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Bundestrainer Joachim Löw gibt Anweisungen am Spielfeldrand.
© AFP

DFB-Team bei der Fußball-WM 2018: Aus der Gegenwart gefallen

Alt, fahrig, selbstgefällig und unbelehrbar bei der Fußball-WM 2018: Die deutsche Mannschaft hat nicht aus ihren Fehlern gelernt. Ist eine große Fußballer-Generation am Ende?

Joachim Löw erschien auf den Bildschirmen in der Mixed-Zone, er hatte gerade ein paar Meter weiter seine Pressekonferenz begonnen, aber zu hören war er nicht. Nur vor einem Fernseher, bei dem der Ton nicht abgestellt war, drängten sich ein paar Menschen, um der Analyse des Bundestrainers zu lauschen. Doch die Technik streikte: Löw hörte sich an wie eine springende CD. „… Spiel verloren …“, „… Spiel verloren …“, „… Spiel verloren …“ Der Bundestrainer stotterte, so wie auch das Spiel seiner Mannschaft gestottert hatte.

War diese 0:1-Niederlage des Weltmeisters gegen Mexiko nur eine kleine technische Panne? Oder muss man schon von einem gravierenden Softwareproblem im Spiel der Deutschen ausgehen? Ein Zeichen hatten sie setzen wollen. Das gelang ihnen. Dummerweise war es kein Ausrufezeichen – es war ein großes Fragezeichen.

Als die Sonne über dem Luschniki-Stadion langsam unterging und die deutschen Spieler vom Feld schlichen, überkam einen das Gefühl, dass gerade etwas zu Ende gegangen war. Dass es zumindest der Anfang von einem Ende gewesen sein könnte. Der Geschichte einer großen deutschen Fußballergeneration nämlich, die vor acht Jahren, bei der WM in Südafrika, losgelegt hatte, als wolle sie die Fußballwelt aus den Angeln heben; die sich vor vier Jahren in Rio mit dem WM-Titel krönte und seit Wochen und Monaten davon redet, dass sie Historisches leisten wolle – mit der Wiederholung des Titelgewinns. Es ist die Generation um Neuer und Boateng, Hummels und Müller, Khedira und Özil.

Neun Weltmeister von 2014 noch dabei

Neun Weltmeister aus Brasilien gehören in Russland dem Kader an, acht von ihnen standen gegen Mexiko in der Startelf; nur Matthias Ginter, der schon 2014 keine Minute gespielt hatte, fehlte. Doch wenn man sich die Leistungen von Sami Khedira und Thomas Müller anschaute, die beim Titelgewinn vor vier Jahren echte Stützen des Teams gewesen waren, dann waren die Weltmeister von 2014 eher Teil des Problems als ihrer Lösung.

An diesem Abend im Juni 2018 wirkte es im Luschniki, wo in vier Wochen der Nachfolger der Deutschen gekürt wird, als sei die Zeit über eine große und stolze Mannschaft hinwegweht. Und über ihren Trainer gleich mit. Die Mannschaft wirkte alt und schwergängig, der Trainer überfordert und irgendwie erschöpft. „Wir konnten das Tempo nicht hochhalten, keinen Druck ausüben, waren ein bisschen ratlos, was wir machen sollten“, sagte Manager Oliver Bierhoff.

Das alles ist nicht allein in dieser einen Nacht passiert, es ist das Ergebnis einer Entwicklung, die niemand so richtig wahrhaben wollte, schon gar nicht die Betroffenen. „Wir werden bereit sein“ – mit diesem Mantra hat Löw die schwachen Spielleistungen während der Turniervorbereitung beiseitegeschoben und eine inhaltliche Auseinandersetzung öffentlich gar nicht erst zugelassen. Auch die Spieler setzten vor allem auf die Kraft der Vergangenheit. Bisher war es noch immer gut gegangen, wenn sie nur lange genug unter Löw an Inhalt und Form arbeiten konnten, allen schwachen Testspielen unmittelbar vor den großen Turnieren zum Trotz. Doch diesmal ließ der obsessive Optimismus den Kosmos Nationalmannschaft irgendwie entrückt erscheinen: als habe sich das Team komplett von der Realität abgekoppelt.

Die Realität ist, dass das Team von den jüngsten sieben Länderspielen ein einziges gewonnen hat. Gegen Saudi-Arabien. Mit 2:1. Die Realität war auch am Sonntag erschreckend. Mit einfachen Mitteln, aber äußerst wirkungsvoll, legten die Mexikaner die Schwachstellen des Weltmeisters bloß – mit Leidenschaft, Wille und Überzeugung.

Löw muss sich schon den Vorwurf gefallen lassen, von Juan Carlos Osorio, einem international wenig bekannten Trainer, förmlich überrumpelt worden zu sein. „Wir haben aus der Liebe zum Sieg gespielt und nicht mit der Angst auf Verzicht“, sagte Osorio. Genau das hat der Weltmeister vermissen lassen, die Liebe zum Sieg und die Hingabe, die dafür erforderlich ist. Entweder hat das Team Spiel oder Gegner nicht ernst genommen oder, schlimmer noch, das eigene Können überhöht. Das gilt nicht nur für die Spieler.

Löws Mannschaft tappte wieder und wieder in die Fallen, die der Gegner aufgestellt hatte. Er war nicht vorbereitet auf den Plan der Mexikaner. Er hatte sie anders erwartet. Noch erschreckender war allerdings, dass Löw ihrem Treiben eine Stunde lang tatenlos zusah. „Ich war überrascht, dass wir gerade so agiert haben, wie wir agiert haben“, sagte Offensivspieler Julian Brandt.

In den wenigen Interviews, die der Bundestrainer im Anlauf auf die WM gegeben hat, hat er sich allzu gern als „Entwickler“ dargestellt, als jemand, der Visionen hat, der um die Welt reist, sich von anderen Fußballstilen inspirieren lässt, fremde Einflüsse in sich aufsaugt und daraus Konsequenzen für das eigene Spiel zieht. Kurz vor der WM hat er seinen Vertrag mit dem Deutschen Fußball- Bund bis 2022 verlängert. In der Folge war viel von der Zukunft der Nationalmannschaft die Rede. Gegen die Mexikaner schien es vor allem, dass Joachim Löw die Gegenwart ein wenig aus den Augen verloren hat – dass er mit dem Hier und Jetzt schlichtweg überfordert war.

Bekannte Probleme

Die Probleme seiner Mannschaft müssten ihm jedenfalls bekannt vorgekommen sein. Es waren die gleichen wie schon in den Spielen gegen Saudi-Arabien und Österreich: mangelnde Kompaktheit, leichte Ballverluste, fehlende Absicherung. „Es ist ziemlich einfach: Wir haben wie gegen Saudi-Arabien gespielt – nur gegen einen besseren Gegner“, sagte Mats Hummels, der mit seinem Innenverteidigerkollegen Jerome Boateng die Versäumnisse in letzter Linie auszubügeln versuchte. „Wir waren hinten alleine“, klagte Boateng. „Dass wir in der ersten Hälfte vier, fünf solche Konter kriegen, das ist nicht normal.“

Auf eins konnte sich die Mannschaft in der Vergangenheit eigentlich immer verlassen: auf ihre gesunden Reaktionskräfte. Sie war in der Lage, krasse Fehler von einem Spiel aufs andere abzustellen. Doch diese Fähigkeit scheint dem Team abhandengekommen zu sein. „Natürlich ist unsere Konteranfälligkeit offensichtlich“, gab Thomas Müller zu. „Wir haben aber in den letzten zwei Wochen nicht faul rumgelegen, sondern haben versucht, daran zu arbeiten.“

Über die Mängel wurde auch ausführlich geredet, „wir haben oft genug aufgezeigt, was wir falsch machen“, berichtete Boateng. Das Spiel gegen Saudi-Arabien war gemeinhin als letzter Weckruf empfunden worden. Doch anstatt endlich aufzustehen, drückte die Nationalmannschaft auf die Schlummertaste und drehte sich noch einmal um. Am Ende wirkte sie noch geräderter. „Wenn sich Muster wiederholen, muss man natürlich tiefer gehen“, sagte Bierhoff.

Es ist erst ein Jahr her, da hat Löw mit einer von seinen Weltmeistern weitgehend befreiten Mannschaft Mexiko im Halbfinale des Confed-Cups mit 4:1 geschlagen. Die Nachwuchsauswahl gewann das Turnier am Ende sogar, weshalb alle Welt glaubte, dass Deutschland in Topbesetzung zwangsläufig der große WM-Favorit sei. Toni Kroos war einer der wenigen, der dem Spuk keinen Glauben schenken wollte. Bereits im März, nach der Niederlage gegen Brasilien, sagte er, dass die Mannschaft nicht so stark sei, wie sie gesehen werde. Das Gerede von der Favoritenrolle sei schon vorher „Quatsch“ gewesen und nach dem Spiel erst recht. Natürlich war das auch eine Botschaft an die eigene Mannschaft. Offensichtlich ist sie noch nicht überall angekommen.

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Wer den Tross des Weltmeisters in den vergangenen drei Wochen begleitet hat, muss zu dem Eindruck kommen, dass sich rund um das Team eine gewisse Selbstgefälligkeit breit gemacht hat. Unbequeme Fragen nach Fitness und Form, nach mentaler Frische und Formation, hat der Bundestrainer lapidar ins Abseits laufen lassen. Bereits seine erste öffentliche Ansprache zu Beginn des Trainingslagers in Südtirol hatte nichts Inspirierendes. Hunger und Gier seien in der Mannschaft ausreichend vorhanden, verfügte er, gerade bei seinen erfahrenen Spielern.

Durchschnittsalter von 27 Jahren und 310 Tagen

Nach dem Spiel gegen Mexiko ist Löw gefragt worden, ob er nicht besser seine junge Confed-Cup-Mannschaft hätte spielen lassen anstelle der in die Jahre gekommenen Weltmeister. „Wir haben keine zu alte Mannschaft“, antwortete der Bundestrainer einsilbig. Dabei war die Startelf mit einem Durchschnittsalter von 27 Jahren und 310 Tagen nicht nur die älteste seiner Amtszeit; es war auch die älteste, seitdem Jürgen Klinsmann vor 14 Jahren angefangen hat, den deutschen Fußball in die Moderne zu überführen. Älter war die Nationalmannschaft zuletzt 2002, im WM-Finale von Yokohama, unter Teamchef Rudi Völler.

Löw besitzt in seinem Kader durchaus Optionen, um auf die Minderleistung zu reagieren. Matthias Ginter könnte als Rechtsverteidiger für Joshua Kimmich auflaufen, der gegen Mexiko den Eindruck erweckte, dass er das Verteidigen für nicht besonders wichtig erachtet. Für die Innenverteidigung wären Niklas Süle und Antonio Rüdiger Kandidaten, weil sie nicht nur schnell sind, sondern auch körperlich fit. Marco Reus käme als Ersatz für den fahrigen Thomas Müller in Frage. Und fürs defensive Mittelfeld gäbe es mit Leon Goretzka oder Ilkay Gündogan Spieler, die im Umgang mit dem Ball deutlich geschmeidiger sind als Sami Khedira.

Kein Freund von radikalen Lösungen

Wer Löw kennt, weiß, dass er vor radikalen Lösungen zurückschreckt. Es wäre untypisch für ihn, wenn er das Team am Samstag, im zweiten Gruppenspiel gegen Schweden, personell komplett umkrempelte. „Ich halte wenig davon, über eine Person den Stab zu brechen“, sagte auch Manager Bierhoff. „Das war keine singuläre Sache von zwei oder drei Spielern, die nicht funktioniert haben.“ Es war ein Problem der gesamten Mannschaft, das nun das gesamte Projekt Titelverteidigung in Frage stellt. „Statt vier möglichen K.-o.-Spielen haben wir jetzt zwei dazu bekommen“, sagte Thomas Müller. Jede weitere Niederlage würde das Aus bedeuten. Drei der jüngsten vier Weltmeister sind schon in der Vorrunde gescheitert. Dieses Schicksal droht auch den Deutschen, wenn sie es nicht schaffen, ihre Mängel zu beheben.

Das Dumme ist, dass sie der Welt gezeigt haben, wie man dem Weltmeister begegnen muss und der Konkurrenz eine leicht verständliche Gebrauchsanweisung geliefert haben.

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