Doping im Spitzensport: Tour de France: Wir Selbstbetrüger
Vor der Tour de France 2015 positionierten sich viele deutsche Fahrer deutlich gegen Doping. "Ist damit alles wieder gut?" fragt Johannes Nedo in seinem Essay: "Was reden wir Fans uns da eigentlich ein? Und warum?"
Die Begeisterung ist grenzenlos. Als die Radprofis auf ihren Rennmaschinen die Startrampe herunterrollen, als sie in hohem Tempo mit ihren windschnittigen Helmen über die Grachtenbrücken rauschen, als sie sich durch die Kurven nahe des Utrechter Doms schlängeln und als sie auf der Zielgeraden mit den letzten wackligen Pedaltritten um die entscheidenden Sekunden kämpfen. Überall an der Strecke werden sie bejubelt. Von zehntausenden ausgelassenen Zuschauern. Es ist ja auch ein Spektakel am Samstag beim Prolog. Die Tour de France hat wieder begonnen. Das größte, faszinierendste und härteste Radrennen der Welt. Es begeistert einfach. Und dieser Begeisterung kann man sich nur schwer entziehen.
Das haben nun auch die Verantwortlichen der ARD gemerkt. Der öffentlich-rechtliche Fernsehsender überträgt die Tour de France in den nächsten drei Wochen wieder live. Drei Jahre nachdem er sich gemeinsam mit dem ZDF von der Live-Berichterstattung zurückgezogen hatte. Hauptgrund damals war dieses entsetzliche Doping, das im Radsport die Oberhand gewonnen hatte. Hauptgrund für die Rückkehr heute ist laut ARD, weil das Publikum es sich wünscht – und weil die neue Generation deutscher Fahrer sich so deutlich gegen Doping positioniert. Dann muss ja alles wieder gut sein.
Denkste, sagt Jörg Jaksche. Der ehemalige Radrennfahrer gestand 2007, während seiner Karriere gedopt zu haben – unter Anleitung seiner Ärzte und Betreuer. Wenn junge deutsche Athleten nun offensiv behaupten, sie seien sauber, „dann kann ich das nicht allen abnehmen“, betont der 38-Jährige, der mittlerweile BWL studiert. Zu stark sei Doping im System Radsport verankert. Und Jaksches These wird ja allein mit einem Blick auf das Feld der Tour de France gestützt: überführte Doper wie Alberto Contador fahren mit. Der skandalumwitterte Astana-Rennstall schickte den niederländischen Radprofi Lars Boom ungeachtet dessen auffälliger Cortisol-Werte an den Start der 102. Frankreich-Rundfahrt. Und im Hintergrund werkeln noch immer Team-Chefs mit dunkler Doping-Vergangenheit.
Warum hängen wir so sehr an die Sauberkeit?
Uns, das Publikum, scheint das nicht zu stören. Warum sonst haben sich die TV-Zuschauer so zahlreich an die ARD gewandt und eine Rückkehr gefordert? Wieso möchten wieder so viele zugucken? Warum wollen wir so sehr an die Sauberkeit und Selbstreinigungskraft des Sports glauben, obwohl die Doping-Verfehlungen so offensichtlich sind? Und das gilt ja nicht nur für den Radsport. Auch in zahlreichen anderen, überaus populären Sportarten ist es erwiesen, dass mit Doping betrogen wird: in der Leichtathletik, beim Schwimmen und natürlich auch beim Fußball.
Warum also betrügen wir uns selbst? Schauen begeistert hin, obgleich wir es doch eigentlich besser wissen? Das hat viel mit unserem Bild vom Sport zu tun. Denn wir haben ein sehr ideelles Bild davon. „Der Sport ist für uns eine moralische Gegenwelt zur Wirklichkeit“, sagt der Sportsoziologe Karl-Heinrich Bette. „Es ist eine Welt, in der ehrliche Leistung noch ehrlich belohnt wird.“ Eine einfache Welt. Wo ist das noch so heutzutage? In der Wirtschaft? Nein, viel zu komplex. In der Politik? Nein, viel zu undurchschaubar. In der Religion? Nein, viel zu transzendental. In der Kunst? Nein, viel zu abstrakt. „Der Sport hingegen ist ganz konkret“, betont Bette, Professor an der Technischen Universität Darmstadt.
Der Wunsch nach Helden
Auch der Sportphilosoph Gunter Gebauer sieht in der Einfachheit des Sports seine große Strahlkraft. „Es ist ein Wettkampf der Körper, den wir ganz klar mit unseren Augen sehen – und das ist so offensichtlich und überzeugend, dass wir uns denken: Da kann man doch nicht täuschen“, sagt der Professor von der Freien Universität Berlin. Hinzu kommt, dass wir uns nach Helden sehnen. Nach einwandfreien Menschen, die aus eigener Kraft triumphieren. Die etwas Großes erreichen und eine hohe Selbstwirksamkeit besitzen. Wir alle streben danach. Und an wem können wir uns noch orientieren, wenn nicht an Sportlern? Gerade in einer Zeit, in der es so wenig überzeugende Persönlichkeiten gibt, denen wir nacheifern wollen. In der Wirtschaft? Nein, so viele Firmenchefs haben gezeigt, dass sie unfähig sind. In der Politik? Nein, so viele Politiker gelten höchstens als Dampfplauderer. In der Religion? Nein, kaum jemand hört doch wirklich noch auf den Papst. In der Kunst? Nein, so viele Künstler kämpfen damit, überhaupt ernst genommen zu werden. Es bleiben also die Sportler. Sie sind doch die Einzigen, die allein mit ihrem Körper Wunderbares und Nachvollziehbares vollbringen.
„Wir wollen uns von ihnen und ihren Leistungen berauschen lassen“, sagt Gebauer. Darum erwarten wir auch immer wieder Taten, die weit über das Gewöhnliche hinausgehen. Wir gieren nach dem Besonderen, nach Wundern. Und auch die liefert uns am besten der Sport. „Rekorde sind die Logik des Sports“, sagt Bette. Nicht umsonst geht es bei Olympia zunächst um: schneller, höher, stärker, weiter. Und nicht um: Dabei sein ist alles. Der Sport suggeriert uns, dass immer noch mehr, immer noch etwas Besseres möglich ist. Auch das können andere Bereiche unserer Gesellschaft kaum liefern.
Wir können nicht die ganze Zeit Verlierern zuschauen
Weil wir allerdings ständig noch nie Dagewesenes und Außergewöhnliches miterleben wollen, treiben wir die Athleten zu Doping an. Noch schneller sollen die Radfahrer den steilen Anstieg nach l’Alpe d’Huez hinaufrasen, noch schneller sollen sie auf den Champs-Élysées entlangsprinten. Wir wollen begeistert werden. Wir wollen teilhaben an ihren Erfolgen, und uns davon auch ein bisschen erheben lassen. Und damit setzen wir die Sportler unter Druck. Denn nichts ist für sie gefährlicher, als uns zu enttäuschen, indem sie verlieren. Seien wir mal ehrlich: Das Publikum hasst auf Dauer die Verlierer. Wir können nicht die ganze Zeit Verlierern zuschauen. Wie die Sportler es dann anstellen, dass sie gewinnen, ist uns doch egal. Wir wollen gut unterhalten werden. Wir wollen betrogen werden. „Der Zuschauer will nur die Vorderbühne sehen und nicht die Hinterbühne“, sagt Bette. „Er will nicht einmal wissen, dass es eine Hinterbühne gibt.“ Gebauer vergleicht diese Verdrängung mit einer jungen Frau, die von einem Heiratsschwindler umgarnt wird, aber stets hofft, dass er doch ehrlich zu ihr ist. „Wir glauben immer daran, dass es doch irgendwie noch gut ausgehen möge“, betont er. Dieser Glaube an das Außergewöhnliche sei stärker als der Glaube an gute Charaktere.
Genau deswegen schalten wir auch wieder bei der Tour de France ein, findet Jörg Jaksche. „Es ist eben Entertainment, und das muss weitergehen.“ Die Realität wird verklärt und sich schöngeredet. „Man macht es sich ganz einfach, wenn man das Dopingproblem nur personifiziert“, sagt der frühere Radprofi. Doch es ist eben ganz und gar nicht so, dass nur weil Lance Armstrong und Jan Ulrich nicht mehr mitfahren, nun nicht mehr gedopt wird.
Natürlich gibt es auch mal einen Aufschrei, wenn ein Betrüger auffliegt. Weil unser Voyeurismus eben auch groß ist. Aber dieser Aufschrei währt nur kurz. Jaksche hofft daher auf eine neue, mündige Zuschauer-Generation. Auf Zuschauer, die unterhalten werden wollen, aber mit einem kritischen Blick. Auf Zuschauer, die den Sport nicht so ernst nehmen. Doch Jaksche weiß auch, dass dies nicht sehr realistisch ist. Er sieht ja, wie die Bedeutung des Sports immer weiter steigt. Wie der Sportkalender voller und die Aufmerksamkeit höher wird.
„Der Spitzensport ist so notwendig, weil er so überflüssig ist“, sagt Bette. Wir brauchen diese harmlose Begleitung unseres Alltags. Und weil wir es so brauchen, schauen wir bei unangenehmen Dingen wie Doping nicht so genau hin. Oder übersehen es einfach. „Sonst wäre das Leben nicht erträglich“, sagt Bette. So gesehen hat es also sogar einen Sinn, sich selbst in die Tasche zu lügen.
Wie wirkt sich die Doping-Problematik auf ihren Sportkonsum im Fernsehen aus? Wäre das Leben vielleicht auch ohne Sportveranstaltungen erträglich? Und was halten Sie davon, dass die ARD wieder live von der Frankreich-Rundfahrt berichtet? Nutzen Sie die Kommentarfunktion unter dem Artikel und diskutieren Sie mit.
Johannes Nedo