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Fabiano Caruana (links) gegen Shahkriyar Mamedyarow bei ihrer ersten Partie am dritten Spieltag.
© imago/Sebastian Wells
Update

Schach-Kandidatenturnier in Berlin 2018: Wenn Drama auf Drama folgt

Berlin ist derzeit die Welthauptstadt des Schachs. Acht internationale Großmeister kämpfen darum, Weltmeister Magnus Carlsen herausfordern zu dürfen. Gespielt wird im Kühlhaus.

Das dunkle Jackett hat er ausgezogen. Der Blick geht zum Brett, dann zur Uhr. Die Stellung? Sie sei abenteuerlich, wild, „die Hütte brennt“, sagen drei Stockwerke höher die Kommentatoren. Die schwarze Dame ist bedroht, der Gegner greift an. Der gegnerische Bauer zieht nach f4. Unerwartet kam der Zug wohl nicht, aber was tun?

Stresshormone zischen durch den Körper, lassen ihn heiß werden, bringen die Füße zum Wippen. Sein Gesicht mit der markanten schwarzen Hornbrille vergräbt der schmächtige Fabiano Caruana in zwei feingliedrige Hände. Die Zeit vergeht, aber sie drängt auch. Hundert Minuten Bedenkzeit für die ersten vierzig Züge hat jeder Spieler. Anschließend noch einmal 50 Minuten für die nächsten 20 Züge und 15 Minuten für den Rest der Partie sowie zusätzlich 30 Sekunden für jeden gespielten Zug. Das kann verdammt wenig sein.

Dann hat Fabi, wie sein Spitzname lautet, offenbar eine Lösung gefunden. Er scheint ziehen zu wollen. Glückshormone überlagern die Stresshormone. Doch die Hand geht wieder zurück. Die Rechnung muss von vorn beginnen. Womöglich hat sein Gegner auch das einkalkuliert. Wenn diese Partie verloren wird, gerät ein Traum in Gefahr – Weltmeister werden zu können.

Caruana und Aronian sind zwei von acht Großmeistern, die seit dem 11. März in Berlin den Herausforderer von Weltmeister Magnus Carlsen ermitteln. Es sind die besten Schachspieler der Welt. Der WM-Kampf findet dann im November in London statt. In Berlin aber geht zum erstenmal ein solches Kandidatenturnier über die Bühne. Es ist in diesen Wochen die Welthauptstadt des Schachs.

In zwanzig Metern Abstand rattert die U-Bahn vorbei

Die Wahl Berlins soll die Popularität des Spiels in Deutschland noch erhöhen. Mehr als ein Viertel aller Deutschen schiebt regelmäßig die Klötzchen, wie es in der Schachsprache heißt, in 2400 Vereinen messen sich Woche für Woche 90.000 Spieler. Das Problem ist die Elite. Unter den Top 50 der Weltrangliste ist kein einziger Deutscher.

Gespielt wird im Kühlhaus, einer ehemaligen Kühl- und Lagerhalle in der Nähe des Gleisdreiecks, die heute ein Veranstaltungsort ist. In zwanzig Metern Abstand rattert die U-Bahn vorbei. Der erste Eindruck: dunkel, laut, abgeranzt. Man geht durch einen von Bodenstrahlern nur spärlich ausgeleuchteten Tunnel, gelangt durch zwei schwere Eisentüren in den Eingangsbereich im Erdgeschoss. Dort alles schwarz, schwarze Tücher, schwarze Trennwände, funzeliges Licht.

Ein Stockwerk höher wird gespielt. Der Raum ist quadratisch, unterteilt in vier Waben. Nach oben ist er offen und vom zweiten und dritten Stück aus einzusehen. Dort steht das Publikum, im zweiten Stock das normale Volk, im dritten die VIPs mit den silbernen Armbändchen, die erheblich mehr zahlen mussten als die regulären 22 Euro Eintrittsgeld. Handys sind verboten, überall mahnt schwarzgekleidetes Personal mit „Silence“-Schildern.

Still ist es trotzdem nicht. Nur etwa drei Meter von den Spielern entfernt haben sich Fotografen postiert. Sie dürfen kein Blitzlicht benutzen, aber das Klacken ihrer Kameras ist deutlich zu hören. Sie machen Bilder von Menschen, die nichts anderes tun als denken. Oder auch: grübeln, planen, hoffen, bereuen, sich freuen, sich konzentrieren, abschweifen, rechnen, verzweifeln. Die Spieler haben sich immer wieder über das Hintergrundrauschen und Türengeklapper beschwert. Genützt hat das wenig.

Guten Schachspielern haftet das Etikett an, Genies zu sein

Draußen, an der Fassade des Kühlhauses, hängt ein großes, weithin sichtbares Plakat. Darauf steht: „Entering this building might substantially increase your IQ. Chess does that to humans.“ (Wenn Sie dieses Gebäude betreten, könnte sich Ihr IQ beträchtlich erhöhen. Das passiert mit Menschen, die Schach spielen.) Darüber lässt sich streiten. Guten Schachspielern haftet schnell das Etikett an, Genies zu sein. Aber was ist Berechnung, was Intuition? Und brillieren sie auch auf anderen Feldern als jenen 64, die für sie die Welt bedeuten?

Im vierten Stück des Kühlhauses darf geredet werden. Hier ist die „Fanzone“, auch „Spaßzone“ genannt, hier finden auch die obligatorischen Pressekonferenzen statt, zu denen sich alle Spieler nach Beendigung einer Partie verpflichtet haben. Eingerahmt von unverputzten roten Backsteinwänden werden in einer Ecke die Partien nachgespielt, in einer anderen Souvenirs verkauft. Mehrere Dutzend Zuschauer hören, wie zwei deutsche Schachgroßmeister die Stellungen analysieren. Es sind Dialoge, die kein Außenseiter versteht. Da werden Läufer „fianchettiert“, Linien „plombiert“, Figuren „über Kreuz gefesselt“, und fast alle Eröffnungen tragen Namen. Nimzoindisch, Spanisch, Berliner Verteidigung, Caro-Kann, Sizilianisch.

Geheizt wird über Deckenradiatoren, das Publikum ist überwiegend männlich, man sitzt auf weißen oder schwarzen Holzbänken ohne Lehne. Neben Deutsch wird auf Englisch, Russisch und Chinesisch gefachsimpelt. Anfangs gab es auf den Toiletten kein Spülwasser, verpflegen konnte man sich mit Kaffee und Süßwaren über zwei Automaten. Inzwischen werden immerhin auch Kuchen und Früchte angeboten. Die Organisatoren – die russische Firma World Chess im Auftrag der Weltschachorganisation Fide - nennen das den Charme der Improvisation, das Kühlhaus sei „cool“, hipp, futuristisch, die Spieler könnten sich wie Rockstars fühlen. Doch die hat das nicht überzeugt. Süffisante Bemerkungen über das Ambiente gehören auf den Pressekonferenzen zu den „running gags“.

Russland will zurück auf den Thron

Drei der acht Kandidaten sind Russen - Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik, mehrfacher Blitzschachweltmeister Alexander Grischuk und Sergej Karjakin, der beim letzten WM-Match 2016 in New York lange Zeit dem Norweger Carlsen Paroli bieten konnte und erst im Stichkampf unterlag.

Russland will zurück auf den Thron. Die erste Schmach wurde dem inoffiziellen Schachweltmeisterreich 1972 zugeführt, als der Amerikaner Bobby Fischer legendär gegen Boris Spassky gewann, die zweite 2007, als der Inder Viswanathan Anand den Titel gewann, die dritte und vorerst letzte 2013, als Magnus Carlsen den Spitzenplatz eroberte. In früheren Turnieren kungelten die Russen, spielten gegeneinander schnell unentschieden, um dann den favorisierten Nicht-Russen zu schlagen. Doch diese Zeiten sind vorbei. In Berlin spielt jeder gegen jeden und jeder nur für sich.

Und wie! Die Experten überschlagen sich förmlich mit Lob. Abenteuerlich, wild, aufregend, dramatisch, innovativ, eine große Schlacht: Es sind spannungsreiche Herzschlagpartien, die das Turnier prägen. Die alte Regel „Vorsicht ist keine Feigheit, Leichtsinn ist kein Mut“ wird regelmäßig auf den Kopf gestellt. Es gibt taktische Opfer, bewusst unübersichtlich gestaltete Stellungen, Fallen und Psycho-Tricks. Einer dieser Tricks lautet: Lass den Gegner irrtümlicherweise glauben, er habe einen vielversprechenden Angriff. Dann kann man ihn am Ende für seinen Übermut bestrafen.

Nach zehn von insgesamt 14 Runden bleibt der Abstand knapp. Caruana führt mit 6,5 Punkten vor dem bulligen Aserbaidschaner Shahkriyar Mamedyarow (6 Punkte) und dem Russen Alexander Grischuk (5,5 Punkte), der oft in Zeitnot kommt. Jeder Sieg ein Punkt. Wacker hält sich der Chinese Ding Liren (5 Punkte), der zusammen mit Sergej Karjakin auf Platz vier steht. Dahinter und fast aussichtslos abgeschlagen Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik (4,5), der US-Amerikaner Wesley So (4) und Lewon Aronian (3,5) aus Armenien. 

Mit fünf Jahren wurde Caruana entdeckt, mit 14 war er Großmeister

Caruana war, wie viele Spitzenspieler im Schach, ein Wunderkind. Mit fünf Jahren wurde er entdeckt, mit 14 Jahren war er Großmeister. Den bisherigen Höhepunkt seiner Karriere markiert der Sieg im September 2014 beim äußerst stark besetzten Sinquefield Cup in St. Louis. Bereits zwei Runden vor Schluss stand Caruana als Sieger fest. Er gewann mit 8,5 Punkten aus 10 Partien, Carlsen kam auf 5,5 Punkte. Caruana kann taktisch und positionell spielen, wild und bedächtig. Aber das wichtigste: Er hat Nerven aus Stahl.

Sein Gegner an diesem Sonntag ist der Armenier Aronjan, der zu Beginn des Turniers noch als Favorit gegolten hatte. Die Hälfte der von der Zeitschrift „Schach“ befragten internationalen Experten tippten auf dessen Sieg. In Aronians Heimat, wo Schach Volkssport ist, kennt ihn jeder. Nun hat er zwei Bauern geopfert und dafür extrem hohen Druck auf dem Königsflügel erzeugt. Aronjans Bauernzug nach f4 greift nicht nur Caruanas Dame an, sondern droht auch mit gefährlichen Linienöffnungen.

Wieder verstreicht viel Bedenkzeit auf Caruanas Uhr. Eine Stunde später und ein paar Züge weiter gehen die meisten Kommentatoren davon aus, dass der 26-Jährige heute verlieren wird. Der aber entwickelt, als wäre gar nichts, in Seelenruhe seine Figuren. Ein Orkan zieht auf – und wird ignoriert. Ist Caruana blind oder tollkühn? Weder noch. Am Ende hat Aronjan sich ausgetobt und liegt selbst erschöpft am Boden. Sieg und Punkt für Caruana.

Wer den vorletzten Fehler macht, gewinnt

Solche Partien begeistern. Wer den vorletzten Fehler macht, gewinnt, sagt man beim Schach. Und Fehler werden natürlich gemacht. Das unterscheidet reale Spieler von Computern. Dabei wird Schach zunehmend zum Cybersport. Rund eine Milliarde Schach-Programme haben sich Smartphone- und PC-Besitzer weltweit heruntergeladen. Viele verfolgen live die Partien des Kandidatenturniers, während ihnen ein Hochleistungsschachprogramm bereits die exakten Gewinnwege verrät. Das sieht dann oft ganz einfach aus, viel einfacher als für die, die im Kühlhaus in ihrer Wabe sitzen. Entsprechend brutal fallen die Kommentare über die real denkenden Menschen aus. „Trottel“, „Depp“, „Blindschleiche“ – mit solch überheblichen Worten werden die Spieler bedacht. Gemessen an der Maschine spielen selbst Spitzenspieler ziemlich schlecht. Das wird zu leicht vergessen.

Mamedyarow und Grischuk einigen sich in der siebten Runde nach weniger als neunzig Minuten auf Remis. Beide mit Dreitagebart, beide sehen trotz der kurzen Partie erschöpft aus. Danach ist Pressekonferenz. Grischuk ist sauer, weil er von Mamedyarow gleich in der Eröffnung überrascht worden war. Wie lange er sich auf das Spiel vorbereitet habe, will jemand von ihm wissen. „Mein ganzes Leben lang“, antwortet Grischuk ungerührt. Ob er zur Halbzeit eine Prognose hat, wer das Turnier gewinnt? „Einen Boxer fragt man auch nicht nach sechs Runden, ob er gewinnt.“

Caruana, Mamedyarow, Grischuk – auf diese drei richten sich nun die Augen der internationalen Schachwelt. Bis spätestens Mittwoch kommender Woche steht der Sieger fest. Wessen Form hält am längsten, wer hat die beste Kondition? Von Tag zu Tag steigt der Druck. Ein einziger Fehlgriff kann die Chancen zunichtemachen. Mamedyarow ist die Nummer zwei der aktuellen Weltrangliste, sehr solide, sehr beständig. Grischuk dagegen ist ein Zocker, immer auf der Suche nicht nach dem besten, sondern dem überraschendsten Zug.

Auch Magnus Carlsen ist längst irdisch geworden

Und Carlsen, der amtierende Weltmeister? Der wartet ab. Im vergangenen Jahr wurde er Weltmeister im Blitzschach. Aber auch er ist längst irdisch geworden. An fünf Spitzenturnieren nahm der Norweger 2017 teil, kein einziges konnte er gewinnen, sechs Niederlagen musste er verkraften.

Es ist spät geworden im Kühlhaus. Manche Partie dauert sechs Stunden lang. Die Garderobe hat bereits geschlossen. Doch an diesem Dienstag, dem neunten Spieltag, triumphiert Caruana nicht. Dabei hätte er auch dieses Spiel für sich entscheiden können, mehr als einmal stand er gegen den Chinesen Liren klar auf Gewinn. Doch am Ende steht’s unentschieden. Manchmal schmerzt ein verpatzter Sieg, der zum Remis führt, mehr als eine Niederlage.

Draußen liegen Reste von Schnee. Caruana geht in die Nacht. Vielleicht träumt er von den vergebenen Chancen. Am nächsten Tag ist spielfrei. Gute Schachspieler müssen verdrängen können, wenn sie an die Spitze wollen.

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