Nach dem Bund-Länder-Gipfel: Wie lässt sich der weiterhin knappe Corona-Impfstoff gerecht verteilen?
Mit dem Impfstoff müsse man klug haushalten, sagt Bayerns Ministerpräsident Söder. Nicht alle Ansprüche können sofort befriedigt werden.
Impfgipfel klingt nach einer drögen technischen Veranstaltung. Doch vor dem Videotreffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten am Donnerstag ist der Tonfall stellenweise gereizt. „Umgang mit unrealistischen Ankündigungen von BM (Bundesminister Jens) Spahn und hoher Erwartungshaltung“, notieren die SPD-Länderchefs in einem Katalog der Themen, die sie abgehandelt sehen wollen.
Spahn wünschte sich im Gegenzug einen „Gipfel der Zuversicht“. Am Ende brauchte er selbst davon mehr als ihm lieb sein dürfte. Für Kinder und Jugendliche, so beschloss es die Runde, soll es beim Impfen keine Sonderbehandlung geben und vor allem - keine Sonderration. Denn die gesamte Impfkampagne steht gerade vor einem alten Problem in neuem Gewand: Impfstoff ist und bleibt noch länger Mangelware.
Das Mengenproblem
Die aktuellen Lieferungen reichen nicht aus, um alle Ansprüche befriedigen zu können. Das liegt vor allem daran, dass die Ansprüche wachsen. Eigentlich hat die Impfkampagne im zweiten Quartal deutlich an Fahrt aufgenommen. Mehr als 34 Millionen Menschen haben nach Angaben des Robert-Koch-Instituts mindestens eine Impfdosis erhalten. Das sind 41,5 Prozent der Bevölkerung.
Doch wenn zum 7. Juni bundesweit die Priorisierung in der Impfreihenfolge endet, wird noch lange Zeit nicht so viel Impfstoff vorhanden sein, dass es für schnelle Termine für jedenreicht. Es gebe „keinen Überfluss“ an Impfstoff, einige Lieferungen seien sogar wackelig, sagt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). „Wir müssen klug haushalten.“
Hinzu kommt, dass in den nächsten Wochen in den Impfzentren und Arztpraxen mehr Zweitimpfungen als Erstimpfungen anstehen. So erfreulich das für alle ist, die nach der zweiten Spritze den vollen Impfschutz erlangen, bedeutet es für andere, dass sie länger warten müssen. In einzelnen Ländern werden sogar zugesagte Ersttermine verschoben, um Zweittermine nicht zu gefährden.
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Bis Ende Juni sind nach Angaben des Gesundheitsministeriums noch weitere 32 Millionen Impfdosen von den vier Herstellern Biontech/Pfizer, Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson angekündigt. Das sind etwa genau so viele Dosen, wie seit Anfang April geliefert wurden. Für das dritte Quartal gibt es bisher kaum feste Zusagen. Nur Moderna hat für die ersten drei Juliwochen jeweils gut 730.000 Dosen in Aussicht gestellt.
Für den gesamten Zeitraum des dritten Quartals, also von Juli bis Ende September, erwartet die Bundesregierung gleichwohl mehr als 135 Millionen Dosen Impfstoff. Das sind allerdings nur Schätzungen, die auf den Verträgen beruhen, welche die EU mit den einzelnen Herstellern geschlossen hat. Die bisherige Erfahrung zeigt jedoch: Abweichungen sind jederzeit möglich.
Damit es angesichts der relativen Mangelverwaltung nicht zu Streit über eine unfaire Verteilung des Impfstoffs kommt, soll es in der letzten Juniwoche Ausgleichslieferungen für manche Bundesländer geben, darunter auch Berlin. Ende März hatten Länder wie das Saarland oder Sachsen eine Sonderlieferung erhalten, um in Grenzregionen zu Nachbarländern mit hohen Inzidenzen schneller impfen zu können. Nun soll es im Gegenzug für die anderen einmalig mehr Impfstoff geben. Für Berlin sind das 17.550 Dosen.
Die Strategiefrage
Bisher war eine Grundsatzfrage der Pandemiebekämpfung eindeutig geklärt: Deutschland impft vorrangig die Menschen, die das Coronavirus am meisten gefährdet – Alte und Kranke zuerst. Die Alternativstrategie, mutmaßliche Hauptverbreiter zuerst zu immunisieren, wurde schon deshalb nie verfolgt, weil sich diese Gruppe kaum sauber abgrenzen ließ.
Doch in der Debatte um Kinderimpfungen spielte sie plötzlich wieder eine Rolle. Denn unter Kindern und Jugendlichen ist die Inzidenz aktuell höher als unter Erwachsenen. Die Jüngeren zu impfen, könnte also helfen, das Infektionsgeschehen insgesamt zügiger einzudämmen.
Doch letztlich entschied sich der Impfgipfel gegen einen solchen Strategiewechsel. Kinder werden behandelt wie Erwachsene. Vorrangig geimpft werden sollen sie genau wie andere Risikopatienten nur bei einer Vorerkrankung, wenn - was sich abzeichnet - die Ständige Impfkommission (StIKo) das so empfiehlt.
Die Risikofrage
Die Frage, ob Kinder und Jugendliche geimpft werden, wird sich bald ganz konkret stellen. Schon an diesem Freitag könnte die europäische Arzneimittelagentur EMA über den Antrag der Hersteller Biontech und Pfizer entscheiden, deren Corona-Impfstoff auch für Kinder im Alter von zwölf bis 15 Jahren zuzulassen. Sobald die Priorisierung in der Impfreihenfolge am 7. Juni fällt, können sie einen Impftermin ausmachen. Das Gesundheitsministerium schätzt, dass von den 5,3 Millionen Zwölf- bis 18-Jährigen knapp 3,2 Millionen impfbereit wären.
Doch die StIKo wird wohl keine allgemeine Impfempfehlung aussprechen, sondern nur eine Liste von Krankheiten erstellen, bei denen Impfung angeraten wäre. Die Vorsicht ist damit begründet, dass Kinder ein besonderes Schutzbedürfnis haben. Sie seien keine „kleinen Erwachsenen“, argumentieren Mediziner.
Und die Datenlage ist dünn. Daran stört sich offenbar die Stiko ebenso wie die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, die sich gegen eine generelle Empfehlung des Impfstoffs ausspricht. Gesunde Kinder und Jugendliche hätten nur ein „minimales Risiko“ für schwere Verläufe. Zum Nutzen der Impfung gebe es bisher „keine validen Daten“, argumentiert die Fachgesellschaft. Der bei der Europäischen Arzneimittelagentur vorliegende Zulassungsantrag beruhe auf den Daten einer noch nicht abgeschlossenen Studie mit insgesamt 2260 Kindern.
Zwingend erscheint das Impfen von Kindern aus dieser Sicht nicht - und auch faktisch will die Politik ausdrücklich keinen Druck aufbauen. Kanzlerin Merkel versuchte nach dem Impfgipfel ausdrücklich die Sorge auszuräumen, dass etwa Präsenzunterricht nach den Sommerferien nur Schülern mit Impfpass vorbehalten sein könnte. Ein sicherer Schulbetrieb werde auch in Zukunft unabhängig sein von der Frage, ob ein Kind geimpft sei oder nicht. Gleiches gelte für den Urlaub in Deutschland oder in Europa. „Es soll kein indirekter Impfzwang entstehen“, betonte Merkel.
Die Frage der Verantwortung
Im Verlauf der Pandemie, sagt Christian Drosten, komme jetzt „eigentlich eine der schwierigsten Phasen überhaupt für die Politik, das Ganze zu navigieren“. Der Virologe von der Berliner Charité ist als Experte vom Parlamentarischen Begleitgremium des Bundestags für die Covid-19-Krise eingeladen. Drosten meint die Abwägung zwischen Vorsicht und Freiheiten. Aber die Prognose gilt genauso für die Impfkampagne.
Solange die in den zurückliegenden Wochen gut voranschritt, blieb es auch an den politischen Fronten ziemlich ruhig. Aber im Moment kommen viele Probleme zusammen, die für Unmut sorgen. Länder sagen Impftermine ab, weil sie befürchten, nicht genug Impfstoff für die Zweittermine zu haben. Hausärzte sehen sich schon jetzt, vor dem Ende der Priorisierung in einer Woche, mit dem Ansturm von Impfwilligen überfordert.
Auf der SPD-Themenliste stehen sogar bisher rein theoretische Probleme: Was, wenn Senioren im Herbst eine erste Auffrischimpfung brauchen, während andere Bürger noch nicht mal den ersten Piks bekommen konnten?
Die Antwort weiß kein Mensch, weil völlig unklar ist, wie lange der Impfschutz vorhält. Die Frage ist denn auch eher ein Indiz für den Versuch von Landespolitikern, die Verantwortung für jede erdenkliche Panne schon vorab beim Bund abzuladen. Spahn reagiert denn auch verschnupft auf Versuche von Länderseite, sogar noch die Zuteilung für Betriebsärzte bundesweit tätiger Firmen auf die Dosis genau so abzurechnen, dass bloß keine Ampulle im falschen Land landet: „Im Moment ist mir das zu viel Schauen, wer bekommt was.“
Probleme bei der Organisation
Auch wenn die Impfmaschinerie läuft, drohen mit jeder Phase der Impfkampagne zahllose neue Organisationsprobleme. Ein Beispiel: Schon jetzt nehmen rund 65000 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte Impfungen vor, ab dem 7. Juni sollen die Betriebsärzte hinzukommen.
Auch für sie sind die zur Verfügung stehenden Impfstoffmengen anfangs noch begrenzt, von maximal 804 Impfdosen in der ersten Woche war bisher die Rede. Während große Unternehmen ihre eigenen Impfstraßen aufbauen, lohnt sich das für kleinere Betriebe kaum. In Nordrhein-Westfalen wird deshalb beispielsweise darüber nachgedacht, dass Handwerksbetriebe auch die Impfzentren nutzen können.
Ein Nebeneffekt der Ausweitung der Impfkampagne ist, dass die „Buchhaltung“ erschwert wird: So ließen sich die Impfdosen nicht mehr exakt der impfenden Struktur zuordnen, heißt es in einem Bericht des Gesundheitsministeriums für den Impfgipfel. Etwa weil Hausärzte auch als Betriebsärzte tätig seien. Das klingt wie eine Lappalie. Aber, auch das hat der Impfgipfel gezeigt: Zu Klagen über angebliche Ungerechtigkeit reichen im Wahlkampfjahr Kleinigkeiten aus.
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