Energiewende: „80 Prozent Erneuerbare sind kein Problem“
Boris Schucht, Chef des Netzbetreibers 50Hertz, über Mythen der Energiewirtschaft und die beruhigende Wirkung einer Sonnenfinsternis. Der Manager im Interview.
In der Debatte über die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) fällt immer wieder das Argument, der Ausbau gehe zu schnell. Der Strom könne nicht ins Netz integriert werden. Stimmt das?
Wir verstehen uns als Labor der Energiewende. Unser Netzgebiet umfasst mit dem Nordosten etwa ein Drittel Deutschlands. Im vergangenen Jahr lag der Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch rechnerisch bei 49,5 Prozent. Wir werden in diesem Jahr deutlich oberhalb von 50 Prozent liegen. Es gibt keine andere Region, die vergleichbar viel nicht stetige Energien, wie Solar- und Windstrom, sicher ins System integriert hat. Die Versorgungssicherheit ist derweil sogar noch gewachsen. Allerdings zeigen die hohen Kosten für das Engpassmanagement im vergangenen Jahr – im Netzgebiet von 50Hertz rund 350 Millionen Euro, deutschlandweit etwa 1,1 Milliarden Euro zulasten der Verbraucher –, dass der Netzausbau dem Ausbau der Erneuerbaren noch hinterherhinkt. Deshalb müssen wir den Ausbau der Erneuerbaren und den Netzausbau besser synchronisieren.
Wie geht die Integration? Ich habe noch die fünf Prozent „physikalische Grenze“ im Ohr als Höchstanteil für Erneuerbare.
Wir entwickeln mit den Partnern im elektrischen System neue Verfahren und Technologien für die sichere Integration von Solar- und Windstrom. Es fängt bei den Prognosen an. Es gibt inzwischen gute Vorhersagen, wie viel Wind- oder Solarstrom voraussichtlich ins Netz eingespeist werden wird. Das weicht bei Wind nur noch um etwa zwei Prozentpunkte von der Realeinspeisung ab. Aber es sind noch weitere technische Innovationen nötig. Wie schafft man es, dass erneuerbare Energien Systemverantwortung übernehmen können? Dass sie zur Spannungshaltung beitragen können, wenn wir bei einem Sturm mal einzelne Leitungen verlieren? Dann übernehmen mittlerweile auch Windanlagen die Spannungshaltung. Und das funktioniert hervorragend. Bei größeren Stürmen in der Region hat sich das in der Praxis schon erwiesen.
Und wie ist das mit der Regelenergie?
Wir sind sehr stolz darauf, dass wir es im Februar geschafft haben, zum ersten Mal Windenergieanlagen für die Erbringung von Regelenergieleistung zu qualifizieren. Das hat allerdings auch einige Jahre gedauert. Immer dann, wenn Nachfrage und Angebot durch den Markt nicht genau zusammengebracht werden können, müssen wir als Übertragungsnetzbetreiber die Systembalance herstellen. Da können auch erneuerbare Energien zunehmend die dafür notwendige Leistung erbringen. Es müssen nur die richtigen Regeln und Prozesse dafür entwickelt werden. Da sind wir in unserer Regelzone schon Vorreiter. Wir haben deshalb auch viel internationale Gäste zu Besuch, die sich das anschauen wollen.
Mythen der Energiewirtschaft
Vor Kurzem haben Sie vor internationalen Gästen gesagt, dass Sie bis zu 70 Prozent erneuerbare Energien ziemlich problemlos integrieren können. Wirklich?
Es gibt einige Mythen in der Energiewirtschaft. Einer davon ist die Vorstellung, man brauche bei der Integration erneuerbarer Energien sofort mehr Flexibilität im System. Also Speicher oder abschaltbare Lasten oder Backup-Kraftwerke. Das ist ein Mythos. Wir haben viel mehr Flexibilität im System, als wir benötigen. Wir haben auch noch riesige weitere Potenziale.
Was meinen Sie mit Flexibilität?
In der Vergangenheit hatten wir Großkraftwerke, die meistens auch noch Regelenergie angeboten haben. Das heißt: Sie haben beispielsweise zehn Prozent ihrer Leistung vorgehalten, damit wir als Netzbetreiber mit diesen zehn Prozent die Kraftwerke sehr schnell nach oben oder unten regeln können. Wenn ein Großkraftwerk nur noch die Hälfte der Zeit läuft, nimmt damit seine Flexibilität nicht ab. Solange es das Kraftwerk noch gibt, bleibt auch diese Flexibilitätsleistung bestehen. Und zwar in gleichem Umfang. Da wir aber auch in den vergangenen 20 Jahren schon viele dezentrale Kraft-Wärme- Kopplungsanlagen auf den Niederspannungsebenen angeschlossen haben, haben wir uns daran gemacht, genau diese Anlagen in die Regelenergiemärkte einzubinden. Das kann auch eine sehr kleine Anlage im Keller eines Mehrfamilienhauses sein, die gleichzeitig Strom und Wärme erzeugt. Solche Konzepte haben wir für die Regelleistung bereits präqualifiziert.
Innovationen tun sich schwer
Und was ist mit der Nachfragesteuerung?
Im Fall einer plötzlichen hohen Stromnachfrage ist es auch eine Alternative, dass ein Großverbraucher sich entscheidet, einen seiner Industrieprozesse mal eine halbe Stunde zu verlangsamen. Das würde ihm vergütet. Technisch und marktwirtschaftlich gab es diese Möglichkeit vor ein paar Jahren noch nicht. Da kommen wir jetzt aber langsam hin. Wir haben derzeit also ein höheres Flexibilitätsangebot, als wir Nachfrage danach haben. Das führt dazu, dass Innovationen wie Batteriespeicher im Wettbewerb mit viel günstigeren Optionen stehen und sich noch etwas schwer tun. Ein weiterer Aspekt, der nicht sehr bekannt ist: Bis zu einem Anteil von etwa 40 Prozent erneuerbaren Energien im System waren die höchsten Ausschläge in der Lastkurve, also die höchste Flexibilität, die in wenigen Stunden im Jahr gebraucht wurde, noch völlig von der Nachfrage dominiert, und nicht durch das Angebot erneuerbarer Energien.
Was passiert jenseits der 40 Prozent?
Das kippt oberhalb von 40 bis 50 Prozent langsam. Das lernen wir seit etwa zwei Jahren. Und wir konnten das im vergangenen Jahr in der Praxis testen. Wir hatten eine Sonnenfinsternis, ein für uns sehr interessantes Experiment. Die Sonnenfinsternis hat uns einen Solarstrom-Tag beschert, wie wir ihn in 20 Jahren häufig sehen werden. Am späten Vormittag, nachdem die Sonnenfinsternis durch war, gab es einen relativ starken Anstieg der Solarleistung in sehr kurzer Zeit. Es waren rund 14 000 Megawatt in etwa 45 Minuten. Wir hatten uns lange damit beschäftigt, ob wir das können. Wir haben dabei festgestellt, dass wir viel mehr Flexibilitätsleistung hatten, als wir vermuteten, um das abzufangen – und zwar über den Markt, der das sehr gut abgebildet hat. Die Sonnenfinsternis hat gezeigt, wir sind schon heute recht gut darauf vorbereitet, die Fotovoltaik ins System zu integrieren. Wir sind auf dem richtigen Weg, um in der Lage sein zu können, in Zukunft 70 bis 80 Prozent erneuerbare Energien ohne zusätzliche Flexibilitätsoptionen integrieren zu können. Was wir an Flexibilitätsangeboten haben, wird uns bis 2030 oder sogar 2040 ausreichen.
Speicher sind vor 2030 nicht nötig
Also brauchen wir zunächst mal gar keine Speicher?
Die Frage ist, was für Speicher. Was machen wir, wenn wir mehr Wind- und Solarstrom im Netz haben, als wir verbrauchen können? Es gibt ja Tage, an denen die Sonne scheint und der Wind weht. Wir werden immer mehr Tage haben, an denen wir mehr Strom produzieren, als wir verbrauchen können. Da ist es naheliegend, den überschüssigen Strom erst einmal in die Nachbarländer zu verkaufen, die noch nicht so viel erneuerbare Energien haben. Da gibt es ja einige. Aber trotzdem ist die Frage, was macht man mit überschießendem Strom. Da helfen uns unsere bestehenden Speicher, nämlich die Pumpspeicherwerke, eher weniger. Es helfen auch kleine Batteriespeicher, die wir gerade aufbauen, nicht.
Was denn dann?
Was wir bräuchten, wären saisonale Speicher, die Strom drei bis vier Wochen aufnehmen könnten, um ihn dann auch wieder drei bis vier Wochen abzugeben. Da haben wir im Energiesystem eigentlich nur einen Speichertyp, den es schon gibt. Das sind die großen Seen, die Wasserspeicher, in Skandinavien und in den Alpen. Dort, im Süden, allerdings mit begrenzter Kapazität, etwa zehn Terawattstunden. Skandinavien hat knapp 120 Terawattstunden an Speichervolumen. Das ist interessant, weil es sich schon heute rechnet, diese Speicher über eine Leitung mit dem zentraleuropäischen Stromsystem zu verbinden. Bei hohem Windstromaufkommen im Nordosten Deutschlands können wir günstigen Windstrom nach Schweden liefern und dort Stromerzeugung aus Wasserkraft einsparen. Bei Flaute wiederum kann dieser indirekt gespeicherte Wasserkraftstrom aus skandinavischen Speicherbecken zurück nach Deutschland fließen. Der Nutzen würde sich ziemlich gleich auf die Volkswirtschaften verteilen, weshalb es auch die Bereitschaft gibt, diese Leitungen zu bauen. Da braucht es nicht einen Euro Subvention, das rechnet sich allein über den Handel in beide Richtungen vom ersten Tag an. Was wir darüber hinaus an Saisonalspeicher benötigen werden, wird erst zwischen 2030 und 2050 ein wirtschaftlich interessantes Thema. Derzeit sehe ich dafür nur „Power to gas“, also die Produktion von Wasserstoff mit dem Überschussstrom, das dann in einem weiteren Verarbeitungsschritt zu Methan gemacht wird. Daraus kann dann auch wieder Strom produziert werden. Vielleicht gibt es bis dahin aber auch noch andere technische Möglichkeiten.
Der Netzausbau
Wie läuft es denn im 50Hertz-Gebiet mit dem Netzausbau?
Es ist interessant zu sehen, dass es stabil eine relativ hohe Zustimmung zur Energiewende gibt. Das zeigen alle Umfragen. Wenn man fragt, ob die Bevölkerung dafür mehr zu zahlen bereit ist, nimmt die Zustimmung schon leicht ab. Und wenn man nach einem Windrad in der Nachbarschaft oder einem Strommasten vor der Tür fragt, dann sinkt die Zustimmung deutlich. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Solche großen Infrastrukturprojekte lassen sich nicht mehr im stillen Kämmerlein umsetzen, wie das vor etlichen Jahren noch der Fall gewesen sein mag. Diese Projekte lassen sich nur dann erfolgreich umsetzen, wenn wir und die Politik es schaffen, sehr frühzeitig mit den Menschen in den betroffenen Regionen ins Gespräch zu kommen und plausibel zu erklären, wofür es diese Projekte braucht. In der Politik, zumindest auf Bundes- und Landesebene, gibt es zur Notwendigkeit des Netzausbaus ja mittlerweile eine sehr breite Zustimmung. Es geht also nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie. Und hier müssen die Menschen in die Planung einbezogen werden. Sie müssen wissen, welche Alternativen es gibt.
Und dann läuft es?
Man muss echte Dialogbereitschaft mitbringen, und zwar bevor alle Projekte und Lösungen bereits im Detail ausgeplant und mehr oder weniger entschieden sind. Das mussten und müssen wir lernen. Wir sind da schon vorangekommen, und erleben, dass es uns zumindest gelingt, Verständnis für die Projekte zu wecken. Wir haben uns entschieden, so viele Informationen wie möglich zur Verfügung zu stellen, und die Fragen, die Menschen haben, sehr ernst zu nehmen. Wir veröffentlichen zum Beispiel auf unserer Website unsere Lastflussdaten mit Viertelstundenwerten. Das sind Daten, die eigentlich nur Wissenschaftler an Universitäten oder Forschungsinstituten richtig nutzen können. Aber es ist immer wieder gefordert worden, diese Daten zu veröffentlichen, um die Basis für die Berechnung des Leitungsbedarfs nachvollziehen zu können. Das hat mit dazu geführt, dass die Notwendigkeit der Leitungen kaum noch infrage gestellt wird.
Wie haben Sie diese Gespräche vorbereitet?
Wir haben uns mit Nicht-Regierungsorganisationen und Bürgerinitiativen zusammengesetzt, um zu hören, was sie wollen. Wir haben mit nahezu allen Landesregierungen der Flächenländer in unserem Netzgebiet Vereinbarungen geschlossen, in denen wir uns verpflichten, transparent zu sein und uns dem Dialog zu stellen. Im Gegenzug verpflichten sich die Landesregierungen, uns bei diesen Dialogen nicht im Regen stehen zu lassen. Denn die Politik ist da ebenfalls gefordert. Das wird man nicht auf die private Wirtschaft allein abwälzen können. Wir haben im Schnitt jedes Jahr 100 Kilometer neue Leitungen an Land gebaut. Vergangenes Jahr haben wir 900 Millionen Euro in den Leitungsbau investiert. Das ist eine hohe Zahl. Rund 1000 Kilometer sollten wir in den kommenden zehn Jahren schaffen. Wenn wir weitermachen wie bisher, können wir das auch erreichen. Das wird nicht bei jedem Projekt problemlos funktionieren. Aber der Netzausbau ist bei uns Realität.
Hilft es, dass nun entschieden worden ist, Erdkabel bei den drei Nord-Süd-Gleichstromverbindungen zu bauen?
Ja, der Vorrang für Erdkabel wird uns in der Akzeptanz vermutlich helfen. Es ist aber eine teuer erkaufte Lösung. Im Osten Deutschlands ist die Siedlungsdichte teilweise gering. Da diskutieren wir sehr intensiv in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, ob wir nicht doch bei der geplanten Gleichstromverbindung von Sachsen-Anhalt nach Bayern, dem ‚Sued-Ost-Link‘, abschnittsweise und punktuell Hybridleitungen bauen. Da würden wir Gleichstrom- und Wechselstromleitungen auf einen Mast bringen. Dann könnte die bereits existierende Trasse einfach weiter genutzt werden. Damit könnten für die Netzkunden auch erhebliche Kosten gespart werden. Wir werden das probieren. Allerdings geht das nur dann, wenn es artenschutzrechtlich bzw. mit Blick auf Schutzgebiete sinnvoll ist oder eine kommunale Gebietskörperschaft das fordert.
Wie hoch müssen solche Masten werden?
Etwa 70 Meter. Bisher sind sie etwa 55 Meter hoch. Aber der Vorteil ist, dass es keinen weiteren Eingriff in Natur und Landschaftsbild gibt. Auch die Erdverkabelung ist ja ein Eingriff in die Natur. Auf Feldern sieht man nichts. Die Bauern können zwar keine Bäume mehr drauf pflanzen, bebaut werden darf das auch nicht, weil man an die Leitung wieder herankommen muss. Dafür, dass das kein Bauland mehr wird, gibt es aber auch eine kleine Entschädigung. Aber beim normalen Ackerbau gibt es da kaum Einschränkungen. Wir verkabeln schon sehr viel. In Berlin sowieso, aber auch die Anschlussleitungen der Offshore-Windparks an Land sind verkabelt.
Der Manager Boris Schucht, geboren 1967, ist seit 2010 Geschäftsführer der 50Hertz Transmission GmbH. Zuvor war er bei der Wemag AG in Schwerin und fünf Jahre lang für Vattenfall in Berlin tätig. Vattenfall hatte 2002 den Übertragungsnetzbetrieb für Ostdeutschland und Hamburg als Tochter ausgegliedert. 2010 verkaufte der Konzern diesen mit neuem Namen an den belgischen Netzbetreiber Elia und den australischen Infrastrukturfonds Industry Funds Management. 50Hertz beschäftigt 900 Mitarbeiter und erlöst rund 8,5 Milliarden Euro im Jahr.