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Soziale Ungleichheit: Einkommenskluft so groß wie seit 50 Jahren nicht

OECD-Studie: In den vergangenen 20 Jahren schwanden sehr viele Jobs in der Mitte der Gesellschaft. Die Spaltung des Arbeitsmarkts nimmt auch in Deutschland zu.

Den Firmen geht es so prächtig, dass sie neue Mitarbeiter einstellen, die sinkende Arbeitslosenquote wird jeden Monat noch ein bisschen mehr bejubelt als das Mal zuvor – und doch sorgen sich viele Menschen, finden das Leben in Deutschland ungerecht.

Eine Erklärung dafür liefert nun eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) über die Arbeitsmärkte der 34 Industriestaaten: Während zwischen 1995 und 2015 neue Arbeitsplätze im Hoch- und Niedriglohnsektor entstanden, schwanden sie in fast allen Ländern in der Mitte der Gesellschaft – der Rückgang liegt bei fast acht Prozent. Der Arbeitsmarkt besteht also zunehmend aus zwei Gruppen, gut bezahlten Akademikern und Spezialisten einerseits und einer verunsicherten und schlechter bezahlten Unterschicht andererseits. Mit immer weniger Raum dazwischen.

Neun Prozent der Jobs sind bedroht

Ein Grund sei der technologische Fortschritt, der Routinetätigkeiten mit mittlerer Qualifikation wie etwa von Facharbeitern in der Industrie oder Sachbearbeitern in der Verwaltung überflüssig mache. Ein anderer ist der Strukturwandel vom verarbeitenden Gewerbe hin zu Dienstleistungen. „Viele Fabrikarbeiter haben schlechter bezahlte Dienstleistungsjobs annehmen müssen“, heißt es in der Studie. Dass die Globalisierung Einfluss auf diese Entwicklung hat, konnten die Autoren der Studie nicht belegen.

Für die kommenden Jahre prognostizieren sie, dass weitere neun Prozent der Arbeitsplätze in den OECD-Ländern automatisiert werden könnten, 25 Prozent könnten sich massiv verändern. Die OECD empfiehlt aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Kurzarbeitprogramme für Krisenzeiten – und rief zu forcierter Weiterbildung der Beschäftigten auf.

Ungerechtigkeitsgefühle seien berechtigt

Mit dem Wandel der Beschäftigungsformen veränderten sich auch die Einkommen. Den Daten der OECD zufolge stieg das durchschnittliche verfügbare Einkommen der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung im OECD-Raum auf über das Neunfache des Einkommens der ärmsten zehn Prozent. Vor einem Vierteljahrhundert war es siebenmal so hoch. „Die Einkommensungleichheit ist beispiellos im Moment und gefährdet den sozialen Zusammenhalt“, sagte OECD-Generalsekretär Ángel Gurría am Dienstag bei der Vorstellung der Studie. Laut OECD ist die Kluft zwischen dem, was die Reichen und Armen verdienen, auf dem höchsten Stand seit 50 Jahren.

Der Bericht bescheinigt dem gesamten OECD-Raum eine Erholung der Arbeitsmärkte. Die Beschäftigung erreiche langsam wieder das Niveau vor der weltweiten Finanzkrise. Deutschland schneidet überdurchschnittlich gut bei der Beschäftigungsquote und Einkommenshöhe ab. Gleichwohl kritisiert die OECD, dass das Lohnwachstum trotz des überall beklagten Fachkräftemangels verhalten geblieben sei. Die Einstiegslöhne für Zuwanderer seien niedrig, vor allem ältere Arbeitnehmer und Frauen hätten oft nur schlecht bezahlte Minijobs.

Als weitere Schwächen nennt der Bericht einen höheren Anteil von Jobs mit starkem arbeitsbedingtem Stress sowie eine große Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen. „Letztere rührt vor allem daher, dass Frauen weniger Arbeitsstunden aufweisen als Männer“, heißt es. Die Organisation rät zu einer niedrigeren Besteuerung von Zweitverdienern und zu flächendeckenden Angeboten für Ganztagsbetreuung von Kindern. Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit am Arbeitsmarkt hält die OECD für berechtigt. „Der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter mit niedrigen Einkommen ist höher als in Frankreich oder der Schweiz und doppelt so hoch wie in Island.“

Nahles wirbt für persönliches Erwerbstätigenkonto

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zeigte sich trotz der Kritik und Warnungen optimistisch, „dass der Transformationsprozess der Digitalisierung und Globalisierung gut gemeistert werden kann“. Die Zeit sei aber knapp, und es ginge nicht immer „ohne Ruckeln“. Linke-Chef Bernd Riexinger meinte, die Aussage verhöhne die Betroffenen und ihr Schicksal.

Die Analyse bestärke Nahles außerdem darin, Ansätze wie ihr persönliches Erwerbstätigenkonto weiter voranzubringen. Damit würde Nahles „Beschäftigten gern ein Kontingent an staatlich bezahlter Auszeit mitgeben, etwa für eine Weiterbildung oder eine Gründung“. Gurría lobte die Idee. Vorgeschlagen hatte Nahles sie schon Ende November. Nach den Plänen der Ministerin soll jedem über 18-Jährigen, der eine Arbeit aufnimmt, ein Guthaben von 20 000 Euro zur Verfügung stehen.

Marie Rövekamp

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