Trotz guter Konjunktur: 370.000 Berliner sind überschuldet
Obwohl die Wirtschaft wächst, ist noch immer jeder achte Berliner überschuldet. Vor allem die über 50-Jährigen haben Probleme, mit ihrem Geld auszukommen.
Eigentlich sollte es den Deutschen gut gehen. Die Wirtschaft wächst, mehr Menschen haben einen Job. Allein in Berlin soll das Wirtschaftswachstum in diesem und im nächsten Jahr bei 2,5 Prozent liegen. Und trotzdem gibt es noch immer enorm viele Menschen, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Bei denen das monatliche Einkommen nicht reicht, um ihre Ausgaben zu decken – und zwar regelmäßig.
Allein in Berlin geht es mehr als 370.000 Menschen so: Damit ist derzeit jeder Achte in der Hauptstadt überschuldet. Nur in Sachsen-Anhalt und Bremen fällt die Schuldenquote noch höher aus als in Berlin. Das zeigt der Schuldneratlas für die Region, den die Auskunftei Creditreform am Donnerstag vorgestellt hat. „Auch die gute Konjunktur kann die Überschuldung nicht eindämmen“, sagt Geschäftsführer Jochen Wolfram.
Warum sind so viele überschuldet?
War es früher vor allem die Arbeitslosigkeit, die Menschen in die Überschuldung getrieben hat, treten heute andere Gründe in den Vordergrund. Laut Creditreform spielen Krankheit, Sucht oder Unfälle eine große Rolle, aber auch die Trennung oder der Tod vom Partner. Eine Rolle spielt Wolfram zufolge auch, dass Menschen heute öfter alleine leben und dadurch höhere Kosten etwa für die Miete hätten. Auch sind unter den Überschuldeten viele Alleinerziehende, bei denen das Einkommen schlicht nicht reicht.
Während das Gründe sind, durch die Menschen in der Regel unverschuldet in finanzielle Schwierigkeiten geraten, sind bei anderen die Problem hausgemacht. Gerade Jüngeren fehlt häufig die nötige Haushaltsdisziplin. Das zeigt eine Untersuchung, die der Bundesverband der Deutschen Inkasso-Unternehmen jetzt vorgelegt hat. Demnach verschulden sich junge Erwachsene auffallend oft bei Onlinehändlern. Auch für Smartphone und Fitnesscenter geben unter 25-Jährige zu viel aus. „Viele Jüngere sind bereit, sich für die Erfüllung kurzfristiger Konsumwünsche zu verschulden“, sagt Marion Krämer, Vizepräsidentin des Inkassoverbands. Dahinter stehe häufig der Wunsch, im Freundeskreis mithalten zu können.
Wie sieht es in anderen Altersgruppen aus?
Neben den unter 25-Jährigen gibt es noch eine zweite Gruppe, die besonders schnell in die Überschuldung gerät: Das sind die über 50-Jährigen. Auch sie können immer öfter ihre Rechnungen nicht bezahlen, kommen mit Einkommen oder Rente nicht aus. Anders als bei den Jüngeren liegt das bei ihnen allerdings weniger an einem zügellosen Konsum – sondern vielmehr an den hohen Lebenshaltungskosten. So verschulden sich Ältere denn auch besonders oft bei Banken, Energieversorgern und Vermietern. Für die Gesellschaft wie auch für die Betroffenen ist das ein enormes Problem. Denn je älter man ist, desto schwieriger wird es, noch einmal aus den Schulden herauszukommen. Vor allem in Berlin werden die hohen Lebenshaltungskosten für Senioren zunehmend zur Belastung. Schon jetzt sind vier Prozent der über 70-Jährigen in der Stadt überschuldet – das sind mehr als doppelt so viele wie im Bundesschnitt. In der Hauptstadt gibt es damit bereits fast 20.000 Senioren, bei denen das Geld nicht zum Leben reicht, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können und bei denen sich bereits mehrfach Inkassofirmen gemeldet haben.
Wie schneiden Berlins Bezirke ab?
Berlinweit ist die Zahl der Überschuldeten leicht angestiegen. Weil gleichzeitig aber mehr Menschen in die Stadt gezogen sind, die hier einen Job gefunden haben, ist der Anteil der Überschuldeten an der Bevölkerung minimal gesunken. Besonders viele Überschuldete gibt es laut der Auswertung von Creditreform in Spandau, wo fast 16 Prozent der Bewohner dauerhaft finanzielle Probleme haben. In Steglitz-Zehlendorf sind es dagegen nur halb so viele. Überdurchschnittlich hoch ist die Zahl der Menschen mit finanziellen Problem neben Marzahn-Hellersdorf und Neukölln auch in Mitte und Reinickendorf. Das Risiko, dass Senioren in die Überschuldung geraten, ist derweil in Charlottenburg-Wilmersdorf am höchsten, am wenigsten gefährdet sind Ältere dagegen in Treptow-Köpenick.
Wie geht es weiter?
Die Experten von Creditreform gehen nicht davon aus, dass sich an der hohen Überschuldung so schnell etwas ändern wird. Schließlich müssten die Menschen eigentlich gerade jetzt in wirtschaftlich guten Zeiten mit ihrem Geld auskommen. Wolfram spricht daher von einem „strukturellen Problem“. So sind es auch längst nicht mehr nur sozial Schwache, die in die Überschuldung geraten. Schon jetzt gehören bundesweit zwei Drittel derjenigen, die mit ihrem Geld nicht mehr zurechtkommen, der Mittelschicht an. Laut Wolfram liegt das auch am Wandel der Arbeitswelt: Mehr Menschen arbeiten notgedrungen in Teilzeit oder als Solo-Selbstständige.
Was kann die Politik tun?
Glaubt man Experten, hat die hohe Überschuldung auch etwas mit dem mangelnden Finanzwissen zu tun. In einer Umfrage gaben kürzlich mehr als die Hälfte der Deutschen an, von Finanzdingen keinerlei Ahnung zu haben. Dabei schneidet die Bundesrepublik im EU-Vergleich besonders schlecht ab. Die Direktbank ING Diba, die die Umfrage in Auftrag gegeben hat, erklärte die Deutschen bereits zu „finanziellen Analphabeten“. Creditreform-Geschäftsführer Jochen Wolfram fordert daher: „Der Staat muss stärker darüber aufklären, was es heißt, mit Geld umzugehen.“ Finanzbildung gehört seiner Ansicht nach in den Lehrplan der Schulen. „Kinder, die in finanziell schwachen Familien aufwachsen, kann man aus dieser Schuldenspirale nur mit einer besseren Finanzbildung herausholen.“
Würde der Nachwuchs bereits in der Schule mehr über Geld lernen, könnte das auch etwas an der Einstellung vieler Deutschen ändern, denen es extrem unangenehm ist, über ihre Finanzen zu sprechen. Denn das macht alles nur noch schlimmer: „Die in Deutschland vielerorts übliche ,Über-Geld-spricht-man-nicht-Mentalität‘ verschärft die Situation der Betroffenen zusätzlich“, sagt Christiane Decker von der Stiftung Deutschland im Plus. Betroffene fühlten sich daher häufig alleingelassen, würden aus Scham viel zu spät aktiv.
Mehr Aufklärung allein reicht allerdings nicht, meint Dirk Ulbricht, Direktor des Instituts für Finanzdienstleistungen (IFF) in Hamburg. Seiner Ansicht nach müsste man auch das Insolvenzrecht reformieren. Den Versuch der Politik, Überschuldeten schneller einen Neuanfang zu ermöglichen, hält er für gescheitert. Seit 2014 wird Verbrauchern, die in die Privatinsolvenz gehen, unter bestimmten Voraussetzungen bereits nach drei beziehungsweise fünf Jahren ihre Restschuld erlassen. Um nach fünf Jahren neu anfangen zu können, muss man allerdings sämtliche Verfahrenskosten beglichen haben. Wer sich bereits nach drei Jahren von der Restschuld befreien lassen will, muss zusätzlich 35 Prozent seiner Schulden zurückgezahlt haben. Doch das gelingt bislang kaum einem. Könnten sie ihre Schulden so schnell zurückzahlen, wären die Betroffenen schließlich kaum erst in die Situation gekommen, heißt es beim IFF.
Was können Überschuldete tun?
Hilfe bekommen Betroffene bei der Schuldnerberatung. An die kann sich jeder wenden, unabhängig davon, wie hoch er verschuldet ist. Bei den gemeinnützigen Einrichtungen wie der Diakonie ist die Beratung kostenlos. Die Berater können einem helfen, einen Überblick über den Ernst der Lage zu bekommen. Auch helfen sie einem, Widerspruch gegen Mahnbescheide einzulegen oder ein Pfändungsschutzkonto einzurichten, bei dem man monatlich einen Freibetrag zur Verfügung hat, der nicht gepfändet werden darf. Einen Überblick über die kostenlosen Anlaufstellen gibt es unter schuldnerberatung-berlin.de. Einige Einrichtungen beraten Schuldner inzwischen auch bereits online per Mail oder Chat.