Talanx-Konzernvorstand im Interview: "Die Digitalisierung kann das Leben verlängern"
Der Talanx-Konzernvorstand Jan Wicke über den Abbau von 930 Stellen, Schadensmeldungen per App, und den gläsernen Kunden. Ein Interview.
Herr Wicke, die Versicherer haben die Digitalisierung lange verschlafen, erhöht das jetzt den Druck?
Das Digitalisierungstempo in der Wirtschaft orientiert sich am Nutzen für den Kunden. Das ist bei Versicherungen etwas anders als bei Google oder Spotify, wo sich größere Vorteile unmittelbar erschlossen haben. Man ging bisher nicht zu einer Versicherung, nur weil man mit diesem Versicherer digital kommunizieren kann. Aber jetzt kommt der Wandel mit Wucht.
Warum?
Unsere Kunden werden digitaler. Und: Die Digitalisierung bietet Chancen für besseren Service und auch für neue Geschäftsideen.
Was heißt das konkret?
Wir hatten ja kürzlich die Unwetter in Berlin. Unsere Kunden müssen nicht in der Warteschleife am Telefon hängen, sondern sie können die Schäden per App melden und Fotos schicken. Man sieht jederzeit, wie der Stand der Bearbeitung ist, und die Abwicklung geht deutlich schneller. Dieser Service kommt bei den Kunden gut an. Daneben eröffnet die Digitalisierung uns neue Geschäftsmodelle, etwa die Absicherung gegen Cyberrisiken. Das ist ein ganz schwieriges Feld, aber der Markt wächst stark.
Werden Sie auch angegriffen?
Ja, wie jedes andere große Unternehmen auch zählen wir rund 40 000 Cyberangriffe im Jahr, meistens aus dem Ausland. Datensicherheit ist ein Mega-Thema.
Verändert die Digitalisierung die Produkte?
Die Digitalisierung verändert die Risikobewertung und die Preise der Policen. Das betrifft etwa die Autoversicherung. Die vielen eingebauten Assistenzsysteme verhindern Unfälle, aber wenn dann doch mal ein Unfall passiert, ist der Schaden höher. Früher hat es 1000 Euro gekostet, eine Stoßstange auszuwechseln, heute sind es wegen der darin eingearbeiteten Sensoren 2500 Euro.
Und was heißt das für den Preis der Autoversicherung?
Der positive Effekt auf die Schadenfrequenz überwiegt den Anstieg der Schadenkosten leicht. Deshalb ist die Autoversicherung über die Jahre günstiger geworden.
Gibt es auch Beispiele, wo durch die Digitalisierung die Preise höher werden?
Rentenversicherungen könnten teuer werden. Denn die Digitalisierung kann unser Leben verlängern, wenn sie gesundheitsbewusstes Verhalten fördert und die Effektivität der Medizin erhöht. Dazu gibt es zahlreiche Ansätze, teilweise noch in den Kinderschuhen. Intelligente Kleidung kann den Puls messen und Gesundheitstipps geben. Ärzte werden Medikamente deutlich besser und individueller dosieren können. In Kalifornien gibt es Sensorik-Pillen, die man schluckt und die per App melden, wie das Medikament im Körper wirkt und ob die Dosis stimmt.
Für viele ist das eine Horrorvorstellung. Soll meine Versicherung wirklich erfahren, wie hoch mein Puls ist?
Grundsätzlich können wir Versicherungen mit und ohne diese Daten kalkulieren. Der wichtigste Grundsatz lautet: Der Kunde entscheidet, ob er seine Daten preisgeben möchte – und dafür einen Nutzen bekommt – oder ob er das nicht will. Wir haben bei uns in der Autoversicherung deshalb eine Zwischenform geschaffen. Wir haben einen Telematik-Tarif, der vorsichtiges Fahren belohnt. Eine Variante ist: Nicht wir bekommen die Daten, sondern ein Dritter, eine App namens Tanktaler. Die geben dann Tankgutscheine oder ähnliche Belohnungen an den Kunden. Dessen Privatheit ist gewahrt, und er wird trotzdem belohnt, wenn er durch vorsichtiges Fahren die Schadenwahrscheinlichkeit senkt. Ich finde, so sollte auch die Datenschutzregulierung laufen: Nicht neue Ansätze verbieten, sondern den Kunden entscheiden lassen.
Aber wie weit ist es mit der Entscheidungsfreiheit her, wenn sich solche Modelle durchsetzen und sich nur einige, wenige Kunden verweigern? Gelten diese Menschen nicht automatisch als schlechte Risiken?
Wenn die meisten Menschen ihre Daten preisgeben und einige tun das nicht, werden sie einen schlechteren Preis bekommen als die anderen, weil wir nicht ihrem Bedarf entsprechend tarifieren können. Wir sind aber erst am Anfang der Entwicklung. Noch agiert die Mehrheit konventionell.
Nutzen viele Ihrer Kunden Ihren Telematik-Tarif?
Die Akzeptanz von Telematik-Tarifen ist generell in Deutschland nicht so hoch. Das liegt aus meiner Sicht an zwei Dingen. Einerseits sind wir in Deutschland vorsichtiger, was die Weitergabe von Daten angeht. Andererseits ist der Preisvorteil eines Telematiktarifs gegenüber der konventionellen Tarifierung nicht so ausgeprägt wie etwa in Italien, weil die Autoversicherungstarife bei uns unglaublich ausdifferenziert sind. Wenn Sie alle Kombinationen nehmen, kommen wir auf 90 Millionen unterschiedliche Tarifvarianten. Da gibt es keine großen Anreize, Geld für Überwachungssysteme auszugeben und sein Auto für einen Telematik-Tarif nachrüsten zu lassen.
In Ihrer Autoversicherung sind die Preise nicht festgeschrieben, sondern verändern sich wie an der Börse. Was soll das?
Es gibt keinen Bereich, in dem der Wettbewerb so hart ist wie im Neugeschäft in der Autoversicherung. Hier können wir im Direktgeschäft in Sekundenschnelle unsere Preise verändern, wenn der Wettbewerb es erfordert. Wir wollen dadurch auch eine gesunde Mischung von Risiken in unserem Versicherungsportfolio erzielen, um diversifiziert zu sein. Das senkt die Kapitalkosten und gibt uns Spielräume, diesen Vorteil im Preis an unsere Kunden weiterzugeben.
Wie geht das?
Angenommen, wir möchten mehr Autos in unserem Bestand, die typischerweise von vorsichtigen Fahrern gehalten werden und wenig Schäden produzieren, dann können wir die Tarife dieser Autoklasse billiger machen und auf bessere Risikostreuung hoffen. Das variable Pricing erlaubt uns zudem individualisiertere Angebote. Je mehr Daten wir haben, desto passendere Preise können wir unseren Kunden anbieten – natürlich unter Berücksichtigung des Datenschutzes.
Was können Kunden sparen, wenn sie eine Niedrigpreisphase erwischen?
Wir haben im letzten Jahreswechselgeschäft eine Schwankungsbreite von fünf bis zu 15 Prozent.
Wollen Sie das auch in anderen Versicherungsbereichen einführen?
Wir können das Programm in vielen anderen Bereichen nutzen, etwa in der Hausratversicherung. Aber hier ist der digitale Wettbewerb noch nicht so groß.
Wollen die Kunden so etwas überhaupt?
Versicherungen sind ein Low-interest-Produkt. Die Menschen brauchen das, um ruhiger schlafen zu können, aber es beschert ihnen keine Glücksgefühle. Deshalb ist der Preis bei gut vergleichbaren Angeboten wichtig und Preisflexibilität ein Wettbewerbsvorteil. In den anderen Sparten ist übrigens die gute Beratung viel wichtiger. Ich bin deshalb auch fest davon überzeugt, dass viele Kunden weiterhin ihren Versicherungsberater haben möchten, der ihnen bei der Auswahl hilft, sie berät und ihnen die Tarifangebote erklärt.
Die Allianz baut im Unternehmen Hunderte Stellen wegen der Digitalisierung ab, wie viele Arbeitsplätze sind bei der Talanx betroffen?
Wir bauen 930 Stellen von 5000 ab, im Vertriebsinnendienst sind 40 Prozent der Arbeitsplätze betroffen. Das liegt aber nicht nur an der Digitalisierung, sondern wir hatten auch andere Effizienzschwächen. Wir sind nicht stolz darauf, Arbeitsplätze abzubauen, aber wir können nicht anders. Unsere Produkte waren zu teuer. Wir bemühen uns darum, den Abbau sozialverträglich zu gestalten.
Wie lange läuft der Stellenabbau?
Wir wollen den Prozess bis Ende 2021 abschließen, aber wahrscheinlich sind wir früher fertig.
Bringt Sie das wieder in die schwarzen Zahlen?
Wir hatten zwei Jahre lang rote Zahlen. Das lag an der Abwertung unserer Unternehmensbeteiligungen und den Sozialplankosten. Aber wir sind im vergangenen Jahr wieder in die Gewinnzone zurückgekehrt.
Talanx ist börsennotiert. Was heißt das für Ihr Geschäft? Erhöht das den Druck, gute Zahlen zu produzieren?
Die Talanx ist an die Börse gegangen, um sich weitere Kapitalisierungsmöglichkeiten für künftiges Wachstum zu erschließen. Natürlich erhöht die Börsennotierung auch die Transparenz nach außen und innen. Der Dialog mit den Investoren – also den Eigentümern – ist wertvoll für uns als Vorstand, weil uns die externe Perspektive zusätzliche Erkenntnisse bringt. Und letztendlich: Wenn etwas schiefläuft, muss man Rechenschaft ablegen. Das diszipliniert!
Jan Wicke (geboren am 12. August 1968) ist seit drei Jahren im Konzernvorstand der Talanx AG und dort für das Deutschlandgeschäft zuständig. Der promovierte Ökonom hat sein gesamtes Berufsleben im Finanzbereich zugebracht. Er startete bei DG Capital Management und wechselte dann zur Versicherungsgesellschaft DBV-Winterthur, wo er zuletzt Finanzvorstand war. 2007 ging Wicke zur Wüstenrot & Württembergischen.
Die Talanx ist nach Prämieneinnahmen die drittgrößte Versicherungsgruppe in Deutschland, nach der Allianz und der Munich Re/Ergo. Zum börsennotierten Konzern gehören der Rückversicherer Hannover Re.