Zur Rolle der Gewerkschaften: Parole Arbeit
Zu männlich, zu gestrig, also überflüssig? Falsch. Denn die Gewerkschaften haben dazugelernt – und die Werktätigen auch.
Vom Ostflügel des Reichstags aus haben die Bundestagsabgeordneten eine hübsche Aussicht über Spree und Wilhelmstraße Richtung Friedrichstraße. Links am Flussufer bleibt der Blick an einem mietshaushohen Plakat mit donnernder Botschaft hängen: „Starke Gewerkschaften schaffen Mindestlohn“. Was für ein Triumph! 15 Jahre haben sie gekämpft dafür. Seit dem 1. Januar müssen die Arbeitgeber fast ausnahmslos mindestens einen Stundenlohn von 8,50 Euro zahlen. Und mit der abschlagsfreien Rente nach 45 Versicherungsjahren haben die Gewerkschaften ein weiteres Ziel erreicht, das vor wenigen Jahren so weit weg war wie die 35-Stunden-Woche für alle. Aber die große Koalition korrigiert jetzt Maßnahmen der rot-grünen Regierung. Und die Gewerkschaften sind wieder da.
Der Erfolg ist zugleich Ausdruck der Krise
Das jahrelange Trommeln für den Mindestlohn hat also Wirkung gezeigt und am Ende auch die Bundeskanzlerin davon überzeugt, dass die prekäre Arbeit hierzulande ein derart sozialunverträgliches Ausmaß erreicht hat, dass eine Lohnuntergrenze gezogen werden muss. Doch starke Gewerkschaften bräuchten eigentlich keinen gesetzlichen Mindestlohn, weil sie in ihren Tarifverträgen Einkommensuntergrenzen selbst festschreiben. Wenn es denn Tarifverträge gibt. Ohne Mitglieder keine Tarife. Und so ist der vom Gesetzgeber bestimmte Mindestlohn zugleich das auffälligste Symptom für die Schwäche der Gewerkschaften.
Die Wirtschaftswunderjahre in der Bundesrepublik waren gute Jahre für den Staat, für Privatleute, für Unternehmen – und auch für die Gewerkschaften. Von 1950 bis Anfang der 1980er Jahre stieg die Zahl der Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbunds DGB von 5,5 Millionen auf fast acht Millionen. In den Aufbruchsjahren der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft gehörten 36 Prozent der Arbeitnehmer einer Gewerkschaft an; heute, im vereinigten Deutschland, gehört nicht einmal ein Fünftel dazu. Alle acht DGB-Organisationen zusammen kommen derzeit auf gut sechs Millionen Mitglieder.
Immer weniger Jobs im produzierenden Gewerbe
Es gibt viele Ursachen und Erklärungen für den Schwund. Der Anteil der Beschäftigten, die im produzierenden Gewerbe ihr Geld verdienen, hat sich in den vergangenen 50 Jahren auf 24 Prozent halbiert – auch wenn Deutschland immer noch ein Industrieland ist und Weltklasse im Maschinen- und Fahrzeugbau sowie der chemischen Industrie. Hier, vor allem in den westdeutschen Industriemilieus, haben die Gewerkschaften ihre stärksten Bataillone. Im Dienstleistungsbereich, der fast drei Viertel aller Erwerbstätigen umfasst, gibt es nur wenige Gewerkschafter.
Es lebe die Individualisierung! Wozu überhaupt Gewerkschaften?
„Der Nutzen der Gewerkschaftsmitgliedschaft wird in vielen Fällen nicht mehr gesehen“, sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder, der sich an der Universität Kassel mit industriellen Beziehungen befasst und die Grundsatzabteilung der IG Metall leitet. Die sozialen Milieus erodieren, Individualisierung statt Solidarisierung und Emanzipation der Beschäftigten gegenüber gesellschaftlichen Großorganisationen schaden den Gewerkschaften. „Es besteht der Eindruck, dass der berufliche Werdegang stärker denn je unabhängig von gesellschaftlichen Großorganisationen verläuft“, sagt Schroeder. Im Arbeiterdeutsch: Was bringt mir die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, für die ich immerhin ein Prozent des Bruttolohns als Beitrag zahlen muss?
„Man muss etwas machen, um es besser zu machen“, sagt sie
Lara Turek ist 25 Jahre und Sozialarbeiterin. Sie arbeitet in Berlin in einem Verein, der sich um süchtige Frauen kümmert. 35 Stunden die Woche für 1700 Euro brutto. Es ist ihr erster Job nach dem Studium. Lara Turek kommt aus dem Ruhrgebiet, in Essen war sie Schülervertreterin, mit 18 trat sie bei Verdi ein, der Dienstleistungsgewerkschaft, die mit zwei Millionen Mitgliedern nach der IG Metall (2,3 Millionen) die größte Gewerkschaft ist. „Man muss etwas machen, um es besser zu machen“, erklärt Lara Turek ihr Engagement. Sie war schon in Essen im Bezirksjugendvorstand und setzt das in Berlin fort. Die meisten ihrer Kolleginnen sind nicht in der Gewerkschaft, aus Trägheit, wie Turek meint, aber auch wegen des Beitrags. „Das muss man denen erklären; man bekommt doch etwas zurück“, sagt die junge Aktivistin. Mit den Kolleginnen diskutiert sie gerade, ob man einen Betriebsrat braucht. Die Debatte läuft schon ein halbes Jahr. Im Verein, der aus der Frauenbewegung entstand, sei man eben „sehr diskussionsorientiert“, wie Turek sagt. Und durchaus skeptisch gegenüber kollektiver Interessenvertretung.
Frauen und Gewerkschaften – das ist ein spezielles Thema. Die tonangebenden Industriegewerkschaften haben eine vorwiegend männliche Klientel. Die Konzentration auf die männlichen Kernbelegschaften hat den Blick verstellt auf eine gravierende Veränderung auf dem Arbeitsmarkt: Der Anteil der Frauen steigt und nähert sich inzwischen bundesweit dem in Ostdeutschland gewohnten Niveau. Doch für Frauen fehlt den Gewerkschaften die richtige Ansprache – und es sind bis heute fast durchweg Männer, die das Geschehen dominieren: Von den acht DGB-Gewerkschaften haben nur die GEW (Erziehung und Wissenschaft) und die NGG (Nahrung, Genuss, Gaststätten) eine Vorsitzende. Die Richtung des DGB bestimmen Detlef Wetzel (IG Metall), Frank Bsirske (Verdi), Michael Vassiliadis (IG BCE) und der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann.
Die großen Namen der Geschichte - alles Männer
Auch die prägenden Gestalten in der Gewerkschaftsgeschichte sind männlich. Noch im Kaiserreich sozialisiert wurde der erste DGB-Vorsitzende Hans Böckler, zur Zwischenkriegsgeneration gehörten der IG-Metall-Vorsitzende Otto Brenner und DGB-Chef Ludwig Rosenberg. Dann kam die Kriegsgeneration mit den späteren DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter und Ernst Breit sowie die IG-Metall- Vorsitzenden Hans Mayer und Eugen Loderer. Zur Bonner Republik zählt der Sozialwissenschaftler Wolfgang Schroeder Hermann Rappe (IG Chemie) und Franz Steinkühler (IG Metall). Zu Berühmtheit gelangte außerdem Heinz Kluncker, Vorsitzender der ÖTV von 1964 bis 1982, der das 13. Monatsgehalt und die 40-Stunden-Woche durchsetzte. Die herausragenden Funktionäre der Berliner Republik sind Berthold Huber (IG Metall) und Frank Bsirske (Verdi) sowie der glücklose Michael Sommer an der DGB- Spitze. Alle drei stehen für ganz bestimmte Episoden.
Ihre Idee: mehr Mitbestimmung - auch in den Gewerkschaften selbst
In der Zeit Sommers zerbricht die Beziehung zur SPD. Mit großem, auch materiellem Einsatz hatten die Gewerkschaften 1998 Gerhard Schröder im Wahlkampf unterstützt. 16 Jahre Helmut Kohl waren genug, man wollte Rot-Grün und bekam Schröder und Joschka Fischer. Eine neue Zeit begann. Klaus Zwickel, Nachfolger Steinkühlers an der Spitze der IG Metall, erfand das Bündnis für Arbeit: Die wichtigsten Akteure aus Politik, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften versammelten sich, um in einer konzertierten Aktion Verabredungen für mehr Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit zu treffen. Das „Modell Deutschland“, der konsensorientierte Kapitalismus, der mit friedensstiftenden Flächentarifverträgen eine Grundlage bildete für die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrien, lebte auf. Aber nur kurz.
Kanzler Schröder schlug sich auf die Arbeitgeberseite
Das Bündnis lief ins Leere – auch weil der neoliberale Mainstream mit seiner Lust an Deregulierung, Privatisierung und Sozialabbau die Zeit und ihre Politiker prägte. Bundeskanzler Schröder schlug sich in der Folge mit seiner Agenda 2010 auf die Seite der Arbeitgeber. Eine schlimme Zeit für den DGB. Schröder-Gegner standen Schröder-Freunden gegenüber. Auch Michael Sommer musste hilflos zusehen, wie sein Parteifreund Gerhard Schröder das Land umkrempelte – ohne Rücksicht auf SPD und DGB. Der Arbeitsmarkt veränderte sich. Die heute sehr niedrige Arbeitslosigkeit lässt sich mit Schröders Politik erklären, aber auch mit einem Niedriglohnsektor mit mehr als sieben Millionen schlecht bezahlten Arbeitskräften. Ein vergleichbar großes Prekariat gibt es in keinem anderen westeuropäischen Land.
Wenn die nicht spuren, dann mach’ ich die kaputt, soll Schröder einmal zu einem Arbeitgeberfunktionär gesagt haben. Gemeint war die renitente Dienstleistungsgewerkschaft Verdi mit ihrem Vorsitzenden Bsirske, übrigens der einzige Grüne unter den sozialdemokratischen Gewerkschaftsführern. Bsirske steht für eine ganz besondere Anti-Krisenstrategie der Gewerkschaften: die Fusion. In den 1980er Jahren hatte der DGB 17 Mitgliedsgewerkschaften, seit 2001 sind es acht. Als Höhepunkt der Konsolidierung schlossen sich damals ÖTV (öffentlicher Dienst), HBV (Handel, Banken, Versicherungen), IG Medien, DAG (Angestellte) und Postgewerkschaft zu Verdi mit 2,8 Millionen Mitgliedern zusammen.
Sie kämpfen für bessere Löhne - und um Mitglieder
Der große Zampano Bsirske, der im kommenden September zum fünften Mal als Vorsitzender gewählt werden wird, hält den bunten Haufen mit seinen 13 Fachbereichen und rund 1000 Berufen zusammen. Aber ist er auch erfolgreich? In vielen Dienstleistungsbereichen, etwa in der Pflege, ist Verdi schwach. Und keine andere Gewerkschaft hat so viele Mitglieder verloren wie Verdi, die doch eigentlich vom gesamtwirtschaftlichen Trend zu mehr Dienstleistungen profitieren sollte.
Nach dem Motto „Stärken stärken“ kämpft Verdi in diesen Wochen um eine deutlich bessere Bezahlung für die Beschäftigten in den Kindertagesstätten: Weil Verdi in den Kitas viele Mitglieder hat und sich durch die Auseinandersetzung noch mehr Mitglieder verspricht. Früher betonten die Gewerkschaften ihren sozialpolitischem Gestaltungsanspruch. Heute geht es um die Stabilisierung der eigenen Basis, um Mitglieder, Mitglieder, Mitglieder. Und zwar um fast jeden Preis.
„Heute haben wir andere Begriffe, aber die Inhalte sind gleich geblieben“
Bsirske scheut ebenso wenig wie der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel den Konflikt mit Brüder- oder Schwestergewerkschaften, wenn es um zahlende Kundschaft geht. Im Streit um die gewerkschaftliche Zuständigkeit für Logistikfirmen haben sich beide so zerstritten, dass sogar ein Auseinanderfliegen des DGB möglich ist.
Vor zwei Wochen schlossen die Industriegewerkschaften Metall, Chemie und Bau mit der Eisenbahnergewerkschaft EVG ein eigenartiges Solidaritätsbündnis, um künftig Organisationsstreitigkeiten besser in den Griff zu bekommen. Ein Bündnis von vier DGB-Gewerkschaften als Signal gegen Verdi.
Die Gewerkschaften bekriegen sich untereinander
Die Tarifeinheit, die von den DGB-Mitgliedern gerne beschworen wird und die eine gewerkschaftliche Konkurrenz innerhalb eines Unternehmens ausschließen soll, ist unter den DGB-Gewerkschaften selbst nicht mehr intakt. Ganz zu schweigen vom Klassenkampf in einer Klasse wie bei der Bahn, wo sich zwei Gewerkschaften mit großer Aggressivität bekämpfen
Olaf Bolduan, Jahrgang 1952, arbeitet seit 1972 für Siemens. Als Betriebsratschef des Berliner Dynamowerks und Aufsichtsratsmitglied ist er einer der wichtigsten Arbeitnehmervertreter in dem Weltkonzern. Bolduan kam vor Jahrzehnten zur IG Metall, weil ihn die tarifpolitische Power der Gewerkschaft beeindruckte und er Teil dieser Kraftmaschine werden wollte. „In den 1970er und 80er Jahren haben wir über die Humanisierung der Arbeit diskutiert und über Arbeitszeitverkürzungen“, erinnert er sich. „Samstags gehört Vati mir“, hieß einer der Slogans. „Heute haben wir andere Begriffe, aber die Inhalte sind gleich geblieben“, sagt der Siemens-Mann. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Beispiel. Und Entwicklungsmöglichkeiten für den Nachwuchs. Vor der Zukunft ist Bolduan nicht bange. „Die jungen Leute engagieren sich. Die sehen ganz genau, dass man vieles individuell nicht erreichen kann.“
Die jungen Leute treten wieder ein
Tatsächlich kommen wieder mehr Junge zu den Gewerkschaften. Und die Einstellung der Leute habe sich verändert, nicht nur der Jugend. „Die wollen mitmachen, mitdiskutieren und mitbestimmen“, hat Bolduan erfahren. Dass ein paar Funktionärsfürsten wie zu Klunckers ÖTV-Zeiten allein die Richtung vorgeben – Geschichte. Die Gewerkschaften als Protagonisten der Mitbestimmung lassen in den eigenen Reihen mehr Mitbestimmung zu. Auch dadurch, dass von der Ebene der Tarifparteien zunehmend Kompetenzen auf die Ebene der Betriebe verlagert wurden.
Für die Re-Orientierung auf die Basis in den Betrieben stehen Berthold Huber und sein Nachfolger an der IG-Metall- Spitze, Detlef Wetzel. Dabei verkörpert Huber beispielhaft den Wandel in Wirkung und Ansehen führender Funktionäre. Bei der Krisenbewältigung der Jahre 2008 und 2009 spielte er eine maßgebliche Rolle. Huber ist der Erfinder der Abwrackprämie für Altautos, die Kanzlerin hörte auf ihn, als es um Kurzarbeit und Konjunkturpakete ging, und die Welt staunte über das deutsche Beschäftigungswunder: Fast ohne Arbeitsplatzverluste verkraftete die Bundesrepublik den Absturz der Wirtschaftsleistung – nicht zuletzt wegen der Gewerkschaften, die als Schutzmacht der Beschäftigten perfekt funktionierten.
Für Wohlstand braucht es auch gut bezahlte Mitarbeiter
„Die Arbeit der Zukunft gestalten wir!“ Unter dieses selbstbewusste Motto hatte der DGB den gestrigen 1. Mai gestellt. Aber stimmt das? Die Arbeit der Gegenwart, oft schlecht bezahlt, befristet oder als Minijob konzipiert, ist auch wegen der Schwäche der Gewerkschaften ein Unsicherheitsfaktor im Leben vieler Menschen. Ohne die Gewerkschaften ist jedoch der Fachkräftemangel, eines der großen Themen dieser Zeit, nicht zu beheben. Der Wohlstand des Landes verdankt sich gut den qualifizierten, engagierten und anständig bezahlten Arbeitskräften. Das kann so bleiben – wenn sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber daran erinnern, was die Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten bewirkt haben.
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