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Urs Fischer, 52, ist seit dieser Saison Trainer des 1. FC Union Berlin. Zuvor gewann er mit dem FC Basel das Double in der Schweiz und arbeitete viele Jahre als Spieler und Trainer beim FC Zürich.
© Britta Pedersen/dpa

1. FC Union Berlin: Urs Fischer: "Erwarten darfst du überhaupt nichts"

Der Schweizer Trainer des 1. FC Union über das Spitzenspiel am Montag beim Hamburger SV, Druck im Profisport, "Angsthasen-Fußball" und Sprachprobleme.

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Herr Fischer, wie gut kennen Sie die Zweitliga-Historie?

Schlecht. Das gilt aber auch für die Geschichte der Schweizer Liga. Ich beschäftige mich nicht wirklich mit der Historie, mich interessiert eher die Gegenwart.

Ihr Team ist in den ersten 13 Ligaspielen ungeschlagen geblieben. Wissen Sie, wie vielen Mannschaften das seit Einführung der eingleisigen Zweiten Liga 1981 gelungen ist?

Puh, das gab es bestimmt schon mal, aber fragen Sie mich nicht, wie oft.

Zwölf Mannschaften haben das bisher geschafft.

Das ist doch eine ganze Menge. Ich glaube schon, dass der eine oder andere dann auch aufgestiegen ist.

Alle zwölf sogar. Spricht irgendetwas dagegen, dass Union diese Serie fortsetzt?

Ja, Köln und der HSV sprechen dagegen.

Als Dritter könnte man ja auch aufsteigen.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass bei den Relegationsspielen der Bundesligist meistens die Oberhand behält, oder?

Sie haben Recht. In 15 von 20 Fällen setzte sich der Erstligist durch. Der letzte siegreiche Zweitligist hieß Düsseldorf, 2012 gegen Hertha.

Ja, sehen Sie. Ich bleibe dabei: Köln und Hamburg müssten die zwei Spitzenpositionen belegen, wenn es normal läuft. Das Schöne am Fußball ist: Nicht nur Union, sondern zehn bis zwölf andere Mannschaften haben etwas dagegen. Es ist weiterhin eng, die Abstände sind klein. Wenn ich mir die Tabelle anschaue – das ist Wahnsinn. Wenn du ein, zwei Spiele gewinnst, bist du oben; wenn du verlierst, wirst du durchgereicht.

Hatten Sie bei Ihrer Ankunft im Sommer erwartet, dass es von Beginn an so gut läuft?
Erwarten darfst du im Fußball überhaupt nichts. Du arbeitest dafür, dass deine Vorstellungen, unsere Vorstellungen, zum Vorschein kommen. Es war ein recht großer Umbruch im Sommer. Bis gewisse Abläufe funktionieren, dauert es einfach. Dass wir jetzt da stehen, wo wir stehen, zeigt, dass alle hier gute Arbeit geleistet haben.

Man hat Sie aber schon mit der Aussicht hergelockt, dass Sie um Spitzenplätze mitspielen können, oder?

Was heißt schon hergelockt? Das war für mich keine Voraussetzung. Entscheidend waren die Eindrücke aus den Gesprächen mit dem Präsidenten und dem Sportdirektor. Auch, dass die Infrastruktur vorhanden ist - und die ist wirklich sehr gut -, dass ein Kader zur Verfügung steht, mit dem du arbeiten kannst. Wenn du mit der Erwartungshaltung in die Saison gehst, mit diesen Spielern musst du aufsteigen, dann ist das gefährlich. Fußball ist nicht planbar.

Ihr Team hat mit Abstand die wenigsten Gegentore in der Zweiten Liga kassiert. Wie wichtig ist eine stabile Defensive für erfolgreichen Fußball?
In keinem unserer Spiele, auch nicht im Pokal, haben wir unsere Mannschaft defensiv eingestellt. Was stimmt: Die Mannschaft arbeitet nach Ballverlust einfach sehr solidarisch, kommt schnell hinter den Ball und löst Situationen im Moment sehr gut. Aber auch dann braucht es natürlich noch das nötige Wettkampfglück. Beim letzten Spiel gegen Fürth habe ich eine Rettungsaktion von Ken Reichel im Kopf: Nach einem Ball von links grätscht er noch dazwischen, das ist eigentlich ein sicheres Tor, aber Ken hat das dann sehr gut gelöst.

In der Abwehr und im defensiven Mittelfeld stellen Sie fast immer dieselben Spieler auf, während Sie vorn viel rotieren lassen. Sind Abstimmung und Automatismen in der Defensive wichtiger als in der Offensive?

Schwer zu sagen. Darüber habe ich mir noch nie wirklich Gedanken gemacht. Aber dafür seid ihr Journalisten ja da. Ich, als Trainer, sehe das wahrscheinlich etwas pragmatischer.

Als Pragmatiker galten Sie auch in der Schweiz, als bodenständiger Arbeiter. Was heißt das konkret?

Pragmatismus? Das weiß ich auch nicht genau. Bodenständig ist da einfacher zu erklären. Für mich heißt das, dass du mit beiden Füßen trotz allem auf dem Boden und einfach authentisch bleibst.

Überträgt sich das auch auf den Fußball, den Sie spielen lassen? In Basel betitelten Zeitungen die Spielweise Ihres Teams auch als "Angsthasen-Fußball" - trotz Ihrer Erfolge.

Haben Sie sich mal die Statistik meiner zwei Jahre in Basel angeschaut?

Sie gewannen in zwei Jahren zwei Meisterschaften und einmal den Pokal.

Von 72 Spieltagen waren wir 71 an der Spitze, und das erste Spiel hatten wir 3:0 gewonnen, eine andere Mannschaft 4:1. Sonst wären wir in allen 72 Runden vorne gewesen. Dann haben wir noch einen absoluten Punkte- und einen absoluten Torrekord aufgestellt. Da soll mir mal jemand nur ansatzweise etwas von Angsthasen-Fußball erklären. Mehr muss ich ja eigentlich gar nicht sagen!

Nervt Sie das Gerede?

Nein, jeder darf behaupten, was er möchte. Aber wenn man etwas behauptet, sollte man es auch mit Fakten belegen. Ich glaube, dann erübrigt sich manchmal jegliche Aussage. In der Schweiz wurde ich auch schon als beleidigte Leberwurst bezeichnet. Da gab es sogar eine Karikatur in der Zeitung, das war ein Highlight (lacht). Ich mache mir da aber keinen großen Kopf.

Stumpft man nach vielen Jahren in diesem Geschäft ab? Es hieß, Sie hätten sich nach einer Meisterschaft mit Basel kaum noch gefreut.

Ich? Ganz sicher nicht, aber die Leute! Basel war acht Mal in Serie Meister, da stumpft man ab. Ich habe nur zwei Meisterschaften geholt und im zweiten Jahr das Double. Wenn ich irgendwann so weit bin, dass ich mich über solche Erfolge nicht mehr freue, muss ich aufhören.

Am Montag treten Sie vor mehr als 50.000 Zuschauern in Hamburg an. Ist das auch für einen Trainer mit Champions-League-Erfahrung noch etwas Besonderes?
Ja, wenn du zum Tabellenführer fährst, ist das schon speziell. Dazu ist es noch der HSV, die waren vorher nie abgestiegen, dieses Duell gibt es jetzt zum ersten Mal.

Wie sehr hat sich der HSV nach dem Trainerwechsel verändert?

Ich schaue mir fast alle Spiele an und weiß ungefähr, wie sich die Teams präsentieren. Unter Christian Titz hat der HSV eher auf Ballbesitz gespielt, jetzt legt Hamburg etwas weniger Wert darauf, sucht den Weg nach vorne noch zielstrebiger und versucht, die Umschaltsituationen zu nutzen.
Hat Sie der Trainerwechsel beim HSV, der zu dem Zeitpunkt auf Platz drei stand, überrascht?

Am Schluss ist das eine Entscheidung des Vereins. Wer sieht aus der Entfernung schon, was da wirklich los ist? Wir Trainer wissen, in welchem Business wir uns bewegen. Im Kopf habe ich das aber nicht, sonst könnte ich diesen Beruf nicht ausüben, das würde mich kaputt machen.

"Ich habe 45 Jahre lang geglaubt, 'Besammlung' wäre ein deutsches Wort"

In Basel gewann Urs Fischer zweimal die Meisterschaft, damals in seinem Team: der heutige Schalker Breel Embolo.
In Basel gewann Urs Fischer zweimal die Meisterschaft, damals in seinem Team: der heutige Schalker Breel Embolo.
© Peter Klaunzer/dpa

Nach Hamburg fahren fast 6000 Union-Fans mit. Kennen Sie eine solche Fankultur von ihren vorherigen Stationen?

So wie bei Union habe ich das noch nicht erlebt. Was die Leute in Kauf nehmen, um Teil des Ganzen zu sein, das geht schon in Richtung Kult. Als ich am Freitag um zehn vor sieben am Morgen ins Büro gekommen bin, standen schon Leute für Tickets für das Weihnachtssingen an – und der Verkauf startete um elf. Das muss man sich mal vorstellen.

Wie haben Sie sich sonst in Berlin eingelebt?

Die erste Zeit im Hotel war schon schwierig und auch etwas zu lang. Das hat an der Substanz gezogen. Mit dem Wohnungseinzug wurde das alles einfacher, dann bist du auch endlich zu Hause. Das ist wichtig für den Kopf. Meine Familie hat mich ein paar Mal besucht, das macht viel aus.

Ihre Familie wohnt noch in Zürich. Wie oft fliegen Sie an den trainingsfreien Tagen in die Heimat?

Das kommt immer auf das Programm an. Das nächste Mal fliege ich erst Mitte Dezember in die Schweiz. Morgens nach Zürich zu fliegen und abends wieder zurück, Entschuldigung, aber da rufe ich meine Frau lieber an, heute gibt es ja Dinge wie Facetime.

Bleibt also noch genug Zeit für ihr großes Hobby - Bachforellen fangen?

Eben nicht. Mit meinem Co-Trainer Markus Hoffmann war ich erst zweimal draußen. Man muss einfach Prioritäten setzen. Da steht Union eher an erster Stelle und nicht das Fliegenfischen. Das hat ein bisschen gefehlt, weil Hobbys für das Mentale wichtig sind. Entzugserscheinungen habe ich aber noch nicht.

In der Schweiz sagt man, "Zürcher händ a grossi Schnurrä", eine große Klappe. Wie viel "Zürischnurre" haben Sie nach Berlin mitgenommen?

"Zürischnurre" heißt eigentlich, dass jemand viel redet und es manchmal vielleicht schlauer wäre, etwas weniger zu sagen. Ich glaube aber nicht, dass ich hier in Berlin als Vielredner wahrgenommen werde.

Wie groß ist der Unterschied zwischen Zürich und Berlin?

Ich hatte immer das Gefühl, ich komme aus einer Großstadt. Und das ist in der Schweiz auch so. Im Vergleich zu Berlin ist Zürich aber ein Dorf. Köpenick hat 350 000, 400 000 Einwohner, das ist die Größe der Stadt Zürich. Das ist Wahnsinn.

Dazu die sprachliche Umstellung.

Ich muss mich jeden Tag weiterbilden. Es ist fast so, als müsste ich Englisch sprechen. Wir hatten Hochdeutsch natürlich auch in der Schule, ich muss mich trotzdem konzentrieren. Ich habe der Mannschaft mal im Kreis gesagt, morgen ist "Besammlung" um 10 Uhr. Die haben mich nur fragend angeschaut.

Besammlung?

Das heißt Treffpunkt, ich habe aber 45 Jahre geglaubt, das wäre ein deutsches Wort. Pendenzen ist auch so ein Fall.

Und heißt?
Das ist liegengebliebene Arbeit. Manchmal benutzt du so einen Begriff und die Leute schauen dich nur an. Das Größte für mich ist aber, wenn ich RBB schaue und die meine Aussagen noch mit Untertiteln versehen. Dann weiß ich, dass ich noch üben muss.

Der Konkurrenzkampf bei Union ist enorm. Wie viel Fingerspitzengefühl und Kommunikation erfordert es, so viele Egos bei Laune zu halten?

Natürlich helfen dir auch die Resultate. Ein gewisses Gerüst ist mit Gikiewicz, Friedrich, Hübner, Trimmel, Schmiedebach und Prömel ja da. Ansonsten habe ich aber nicht so schlecht rotiert und versuche, dass die Stimmung gut bleibt.

Es gibt Spieler wie Eroll Zejnullahu, die noch gar nicht zum Einsatz kamen.

Das ist nicht einfach, aber als Profi weißt du, worauf du dich einlässt. Sonst musst du eine Einzelsportart betreiben und nicht Fußball. Wichtig für mich ist, dass die Spieler bereit sind, wenn sie gebraucht werden. Ich erinnere mich da an meine eigene Spielerkarriere. Als mich der Trainer mal draußen gelassen hat, war das für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Deshalb habe ich Verständnis für die unterschiedlichen Reaktionen der Spieler.

Zu Ihrer Zeit waren die Hierarchien klarer - und solche Entscheidungen damit leichter zu fällen?

Ich habe tatsächlich noch die Schuhe der älteren Spieler geputzt. Vielleicht hatten wir damals noch nicht so viel Selbstvertrauen in die eigenen Qualitäten wie heute, mehr Ehrfurcht vor den arrivierten Spielern. Heute kommen die Jungs daher und haben eine Meinung, aber das ist doch gut so. Es hat sich einiges verändert und da musst du dich auch anpassen. Wir managen das aber nicht so schlecht, denke ich.

Sie haben der "Neuen Zürcher Zeitung" mal gesagt, dass Sie nach Ihrer Entlassung in Basel "verrückte Angebote aus dem Ausland" erhalten haben. Hat die Kategorie AC Mailand angerufen?

Nein. Da ging es eher um Länder, in denen Fußball noch nicht so den Stellenwert hat wie bei uns. Das ging bis Australien und hätte auch seinen Reiz gehabt.

Aber Sie waren dafür zu bodenständig?

Nein, gar nicht. Aber es wäre ein anderer Kontinent gewesen, 27 Stunden Flugzeit. Mir war wichtig, in der Nähe der Familie zu sein. Das ist ein wichtiger Faktor, damit du gut arbeiten kannst. Von Tegel gibt es viele Flieger nach Zürich, eine Stunde zehn Flugzeit. Das ist fast wie Busfahren.

Das Gespräch führten Julian Graeber und David Joram.

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