Fachkräftemangel in der Gastronomie: Endlich geöffnet! Aber jetzt fehlt das Personal
Mit der Öffnung der Außengastronomie stehen viele Betreiber vor einem Problem: Es fehlen Mitarbeiter. Viele haben sich während des Lockdowns umorientiert.
Endlich wieder ein Glas Aperol Spritz an einem Tisch genießen. Oder die Lieblingspizza wieder in geselliger Atmosphäre essen. Mit der Öffnung der Außengastronomie schien ein Seufzer der Erleichterung durch die Straßen Berlins zu hallen, seit einer Woche sind Stühle der Restaurants, Cafes und Bars förmlich dauerbesetzt.
Im ganzen Land erwachen gastronomische Betriebe wieder zum Leben, Landkreis für Landkreis werden Beschränkungen gelockert. Leider verläuft die Wiedereröffnung für viele Gaststätteninhaber:innen weniger reibungslos als erwartet – denn es fehlen die Mitarbeiter:innen.
Sieben Monate Lockdown sind an der Gastronomiebranche nicht spurlos vorbei gegangen. Neben verzögerten Corona-Hilfen und drohenden Schließungen auf der Seite der Betriebe mussten viele Arbeitnehmer:innen mit Kurzarbeitergeld auskommen, das nur einen Teil ihres vorherigen Einkommens deckte. Das Trinkgeld ist oftmals fester Bestandteil ihres Lohns.
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Aushilfen und Minijobber dagegen standen sofort vor dem Nichts. Sie fielen durchs Raster der Hilfen. Das sollen immerhin die Hälfte aller Beschäftigten der Branche sein. An die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit getrieben hat die Situation viele dazu verleitet, der Branche den Rücken zu kehren.
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Es treibt sie in die Impfzentren, zur BVG oder Deutschen Bahn, den Lieferdiensten oder in die öffentliche Verwaltung. Dort lässt sich im Zweifel mehr Geld verdienen, die Arbeitszeiten sind geregelt – man hat vielleicht wieder frei, wenn alle anderen auch frei haben. Warum also zurückkehren?
Auch Steffen Kirchner hat Leute verloren. Der Betreiber des „Loretta am Wannsee“ in Zehlendorf sucht dringend Personal für seinen Biergarten und die zugehörige „Almhütte“. Auf seiner Website sind mehrere Stellen ausgeschrieben: Servicepersonal, Köche, Veranstaltungskaufleute.
Niemand bewirbt sich
„Wir haben die Stellen mehrfach ausgeschrieben, sogar beim Arbeitsamt. Aber es kommt gar nichts, null!“, sagt Kirchner aufgebracht. „Unsere Stammbelegschaft haben wir natürlich behalten, aber in den Sommermonaten arbeiten wir normalerweise mit Saisonverträgen.“
Kirchner klingt frustriert am Telefon. Auch Anfragen für erste Events kommen wieder rein, sogar Weihnachtsfeiern werden schon geplant. „Doch dafür brauche ich die Leute und muss sie jetzt schon einplanen“, sagt er.
Einen deutlichen Rückgang des Gastro-Personals hat auch der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) berechnet. Am 30. September vorigen Jahres zählte die Branche 2.096.724 Beschäftigte. Das sind 352.202 Beschäftigte weniger als zum gleichen Zeitpunkt im Jahr 2019.
Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Gastgewerbe schrumpfte im November vorigen Jahres erstmalig seit 2017 auf weniger als eine Million. Im Februar dieses Jahres sank die Zahl sogar noch auf nur noch 946.200, 12 Prozent weniger als im Vorjahr.
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Einer Umfrage des Dehoga Bayern zufolge sollen 10 bis 15 Prozent der Mitarbeiter:innen der Branche aktuell nicht zur Verfügung stehen. Sie sind abgewandert in andere Branchen oder sogar ins Ausland. Dehoga-Geschäftsführerin Ingrid Hartges spricht davon, dass Konzerne während des Lockdowns gezielt versucht hätten, Mitarbeiter aus der Gastronomie abzuwerben.
„Essen müssen die Leute immer“
Mit offensiven Slogans wie „Bar war gestern“ buhlte die Supermarktkette Lidl im November vorigen Jahres auf ihren Social Media-Kanälen um Mitarbeiter:innen und verärgerte die Branche, die durch die Pandemie in ihren Grundsätzen erschüttert wurde.
Lange galt ein Job in der Gastronomie als absolut krisensicher. „Essen müssen die Leute immer“ schien eine gängige Floskel zu sein, die Beschäftigte und Gewerbetreibende an ihrer Arbeit nie hätte zweifeln lassen.
„Es gilt jetzt mehr denn je, Beschäftigte zu halten und neue zu gewinnen“, sagt Hartges. Die Geschäftsführerin ist überzeugt: „Wer einmal in der Branche mit Leidenschaft gearbeitet hat, der wird auch gerne wieder zurückkommen!“
Gastro-Verband und Gewerkschaft fordern frühere Impfung für Beschäftigte
Dafür brauche es die dauerhafte Öffnung der Betriebe. Die Politik müsse dafür Sorge tragen, der Branche wieder eine Perspektive zu geben und Anreize zu schaffen. Deswegen fordern Dehoga und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Beschäftigte der Branche bei der Impfung in die Prioritätengruppe 3 vorzuziehen – etwa wie Verkaufspersonal im Lebensmitteleinzelhandel.
Von Seiten der Gewerkschaft müsste in der Branche noch wesentlich mehr passieren. „Viele Arbeitgeber sind nicht immer pfleglich mit ihren Beschäftigen umgegangen“, sagt Sebastian Riesner, NGG-Geschäftsführer.
Er erzählt von schlechten Arbeitsbedingungen, fehlender Sozialkompetenz der Vorgesetzten und damit ausbleibender Wertschätzung für die Mitarbeiter:innen. Die Arbeitszeiten sind meist wenig familien- und freizeitfreundlich. „Und das alles zum kargen Lohn“, schließt Riesner.
Ungelernte Hilfskräfte finde man vielleicht schnell wieder, Studierende beispielsweise suchen regelmäßig nach Nebenjobs. Das Hauptproblem liege bei gut ausgebildeten Fachkräften. „Die orientieren sich nämlich langfristig um“, sagt Sebastian Riesner.
Seit Anfang des Jahres verlassen der Gewerkschaft zufolge zunehmend Kräfte aus dem mittleren Führungsmanagement und der Verwaltung die Branche. Personal aus der Gastronomie sei gefragt, erklärt der NGG-Geschäftsführer. Gut ausgebildet, belastbar, flexibel. „Die werden mit Kusshand genommen.“ Manche arbeiten vielleicht das erste Mal zu einem ordentlichen regelmäßigen Lohn. Für Riesner steht fest: „Die kommen nicht mehr zurück.“
Auch der Nachwuchs hat wenig Lust auf diese Bedingungen. Riesner zufolge verlassen 50 Prozent der Ausgebildeten nach drei Jahren wieder die Branche. Laut Berechnungen des Dehoga ist die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im vorigen Jahr um 24 Prozent im Vergleich zu 2019 gesunken. Riesner meint: „Die fehlen dann in zwei bis drei Jahren auf dem Arbeitsmarkt.“
Den verbliebenen Auszubildenden fehlt es wegen der Schließungen jetzt zum Teil an Praxiserfahrung. Das berichtet Daniel Schade, Vizepräsident des Verbands der Köche Deutschland (VKD). Er engagiert sich in Lehrgängen der Dehoga für Köche in Ausbildung.
Der Nachwuchs bangt um die Zukunft der Branche
Darin bereitet er die jungen Azubis auf die Prüfungen vor, übt einige handwerkliche Griffe, die in den letzten Monaten zu wenig ausgeführt wurden. Das bessere sich mit den Öffnungen, aber Schade fürchtet Bildungsdefizite: „Die werden sich in einigen Jahren zeigen.“
Zudem breiten sich Zukunftsängste in den Köpfen des Nachwuchs aus. Der ein oder andere habe sich schon nach Alternativen umgesehen. Ausgelernte Kräfte kochen jetzt in Krankenhäusern oder Firmenkantinen. Dabei werden Köche:Köchinnen in Deutschland händeringend gesucht, schon vor der Pandemie.
Auch hier ist ein grundlegendes Problem die mangelnde Anerkennung und der schlechte Lohn. Jetzt mit der größeren Knappheit könnten viele gelernte Köche deutlich mehr verlangen, aber für eine nachhaltige Verbesserung bräuchte es einen grundsätzlichen Wandel. „Ansonsten gehen die Leute eben in die Schweiz, wo die deutsche Ausbildung viel wert ist“, sagt Schade.
Auch Loretta-Betreiber Steffen Kirchner glaubt, viele finden die Arbeit in der Gastronomie nicht mehr lukrativ. „Die Pandemie hat das Denken verändert. Die Menschen wollen oft auch weniger arbeiten, eher 20 bis 30 Stunden in der Woche.“ Wochenend- oder Schichtarbeit passt nicht in dieses neue Lebenskonzept.
Aufgrund des Mangels muss Kirchner diese Wünsche stärker berücksichtigen. „Die Betriebe müssen sich jetzt auch bewegen, wenn sie neue Mitarbeiter gewinnen wollen.“
Gewerkschaftsgeschäftsführer Riesner fordert ein strukturelles Umdenken in der Branche: „Menschen in der Gastro müssen von ihrer Hände Arbeit leben können, ohne Schwarzgeld und nach Tarifvertrag.“
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