Debatte zur Flexibilität im Strommarkt: Flexible industrielle Lasten – ein wesentlicher Beitrag im Stromsystem der Zukunft
Viele Unternehmen beteiligen sich über die Verordnung zu abschaltbaren Lasten und den Regelenergiemarkt an der Bereitstellung von Flexibilität, schreibt Barbara Minderjahn (VIK). Um die vorhanden Potenziale beim Lastmanagement voll auszuschöpfen, gelte es jedoch die Netzentgeltsystematik zu überarbeiten. Ein Debattenbeitrag.
Lastmanagement ist für zahlreiche industrielle und gewerbliche Unternehmen nichts Neues. Seit Jahrzehnten nutzen Betriebe professionelle Steuerungssysteme, um ihre energetische Eigenversorgung zu optimieren und Lasten kosteneffizienter zu fahren. Die Herausforderung der Zukunft, die die Politik an die Industrie gestellt hat, besteht darin, flexible Fahrweisen zu einem Beitrag für das gesamte Stromsystem um- und auszubauen. Die betroffenen Firmen arbeiten intensiv daran, ihre neue Aufgabe im Stromsystem wahrzunehmen. Hierzu müssen Geschäftsmodelle weiterentwickelt und technische Lösungen gefunden, insbesondere aber regulatorische Hemmnisse beseitigt werden. Erst wenn dieses Maßnahmendreieck im Einklang steht, kann industrielles Lastmanagement im größeren Maßstab realisiert werden, ohne Produktionsabläufe zu behindern.
In der Diskussion um Flexibilisierungspotenziale in der Industrie wird eines gern vergessen: Produzierende Unternehmen haben die primäre Aufgabe, die Wünsche ihrer Kunden zu befriedigen. Die Schaffung industrieller Flexibilitäten bedeutet für die Betriebe in diesem Zusammenhang zunächst einmal zusätzlichen Aufwand. Neben hohen Investitions- und Betriebskosten stehen dabei auch regulatorische Hindernisse einer stärkeren Nutzung industrieller Flexibilitäten im Wege.
Als besonders hinderlich erweist sich derzeit vor allem das Netzentgeltsystem. Wird nämlich der Strombezug eines Unternehmens zur Stabilisierung des Netzes flexibilisiert, so kann dies die abrechnungsrelevante Jahresspitzenlast und somit das Netzentgelt erhöhen. Mögliche Zusatzerlöse aus der Bereitstellung von Flexibilität werden so konterkariert. Schaut man etwa auf ein durchschnittliches Unternehmen, das regelmäßig auf Preissignale am Markt reagiert und in Zeiten negativer Strompreise – also hoher Verfügbarkeit – am Spotmarkt einkauft, so ergibt sich bei einem Einkauf von 10 MW ein finanzieller Vorteil von etwa 33.000 Euro. Gleichzeitig entstehen wegen der Steigerung der Jahresspitzenlast Zusatzkosten von 572.000 Euro. Es bedarf keiner komplizierten Rechenmodelle, um zu erkennen, dass sich dieser Deal wirtschaftlich nicht auszahlt.
Auch viele Fragen der praktischen Umsetzung sind bisher ungeklärt. Regelungen der finanziellen Vergütung von Flexibilitäten durch den Netzbetreiber existieren derzeit nur in wenigen Fällen, wie zum Beispiel für die Bereitstellung von Regelenergie an die Übertragungsnetzbetreiber. Zunehmend melden jedoch auch Verteilnetzbetreiber Handlungsbedarf an, um durch flexible industrielle Lasten möglichen Instabilitäten in ihrem Netz gegensteuern zu können. Für sie aber gibt es derzeit keine praktikablen Möglichkeiten zur Nutzung der bestehenden Potenziale. Damit hier der Markt Lösungen bereitstellen kann, bedarf es entsprechender gesetzlicher Rahmenbedingungen.
Aber auch andere Hindernisse und Nachteile müssen bedacht werden: So hat die Umsetzung von Flexibilitätsmaßnahmen meist einen unmittelbaren Energieeffizienzverlust für das Unternehmen zur Folge. Neben höheren Energie- und Materialkosten für die eigentliche Produktion können hierbei auch Probleme bei der Erfüllung politisch vorgegebener Kennziffern die Folge sein. So führen Vorgaben auf der einen Energiewende-Baustelle (Erhöhung der Energieeffizienz) unter Umständen dazu, dass auf einer anderen Baustelle (Schaffung von Flexibilitäten) mögliche Reserven nicht gehoben werden können. Auch hier ist der Gesetzgeber gefragt.
Dass die Industrie in der Lage ist, zur Systemstabilität beizutragen, zeigt sich in den Bereichen, in denen Rahmenbedingungen bereits gesetzt sind – etwa bei der Regelenergie. Auf der im Internet abrufbaren Liste der Regelenergielieferanten für den Monat Juni befinden sich unter 54 Anbietern beispielsweise auch acht große produzierende Industriebetriebe.
Einen bereits heute gangbaren Weg für industrielles Lastmanagement bietet die Verordnung zu abschaltbaren Lasten (AbLaV). In dieser sind kurzfristige Stromunterbrechungen bei Industriebetrieben geregelt, die gegen Zahlung einer Vergütung erfolgen. In der Amprion-Regelzone hat das vor drei Jahren noch müde belächelte neue Instrument bereits im Frühjahr 2014 seine Feuerprobe bestanden, als die Auswirkungen eines unerwarteten Sahara-Sturms unter anderem mithilfe der Industrie aufgefangen werden konnten. Auch während der viel diskutierten Sonnenfinsternis am 20. März 2015 griffen die Regelungen der AbLaV. Am Vormittag des Naturschauspiels wurden mehr als 230 MW Kapazität aus Unternehmen der Metallindustrie zeitweise aus dem Netz genommen und halfen so, das Stromnetz stabil zu halten.
Diverse andere Möglichkeiten der Industrie, zur Versorgungssicherheit beizutragen, werden diskutiert oder sogar schon praktiziert. Hier spielen Speicherlösungen eine wichtige Rolle. Einige Unternehmen haben beispielsweise bereits Power-to-Heat-Projekte realisiert. Auch durch die Schaffung von Speichermöglichkeiten für Zwischenprodukte (z.B. in der Papier- oder der Chemieindustrie) könnten sich zusätzliche Flexibilitäten ergeben. Ein weiteres interessantes Vorhaben sind „virtuelle Batterien“ wie die der TRIMET Aluminium SE am Standort Essen. Hierbei übernimmt die Flexibilisierung des Elektrolyseverfahrens eine Pufferspeicherung zwischen erneuerbarer Erzeugung und Stromverbrauch.
Es bleibt festzuhalten: Die Industrie hat die technischen Möglichkeiten, sich über Maßnahmen des Lastmanagements stärker an der Versorgungssicherheit im Strommarkt zum Nutzen aller Endverbraucher zu beteiligen. Viele Unternehmen haben signalisiert, dass sie bereit sind, ihren Beitrag zu leisten – wenn sie dies nicht unter bestehenden Regeln bereits tun. Voraussetzung ist jedoch ein politischer Rahmen, der es den Betrieben ermöglicht, die vorhandenen Potenziale auszuschöpfen, ohne dabei Einschnitte bei Wirtschaftlichkeit, Kundenorientierung oder Produktqualität hinnehmen zu müssen.
Barbara Minderjahn ist Geschäftsführerin des Verbandes der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK). Ihr Beitrag erscheint im Rahmen der Debatte des Tagesspiegel Politikmonitorings zur Flexibilität im Strommarkt. Alle Debattenbeiträge finden Sie hier.
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Barbara Minderjahn