Fußball-WM 2018: Was Lothar Matthäus über Mesut Özil sagt, ist verantwortungslos
Die Nationalelf enttäuscht bei der Fußball-WM 2018 gegen Mexiko. Ihr ehemaliger Kapitän greift daraufhin Mesut Özil an. Ein neuer Tiefpunkt in einer abgründigen Debatte. Ein Kommentar.
Es ist schon ein paar Jahre her, da attackierte Lothar Matthäus seinen Nationalmannschaftskollegen Jürgen Klinsmann scharf: „Er denkt zu viel!“ Ein Vorwurf, den man Matthäus schon damals nicht machen konnte und heute auch nicht. Sonst hätte er sich wohl seine bizarre Ferndiagnose zu Mesut Özil verkniffen. Nach der 0:1-Auftaktniederlage bei der Fußball-WM 2018 konstatierte Matthäus nämlich: „Özil fühlt sich nicht wohl im DFB-Trikot.“ Es war dieses noch ein „tieferer Tiefpunkt“ (Rudi Völler) einer ohnehin an Abgründen nicht armen Debatte darüber, wie ein anständiger Nationalspieler im Jahre 2018 auszusehen und wie er sich zu betragen hat.
Die tobt in beeindruckender Intensität seit jenem Abend, an dem die Nationalspieler Özil und Gündogan auf die Idee kamen, sich lächelnd mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan ablichten zu lassen, einem Autokraten, der Journalisten und Oppositionelle einsperren lässt. Was die beiden Kicker entweder als naiv oder berechnend dastehen lässt, zugleich aber eine Debatte hervorrief, in der sehr schnell klar wurde, dass den meisten Diskutanten nicht an der türkischen Demokratie gelegen ist. Stattdessen wurde offenbar, dass vielen Fans Nationalspieler mit Migrationshintergrund immer noch höchst suspekt sind – zumal dann, wenn sie sich erdreisten, ihre familiären Ursprünge und Prägungen nicht zu verleugnen.
Manche dürfen alles, auch die schlimmsten Dinge tun, andere werden wegen kleinerer Sachen niedergemacht. Das ist unfair. Matthäus ist wirklich der letzte, der sich zu dem Fall äußern sollte.
schreibt NutzerIn lionfood
Denn das unterscheidet Özil und Gündogan von anderen Kickern mit Wurzeln im Ausland. Lukas Podolski etwa, der mit seinen Eltern aus Polen nach Deutschland kam, gab stets den Bergheimer Jungen mit kölschem Blut, so vorbildlich assimiliert, dass sie ihn in Köln gleich zum Prinz Poldi kürten. Die Rolle des vorbildlich integrierten türkischen Jungen, der es in Deutschland so gut hat, dass er gar nicht mehr an die Heimat seiner Eltern denkt – dieser Rolle hat sich Özil stets mit Recht verweigert. Da konnte die Kanzlerin noch so oft in die deutsche Kabine stürmen und ihn als Integrationswunder feiern.
Keine schlechte Idee von Özil, die Klappe zu halten
Vielleicht hätte sich Özil im Laufe der letzten Wochen mal erklären sollen. Angesichts der bisweilen arg ins Debile lappenden Diskussionsbeiträge war es aber wahrscheinlich auch keine schlechte Idee, die Klappe zu halten. Manches an der Debatte wirkt dabei im Jahr 2018 besonders befremdlich, etwa die Erregung darüber, dass Mesut Özil auch vor dem Anpfiff gegen die Mexikaner nicht das „deutsche Vaterland“ besingen wollte.
Es gibt offenbar wirklich Leute, die Nationalspielern grundsätzlich die Eignung für die Auswahl absprechen, wenn sie nicht inbrünstig und mit Hand auf dem Wappen die Nationalhymne schmettern. Erstaunlich, dass die deutsche Elf 1974 Weltmeister werden konnte, ohne zuvor kollektiv das „deutsche Vaterland“ zu preisen. Und wie es Toni Schumacher 1986 ins Finale geschafft hat, wo er doch während der Hymne nur stoisch Kaugummi kaute?
Leute wie Lothar Matthäus haben sich von schlüssigen Argumentationsketten längst verabschiedet. Es gab am Sonntag eine ganze Menge Spieler, die sich im Nationaltrikot nicht wohlzufühlen schienen. Müller, Khedira, Kroos und viele andere. Sich Özil herauszupicken, ist verantwortungslos und chauvinistisch. Aber was will man schon erwarten von Lothar Matthäus, dem Mann, der Denken als Schwäche sieht.
Philipp Köster ist Geschäftsführer und Chefredakteur des Fußballmagazins „11FREUNDE“. Hier schreibt er im Wechsel mit Harald Stenger, Frank Lüdecke, Nadine Angerer, Jens Hegeler, Sven Goldmann und Roman Neustädter.
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