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Ruhe bitte! Seit acht Tagen duellieren sich acht Schachgroßmeister im Berliner Kühlhaus, hier Sergej Karjakin (li.) gegen Alexander Grischuk. Der Sieger wird für ein Match im Herbst in London Herausforderer des Schachweltmeisters Magnus Carlsen.
© imago/Sebastian Wells

WM-Kandidatenturnier in Berlin: Die kleinen Fehler der Schach-Großmeister

Eine unsterbliche Partie und viele Matttricks: Die erste Woche des Schach-WM-Kandidatenturniers in Berlin hatte es in sich. Nur über eines mussten sich die Spieler ärgern.

Berlin - So laut kann Stille sein. Acht Großmeister, acht der besten Schachspieler der Welt sitzen im Kühlhaus in Kreuzberg um vier Tische herum, auf vier Räume verteilt. Die Räume sind quadratisch angeordnet. Trennwände sorgen dafür, dass die Spieler von nichts abgelenkt werden. Hin und wieder ein klackendes Geräusch, ein Zug auf dem braun-weißen Holzbrett mit den 64 Feldern, ein kurzes verdutztes Schauen des Gegenübers, unruhiges Rutschen auf dem Sitz. Was plant der Kontrahent? Dann wird weiter gedacht. Wieder Stille. Von oben, fünf, sechs Meter darüber, auf zwei Etagen, blicken drei, vier Dutzend Zuschauer den Schachspielern direkt auf den Kopf und auf das Schachbrett. Handys verboten. Man wagt kaum zu atmen. Wenn jemand hustet, läuft unten ein schwarzgekleideter Mann mit dem „Silence“-Schild herum.

Das kann sechs Stunden so gehen. 100 Minuten Bedenkzeit hat jeder Spieler für seine ersten 40 Züge mit schier unendlichen Möglichkeiten. Großmeister- Schach, seit einer Woche in Berlin. Das Kandidatenturnier, das den Herausforderer des norwegischen Weltmeisters Magnus Carlsen für ein Match im Herbst in London ermitteln soll, lenkt den Blick der Schachwelt für mehr als zwei Wochen auf die Hauptstadt. Auf das Kühlhaus in Kreuzberg, auf einen rohbauartig wirkenden Ort, den man jetzt nicht unbedingt mit weltmeisterlichen Sport in Verbindung bringt.

Zuletzt war hier die Fashion Week zu Gast, demnächst kommt die Internet-Gemeinde zur Republica. Für viele ist Schach ist vielleicht auch gar kein richtiger Sport. Wer allerdings in diesen Tagen Gelegenheit hat, bei dem Event Nähe Gleisdreieck vorbeizuschauen, müsste diese Meinung dringend revidieren.

Die erste Turnierwoche hat, schachlich zumindest, viele Erwartungen übertroffen. Jeder kann jeden schlagen, das war vorher klar. Schachspieler auf solchen Turnieren begegnen sich auf Augenhöhe, haben x-mal gegeneinander gespielt, kennen zig Eröffnungsvarianten in- und auswendig. Oft folgt dann ein langweiliges Remis nach dem anderen. Aber allein zwei hochdramatische Partien des Armeniers Lewon Aronian haben der bislang sechsrundigen Veranstaltung in dieser Woche zu Glanz verholfen.

Wildes Spiel

Die wildeste Auseinandersetzung lieferten sich am Donnerstag Lokalmatador Aronian (der 35-Jährige spielte für diverse Berliner Schachvereine) und der Russe Alexander Grischuk. Aus der Königsindischen Verteidigung heraus wurde Grischuk als Führer der schwarzen Steine von Aronian mit ein paar Zügen an die Wand gespielt.

Der Armenier stand auf Sieg, übersah aber bei heftiger Zeitnot seines Gegner die Gewinnführung und musste nach dem Abtausch von Figuren am Ende froh über das Remis sein, alldieweil Grischuks Springer Aronians König in der Mitte sehr nahe kamen. Elfmeter von Aronian verschossen, dabei hatte sich sein Gegner gar nicht so gut verteidigt, sondern Künstler Aronian den Killerinstinkt vermissen lassen. Fraglich, ob man so Weltmeister werden kann.

Zweiter Höhepunkt dieser ersten Woche: Ein furioser Sieg des Ex-Weltmeisters Wladimir Kramnik, der mit den schwarzen Steinen dem anziehenden Aronian mit einem simplen Turmzug (Tg8) am Anfang aus der Fassung und damit krachend auf die Verliererstraße brachte. Selten hat man einen Schachgroßmeister wie Aronian so früh so hilflos gesehen. Eine unsterblich schöne Partie mit bizarrer Schlussstellung. Auf der Pressekonferenz erzählte Kramnik, dass er seit Jahren darauf warte, diese von ihm ausgetüftelte Variante mit den schwarzen Steinen endlich aufs Brett zu bringen. Ironie der Geschichte: Diese Variante funktioniert nur, wenn der Weiße mit Bauer e4 eröffnet. Aronian ist in der Regel d4-Spieler, das weiß Kramnik. An diesem Tag suchte sich Aronian die falsche Eröffnung aus.

Faszination des Spiels. Nicht immer geht es so dramatisch hin und her in und über den Köpfen der Großmeister im Kühlhaus in der Luckenwalder Straße. Der Schachsport wartet weiter auf den ganz großen Durchbruch, was öffentliche Aufmerksamkeit betrifft, trotz medialen Hypes um Ex-Wunderkind und Weltmeister Carlsen in den vergangenen Jahren.

Der Zuspruch ist überschaubar, das Publikum überwiegend männlich, Rentner, Studenten. Pro Tag werden rund 200 Tickets verkauft. In Vip-Loungen sitzen Anzugträger. Experten wie Schachgroßmeister Georg Meier erklären Besuchern den Sinn der Züge, wenn denn schon keine deutschen Schachspieler in der Weltelite zu finden sind, geschweige denn beim ersten Kandidatenturnier in der deutschen Hauptstadt.

Am Samstag war Ruhetag. Es ist unabsehbar, wer nach dem 14-rundigen Turnier der Herausforderer von Magnus Carlsen sein wird. Der US-Amerikaner Fabiano Caruana liegt nach sechs Runden mit vier Punkten in Front, gemeinsam mit dem Aserbeidschaner Schachrijar Mamedjarow, Aufsteiger des vergangenen Jahres, Elo-Zweiter in der Welt, gefolgt von Grischuk, dem überraschend solide spielenden Chinesen Ding Liren, 25, und Routinier Kramnik, 42, der nach jener unsterblichen Partie in den folgenden drei Runden schwächelte, trotz diverser Matttricks.

Am Freitag zeigte Wesley Sos (USA) erster Sieg (gegen Aronian), dass hier wirklich jeder jeden schlagen kann. Lediglich der bislang sieglose Russe Sergej Karjakin – 2016 noch knapp unterlegener Gegner von Carlsen beim letzten Schach-WM-Match in New York – dürfte sich nach zwei Niederlagen am Tabellenende kaum ganz nach oben aufraffen.

Sicher ist auch, dass sich der Vermarkter Agon, im Auftrag des Weltschachverbandes Fide, bei der Veranstaltung, dem wichtigsten Schachturnier in Deutschland seit Jahrzehnten, an den ersten Tagen nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Spieler wie Grischuk klagten über Lärmbelästigung und mangelnde Sanitärmöglichkeiten. Das ist Berlin.

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