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Verdi-Chef Frank Bsirske verfolgt am 28.05.2015 von der Bühne auf dem Römerberg in Frankfurt am Main aus eine Kundgebung mit mehr als 15.000 Demonstranten.
© Boris Roessler/dpa

Verdi-Vorsitzender Frank Bsirske: Der ewige Vorsitzende

Frank Bsirske hat in diesem Jahr kein Glück, aber an der Verdi-Spitze ist er unangefochten. Wie es mit der Gewerkschaft nach den Streik-Marathons weiter geht, ist unsicher.

Frank Bsirske ist ein großer Kommunikator. In der kommenden Woche wird er für Stimmung sorgen in den Leipziger Messehallen. Kraftmeiernd und klassenkämpferisch – das kann er und das mögen die Verdi-Delegierten. Diesmal hat sich Bsirske besonders gut vorbereitet auf den alle vier Jahre stattfindenden Bundeskongress, und am Dienstag wird er wiedergewählt, keine Frage. Bsirske führt die Organisation seit ihrer Gründung 2001 unumstritten. Und doch ist diesmal alles anders. Der Vorsitzende wird am Ende der kommenden Wahlperiode 67 Jahre alt sein; gegen die Rente mit 67 haben die Gewerkschaften gewettert wie sonst nur gegen Leiharbeit. Und Ursula Engelen-Kefer war erst 62, als sie einst von Bsirske und anderen Gewerkschaftsfürsten mit dem Hinweis auf das Alter aus der DGB-Spitze entfernt wurde. Aber Bsirske wird eben nicht alt.

100 Millionen Euro hat Verdi der Streik von Post und Kitas gekostet

Dabei hat der Herbst des Patriarchen längst begonnen. Bei den Arbeitgebern, die ihn wegen des Pragmatismus und der Zuverlässigkeit schätzen, wird inzwischen gelästert: „Fehleinschätzungen sind zu Bsirskes Markenzeichen geworden“. Wohl auch deshalb, weil es kaum noch jemanden in der zweitgrößten deutschen Gewerkschaft gibt, der Bsirske widerspricht. Doch die Monologe und Besserwissereien des studierten Politologen kommen nicht mehr überall gut an. Schon gar nicht in diesem Horrorjahr:

Trotz vierwöchigem Streik bei der Post wurde das Hauptziel verfehlt. Schlimmer noch war der Verlauf der Auseinandersetzung um die Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe. Bsirske wollte zehn Prozent mehr Geld für alle und griff damit viel zu hoch. Nach wochenlangen Streiks in den Kitas kam es zur Schlichtung, deren Ergebnis auch Bsirske akzeptierte. Aber nicht die betroffenen Erzieherinnen und Sozialarbeiter. Also zurück auf null. Ein Desaster für Bsirske. Die Arbeitgeber beharren auf dem Schlichterspruch und wollen nichts draufzahlen. Und Bsirske hat sein Pulver verschossen. Mit gut 100 Millionen Euro für die Streiks bei der Post und in den Kitas hat Verdi so tief in den Streikfonds gegriffen wie noch nie – und trotzdem nicht die Ziele erreicht.

„Die Finanzsituation ist furchtbar“, heißt es in Verdi-Kreisen. Die Kosten seien Bsirske und Finanzvorstand Frank Werneke entglitten, die Folgen verheerend: „In absehbarer Zeit sind keine größeren Streiks mehr möglich.“ Damit hätte sich Verdi selbst entmachtet. Und die Arbeitgeber, ob im öffentlichen Dienst oder im Einzelhandel, bei Banken, Post, Telekom oder im Krankenhaus, könnten sich auf einen zahnlosen Gegner respektive billige Tarifabschlüsse freuen.

Wie man Niederlagen als Erfolge verkauft

Alles Quatsch, sagt Kassenwart Werneke dazu. „Die Finanzentwicklung der letzten vier Jahre ist gut“, und auch selbst die Arbeitskämpfe in diesem Frühjahr seien im Rahmen geblieben. „Die genehmigten Volumina waren in beiden Fällen nicht ausgeschöpft. Wir hatten noch Spielraum und hätten zulegen können“, sagt Werneke über das vom Verdi-Vorstand genehmigte Budget für die Arbeitskämpfe. Das klingt wie das Pfeifen im Walde. Jedenfalls wird es keine unbefristeten Streiks in diesem Herbst geben, wenn die erneuten Tarifgespräche mit den Kommunen über die Kitas erfolglos bleiben. Am 28. September trifft man sich wieder, unmittelbar nach dem Ende des Verdi-Kongresses und der Wiederwahl von Bsirske und seiner beiden Stellvertreter Werneke und Andrea Kocsis.

Die beiden stehen in der ersten Reihe der Kandidaten für die Bsirske-Nachfolge, spätestens in vier Jahren. Dafür müssen sie den Kongress in der kommenden Woche gut überstehen; Werneke wird in Leipzig ein aufgehübschtes Zahlenwerk präsentieren und Kocsis, die bei der Post die Verhandlungen führte, den Delegierten erklären, warum das Verfehlen des Streikziels ein Erfolg war.

5600 neue Verdi-Mitglieder bei der Post, 20 000 sollen es bei den Betreuern sein

Verdi-Chef Frank Bsirske verfolgt am 28.05.2015 von der Bühne auf dem Römerberg in Frankfurt am Main aus eine Kundgebung mit mehr als 15.000 Demonstranten.
Verdi-Chef Frank Bsirske verfolgt am 28.05.2015 von der Bühne auf dem Römerberg in Frankfurt am Main aus eine Kundgebung mit mehr als 15.000 Demonstranten.
© Boris Roessler/dpa

Der Vorsitzende selbst präsentiert seine eigene Erfolgsrechnung: Ganz oben steht der gesetzliche Mindestlohn, für den Bsirske mehr als ein Jahrzehnt getrommelt hat und der in diesem Jahr eingeführt wurde. Und er wird die Trendwende bei der Mitgliederentwicklung betonen. Der Konflikt bei der Post hat angeblich 5600 neue Mitglieder gebracht, und in den Kitas waren es sogar mehr als 20 000. „Die Mitgliederentwicklung im Sozial- und Erziehungsdienst lag über den Erwartungen“, sagt Werneke. Obwohl die Forderungen nicht umgesetzt wurden, „haben wir keinen Anstieg der Austritte im Nachgang zu diesen Tarifrunden“, betont der Kassenwart. Und es deute nichts darauf hin, „das wir unter die zwei Millionen-Mitglieder-Grenze rutschen“. Ob nach Ablauf der Austrittsfristen tatsächlich die Mitgliederzahl stabil bleibt, wird sich 2016 zeigen.

Verdi ist schwer zu steuern, teuer und weniger durchschlagskräftig als andere Gewerkschaften

Tatsächlich hat sich Verdi, 2001 als vereinte Dienstleistungsgewerkschaft durch den Zusammenschluss von ÖTV, HBV, IG Medien, Postgewerkschaft und DAG entstanden, vor allem quantitativ verändert: Es gibt heute rund 800 000 Mitglieder weniger als damals. Der Schwund hat auch strukturelle Ursachen. Im Einzelhandel stehen zum Beispiel die Namen Schlecker und Praktiker für Pleiten und massenhaften Arbeitsplatzabbau; Privatisierungen haben dem öffentlichen Dienst, der Telekom und der Post zu schaffen gemacht, die goldenen Jahre in der Finanzbranche sind vorbei, und in Wachstumsbranchen wie der Pflege bekommt Verdi auch deshalb kein Bein an die Erde, weil die keine gewerkschaftliche Tradition haben. Richtig ist aber auch: Der enorme Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in den vergangenen Jahren fand vor allem im Dienstleistungsbereich statt. Und offensichtlich bekommt Verdi diese Leute nicht annähernd organisiert.

Der Verdi-Chef hat es schwerer als seine Kollegen an der Spitze der Industriegewerkschaften, die vergleichsweise homogene Branchen organisieren und dort sowie in einzelnen Konzernen (VW, Daimler, BASF) über eine Durchschlagskraft verfügen, von der Bsirske nur träumen kann. Dazu hat er es mit einer überaus komplizierten und teuren Struktur zu tun, mit Landesbezirken und Fachbereichen, die Verdi zu einem schwer steuerbaren Laden machen. Die IG Metall hat 250 000 Mitglieder mehr als Verdi, aber mit 2400 Beschäftigten gut 1000 Leute weniger auf dem Gehaltszettel als Verdi. Und weit und breit gibt es keine zweite Gewerkschaft, die sich 14 Vorstandsmitglieder gönnt. Die IG Metall kommt mit der Hälfte aus.

Kein Kronprinz in Sicht

Verdi ist eine Art Dachverband für 13 kleine Gewerkschaften/Fachbereiche, die von Bildung über Handel und Finanzdienstleistung bis zu Verkehr und Entsorgung alle möglichen Dienstleistungsbereiche abdecken. Der politische Einfluss und die Sichtbarkeit von Verdi ist selbstverständlich größer als einst bei der ÖTV und den anderen vier Gründungsorganisationen. Aber das hängt eben auch zusammen mit der überragenden Figur Frank Bsirske. Der hat es indes nicht vermocht, in den vergangenen Jahren einen potenziellen Nachfolger neben sich groß werden zu lassen und der verflochtenen Gewerkschaft eine schlankere und schlagkräftigere Struktur zu verpassen. Stattdessen hat er sich mit den Kollegen in den Industriegewerkschaften angelegt, indem er in deren Organisationsbereichen wilderte. Krawall statt Konzept. Aber wo ist die Strategie? Was hat er noch vor? Diese Fragen sollte Bsirske in Leipzig beantworten können.

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