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Fernsehkoch Kolja Kleeberg legt mit Grundschulkindern aus Schöneberg einen Kräutergarten an.
© Kitty Kleist-Heinrich

75 Visionen für Berlin – Folge 40: Lecker allein genügt beim Essen nicht mehr

Wie Berlin und Brandenburg nachhaltige Ernährung vorantreiben und eine Vorreiterrolle einnehmen können. Ein Gastbeitrag.

Die Megatrends Gesundheit, Digitalisierung und Nachhaltigkeit definieren unsere Ernährung grundlegend neu. Die Metropolregion Berlin-Brandenburg hat das Zeug dazu, bei dieser Entwicklung eine Vorreiterrolle einzunehmen. Doch wenn das gelingen soll, müssen wir Produktion, Handel, Gastronomie und die Vermittlung von Ernährungswissen zusammen denken.

Digitale Technologie treibt den Wandel voran. Die Ernährungswende ist bereits in vollem Gange in unserer Region. Ein Beispiel: Das meistbestellte Mittagessen im Restaurant My Goodness Berlin ist mit Kurkuma gerösteter Blumenkohl, dazu Rote Beete-Süßkartoffel-Linsen-Salat und Paprika-Hummus. Ein gesundes und nachhaltiges Gericht.

Der Erfolg von Mittagslokalen wie diesem, Beets & Roots oder Goodbank sowie Initiativen wie der Markthalle Neun, den Prinzessinnengärten oder dem Projekt Kantine Zukunft zeigt, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die Menschen unter „lecker“ ausschließlich „satt“ und „billig“ verstanden.

Doch natürlich gibt es auch immer noch genug Gegenbeispiele. Etwa für eine völlig aus der Zeit gefallene Ernährungsweise, wie das „Toast Hawaii“. Dieser Snack ist der Inbegriff des industrialisierten und globalen Food-Wahnsinns der vergangenen Jahrzehnte.

Er besteht aus ungesundem Hybridmehl und einem Übermaß an Fett. Obendrauf eine Ananas, die vermutlich mehr Kilometer geflogen ist als so mancher Flugbegleiter. Eine bizarre Speise, die den menschlichen Kreislauf ebenso schädigt wie das Weltklima.

Gastautorin Simone Frey von Nutrition Hub.
Gastautorin Simone Frey von Nutrition Hub.
© Sebastian Gabsch
Gastautor Christian Hamerle.
Gastautor Christian Hamerle.
© Studioline Photograph

[Gastautorin Simone Frey ist promovierte Ökotrophologin und Gründerin von Nutrition Hub, einem ThinkTank für Ernährung, der gleichzeitig auch eine Experten-Community ist. Gastautor Christian Hamerle ist Digitalisierungsexperte und Leiter des Food Service Innovation Labs von Dussmann. Der gebürtige Wiener arbeitete auch für die Sternegastronomie.]

Statt solcher Fehlentwicklungen brauchen wir in Berlin und Brandenburg gesunde und nachhaltige Lebensmittel: sowohl im Handel als auch in der Gastronomie. An jeder Ecke sollte es Lokales und Saisonales aus biologischem Anbau geben. In Mittagslokalen, Supermärkten, Biergärten und auch Ghost Kitchens, also Restaurantküchen, die für Lieferdienste produzieren.

Die Verbraucher:innen sollten ihre Mahlzeiten genießen können in dem Wissen, dass jeder Bissen etwas für ihre Gesundheit tut, den Geist inspiriert und den Muskeln Kraftstoff liefert. Gleichzeitig sollte die Ernährung lokale Erzeuger stärken und dem Klimawandel entgegenwirken. Dieses Bewusstsein für Ernährung müssen wir den Menschen von Klein auf beibringen.

[Lesen Sie alle bisher erschienen Beiträge unserer Serie "75 Visionen für Berlin" hier.]

Berliner und Brandenburger Kindergärten und Schulen brauchen Bildungsprogramme zu vollwertiger Ernährung und Gesundheit. Die Berliner Ernährungsstrategie sieht zwar bereits vor, dass die Kinder Bauernhöfe besuchen, Kräutergärten anlegen und selbst kochen sollen. Doch das reicht nicht! Ernährungsbildung muss konkretes Grundlagenwissen vermitteln. Die Kinder müssen zum Beispiel lernen, warum die Ballaststoffe in Linsen Futter für unsere Darmbakterien sind und warum sie uns damit gute Laune bereiten.

Das Ernährungswissen können wir spielerisch und mit digitalen Tools vermitteln. Gleichzeitig sollten die Kinder direkt in ihrer Kita- oder Schulkantine lernen, welche Nährstoffe sie über ihr Mittagessen aufnehmen und was diese im Körper bewirken. Die Betreiber:innen der Kantinen werden so zu Bildungsbeauftragten. Auch Erwachsene sollten lernen, welche Ernährung gesund und nachhaltig ist.

Eine App könnte personalisierte Rezeptvorschläge machen

Dazu muss der Handel eingebunden werden. Ein Vorbild dafür könnten die „Retail Dietitians“ in den Vereinigten Staaten sein. Das sind spezielle Ernährungsexpert:innen, die in Supermärkten Fragen der Einkaufenden beantworten und darüber hinaus Inspirationen zur Umstellung des persönlichen Speiseplans liefern. Die Technologie bietet weitere Möglichkeiten.

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Denkbar wäre zum Beispiel eine App, eine „Berliner Ernährungskarte“, die Rezeptvorschläge macht auf Grundlage des derzeitigen Ernährungsverhaltens und der persönlichen Ziele. Eine solche Software könnte den Einkauf analysieren und dann transparent aufzeigen, ob wir ausreichend Nährstoffe im Einkaufswagen haben.

Sie könnte Punkte vergeben für jedes lokale und klimaneutrale Produkt. Auch beim Essen in Restaurants könnten Nährstoffe und Klimapunkte automatisch in einem persönlichen Ernährungskonto erfasst werden.

Technologie ist der Schlüssel für mehr ökonomische Qualität in der Gastronomie

Doch wenn der ganzheitliche und technologiebasierte Wandel gelingen soll, darf er nicht auf der individuellen Ebene stehenbleiben. Die Direktvermarktung von Lebensmitteln findet jetzt schon über Plattformen wie Marktschwärmer, Stadtfarm oder Pielers statt, muss aber noch weiter ausgebaut werden.

Technologie ist auch der Schlüssel für mehr ökonomische Qualität in der Gastronomie. Wir können zeitraubende Vorgänge wie etwa die Buchhaltung unserer Restaurants mit Software automatisieren, ebenso die Lagerwarenwirtschaft, das Rechnungswesen und die Datenanalyse. Die Digitalisierung sorgt dafür, dass Köche und Köchinnen wieder mehr Zeit für Kreativität haben.

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Die Außer-Haus-Verpflegung kann sich durch eine nahtlose Digitalisierung vom Acker bis zum Teller von dem immer größer werdenden Preisdruck emanzipieren. Wenn die gesammelten Daten dann direkt in die bereits erwähnte „Berliner Ernährungskarte“ einfließen, profitieren wiederum die Verbraucher:innen davon. Kann das alles Realität werden? Berlin ist mit der 2020 verabschiedeten Berliner Ernährungsstrategie schon auf einem guten Weg.

Nachhaltige Ernährung lässt uns im Durchschnitt zehn Jahre länger leben

Brandenburg folgt seit Februar 2021 den Empfehlungen des Brandenburger Ernährungsrats für ein regionales, nachhaltiges und sozial gerechtes Ernährungssystem. Die Ziele sind gesetzt, und die Fakten sind eindeutig: 20 Prozent der vorzeitigen Todesfälle sind ernährungsbedingt und lassen sich verhindern.

Eine gesunde und nachhaltige Ernährung lässt uns im Durchchnitt zehn Jahre länger leben. Außerdem reduziert sie den individuellen ökologischen Fußabdruck um bis zu 73 Prozent. Berlin und Brandenburg haben jetzt die Chance, Technologien in diese Strategien einzubringen, bevor es Amazon und Co. tun. Fördern wir Unternehmen, die dem Menschen und dem Planeten dienen, um diesen Wandel voranzutreiben.

Simone Frey, Christian Hamerle

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