Deutschlands - wenn nicht in Berlin - weiß man, was es bedeutet, unschuldigerweise von Not, Elend und Krieg heimgesucht zu werden. Es geht auch um die Kinder der Flüchtlinge“, erklärt Puchta auf Nachfrage. Und an Schweitzer gerichtet: „Herr Präsident, entscheiden Sie bitte mit dem Herzen und stellen Sie sich an die Spitze einer Wirtschaftsbewegung, die einerseits für UNSERE Flüchtlinge sammelt und spendet und andererseits sofort ihre leerstehenden Wohnungen zur Verfügung stellt!“ Der Umstand, dass das Haus derzeit zu 90 Prozent belegt ist, mit Studenten und Arbeitern, und theoretisch frühestens bis Ende Oktober geräumt sein könnte, ist in dem Wirbel bereits untergegangen.
Das ist nie die Art, die die Kammer schätzt
Internet-Petitionen, Videobotschaften, Telefonate über Interna mit der Presse: Das ist nicht die Art von Öffentlichkeit, die man bei der Berliner IHK schätzt. „Huebner hatte seinen Antrag zum Wohnheim im Januar eingebracht, hat dann aber nie wieder das Gespräch mit uns in der Sache gesucht. Lieber ruft er im Internet zum Protest auf“, kritisiert Hauptgeschäftsführer Jan Eder. „Das macht viele Mitglieder der Vollversammlung sauer. Wir können uns doch nicht so auf der Nase herumtanzen lassen“.
Was das Flüchtlingsthema im Allgemeinen betrifft, hatte sich die IHK-Spitze im Sommer bereits klar positioniert: Die Kammer händigte dem Senat und Pressevertretern umfangreiche Papiere mit ganz konkreten Vorschlägen aus, wie man etwa die bürokratische Odyssee der Flüchtlinge entzerren könnte, auch (und vor allem), um die qualifizierten Asylsuchenden in Arbeit zu bringen und so den Fachkräftemangel zu dämpfen. Und was die konkrete Frage nach der Nutzung des Wohnheims angeht, sagte Hauptgeschäftsführer Eder am Montag: „Ich finde die Idee ja gut. Wir sollten schauen, wie wir Heim für Flüchtlinge bereitstellen können“. Nur könnten weder er selbst noch Präsident Schweitzer an der Vollversammlung vorbei entscheiden. Nur dieses Gremium habe das Budgetrecht.
Eitelkeit oder Profilierungssucht?
Kurzum: Man kann dem Duo Schweitzer oder Eder persönlich schlecht Kaltherzigkeit im Umgang mit Flüchtlingen vorwerfen. Huebner moniert in einer Videobotschaft, als Ergänzung zu seiner Petition, daher auch eher die „Unflexibilität und Eitelkeit“, wie er es ausdrückte - kurz nachdem Präsident Schweitzer einen lange vereinbarten Gesprächstermin zwei Stunden vor Beginn hatte platzen lassen. Kurz zuvor hatte der Präsident erfahren, dass Huebner die Presse eingeschaltet hat.
IHK-Sprecher Leif Erichsen, der die Kohlen nun aus dem Feuer holen soll, verweist in Gesprächen stets auf den 16. September 2015, den Tag der nächsten Sitzung der Vollversammlung. Dort - und nur dort - gehöre die Debatte nach Auffassung der IHK-Führung hin. Auch gebe es keinen neuen Sachstand in der Sachfrage zum Flüchtlingswohnheim. Entsprechend wenig begeistert ist Sprecher Erichsen auch über Berichterstattung des Tagesspiegels, der „Berliner Morgenpost“ oder der „rbb-Abendschau" zu diesem Thema. Er deutet es so, dass sich die Medien von dem IHK-Rebellen haben instrumentalisieren lassen. Huebner hat vor wenigen Monaten eine neue Start-up-Firma gegründet.
Was ist die Öffentlichkeit einer Kammer?
Eine andere Sichtweise lautet: Die Berliner IHK ist eine Institution mit rund 270.000 Mitgliedern, die sich durch rund 100 gewählte Mitglieder in der Vollversammlung vertreten lassen. Warum sollte man annehmen, dass diese Personen alle wichtigen Belange in einer ihrer vier Sitzungen pro Jahr abschließend diskutieren können? Auch Abgeordnete des Deutschen Bundestages treffen Ihre Abstimmungsentscheidungen schließlich nicht allein auf Basis der Reden im großen Sitzungssaal unter der Kuppel.
Meinungsbildung findet weit vorher statt: in den Ausschüssen, Fraktionssitzungen, in Vier-Augen-Gesprächen mit Kollegen und Interessenvertretern - und seit jeher auch im von Medien vermittelten Dialog mit Bürgern. Ist Huebner also der Reformator, der Mann, der 240 vor Krieg und Hunger geflohenen Seelen ein gutes Bett verschafft - und nebenbei der behäbige Rieseninstitution IHK zum Empathie einpflanzt? So wird es mancher sehen.
Andere sehen den Huebner und seine Sympathisanten, die sonst immer sehr auf Basisdemokratie pochen, in diesem speziellen Fall aber erstaunlicherweise argumentieren, dass Schweitzer und Eder auch ohne Befassung der Vollversammlung das Heim dem Lageso bereitstellen könnten. Eder empfiehlt dazu nur einen tieferen Blick in die Geschäftsordnung.
Botschaft vom Handwerkskammerpäsidenten
Die Kammerführung wertet Huebners Drängen in der Sache als Indiz dafür, dass es ihm nicht nur ums Wohl der Flüchtlinge geht. Der weist diesen Gedanken weit von sich. „Das wäre dreist, wenn man mir das unterstellen würde“. Es sei ja dokumentiert, dass er sich bereits seit 2012 mit dem Wohnheim befasse, sagt Huebner. Außerdem könne ja nicht sein, dass man die Flüchtlinge nur nicht ins Wohnheim einziehen lasse, nur weil man ihm Profilierungssucht vorwerfe.
In jedem Fall hat Huebner mit seiner Petition zumindest bei einigen Mitmenschen, nicht nur Ex-IBB-Chef Puchta, den Eindruck erweckt, die IHK interessiere sich nicht für das Schicksal der Flüchtlinge in Berlin - während Persönlichkeiten wie etwa Berlins Handwerkskammerpräsident Stephan Schwarz, seit Jahren ein persönlicher Freund von Schweitzer, sich in der bürgerlich-liberalen Bürgergesellschaft positioniert mit Sätzen wie: „Wir brauchen die Flüchtlinge“. Im Tagesspiegel-Interview sagte er neulich: „Ich mache da übrigens keinen Unterschied: Ob jemand Wirtschaftsflüchtling ist oder „richtiger“ Asylsuchender, der verfolgt wurde“. Jemand, der eine neue Lebensperspektive suche, sei ihm ebenso willkommen, wie ein Mensch aus einem Bürgerkriegsland. Auch Ulrich Weber, Personalvorstand der großen Deutschen Bahn, appellierte erst vergangene Woche an die Unternehmen, sich stärker zu engagieren.
Start-up-Verband und Piraten schalten sich ein
Huebner mobilisiert derweil weiter. So schreibt Egon Dobat, Eigentümer eines Reisebüros und ebenfalls Mitglied der Vollversammlung, dem Tagesspiegel: „Wenn die IHK so ein Wohnheim besitzt, dann ist es legitim, dass ein öffentlich gewähltes Mitglied der Vollversammlung sich Gedanken über die Verwendung macht“. Wenn dann der IHK-Präsident Schweitzer, „der nur als primus inter pares der Vollversammlung vorsteht“, ein lange voraus verabredetes Gespräch mit Herrn Huebner kurzfristig und offensichtlich verärgert absage, so zeuge das von einem „bedauerlichen Demokratieverständnis nach Gutsherrenart“.
Kritik kommt auch von Florian Nöll, dem Vorsitzenden des Vorstands des Bundesverbands Deutsche Startups: Berlin brauche eine echte Willkommenskultur, unabhängig davon ob es darum gehe, Flüchtlinge oder internationale Fachkräfte willkommen zu heißen. „Die Berliner IHK, die eigentlich der Bürokratie in der Berliner Verwaltung Einhalt gebieten sollte, präsentiert sich in der Wohnheim-Frage selbst als vorbildlicher Bürokra“, erklärt Nöll. Die Initiative von Herrn Huebner begrüße er sehr. „Er wurde in die Vollversammlung der Berliner IHK gewählt, um dort die Mitgliederinteressen zu vertreten. Umso unverständlicher ist es für mich, dass die IHK-Führung diese Initiative aus der Mitte ihrer Mitglieder ausbremst.“
Über wem bricht die Welle zusammen?
In Teilen der Landespolitik sieht man die Vorgänge als Posse. „Man merkt, wie die IHK abwinkt, weil sie keine Lust hat, wegen solcher Gruppen als Getriebene dazustehen“, sagt Fabio Reihardt, flüchtlingspolitischer Sprecher der Piraten-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Ihm persönlich gehe es aber weniger um IHK-Kritik als um die Sache: Man müsse auf das Lageso zugehen und müsse das Wohnheim mindestens für drei bis sechs Monate abgeben. „Huebner geht es auch mit dieser Aktion vor allem darum, Sand ins Getriebe der IHK zu streuen“, glaubt Hauptgeschäftsführer Jan Eder. Er gehe davon aus, dass auch dieser Punkt neben auf der nächsten Sitzung der IHK-Vollversammlung am 16. September diskutiert werden dürfte.
Huebner hat mit seiner Mobilisierung der Öffentlichkeit, beginnend mit seiner Online-Petition, eine große Welle gemacht. Wo und und über wem die zusammenbrechen wird, wird man von neutraler Seite so schnell kaum erfahren können: Unabhängige Pressevertreter haben zu den Gremiensitzungen der Kammer traditionell keinen Zutritt.