Interview mit Ex-Fifa-Präsident: Sepp Blatter: „Merkel sprang auf“
Der Schweizer spricht über besondere Einladungen, die WM 2022 in Katar, unkluge Momente von Kanzlerin Angela Merkel und seinen Nachfolger.
Herr Blatter, wo werden Sie die Spiele der WM in Russland verfolgen?
Die meisten auf der Großbildleinwand in meinem Haus in Zürich. Aber ich habe auch eine Einladung des Staatspräsidenten bekommen.
Des Schweizer Präsidenten?
Nein, Monsieur Putin hat mich eingeladen.
Die Fifa hat Sie 2016 für sechs Jahre vom Fußballbetrieb suspendiert.
Diese Suspension bezieht sich nur auf die Aktivität auf dem Rasen: Ich darf kein Spieler, kein Trainer, kein Schiedsrichter sein. Aber ein Stadion darf ich selbstverständlich betreten.
Werden Sie WM-Spiele an der Seite von Putin live im Stadion verfolgen?
Wenn er mir diese Ehre erweist. Der Staatschef entscheidet, wie das Programm aussieht.
Hat es Sie nie genervt, ständig an der Seite von Staatsleuten Fußball zu schauen, die gar keine Ahnung vom Spiel haben?
Ein bisschen Ahnung haben sie alle. Politiker brauchen den Fußball schließlich, denn er begeistert die Menschen. Und wo Begeisterung ist, zeigen sich Politiker gern. Aber ich gebe zu, als ich in Anwesenheit des japanischen Kaisers das WM-Finale 2002 angesehen habe, war es ziemlich still an meiner Seite. Der Kaiser hat die meiste Zeit ein fragendes Gesicht gemacht.
Aber Stimmung kommt auf der Ehrentribüne auch sonst eher selten auf?
Für mich war es oft schwer, nach außen ruhig zu bleiben. Denn ich spiele im Kopf mit. Ihrer Kanzlerin geht es übrigens ähnlich.
Ach ja?
Beim Eröffnungsspiel der Frauen-WM 2011 gegen Kanada sprang Angela Merkel neben mir plötzlich auf und rief laut: „Schiiiedsrichter, Schiiiedsrichter…“ Als sie merkte, was passiert war, setzte sie sich wieder hin und flüsterte: „Das war jetzt nicht klug.“ Sie hatte sich wie ein Fan verhalten. Nach ein paar Minuten fügte sie hinzu: „Aber, Herr Blatter, Sie stimmen mir doch zu, dass es eine Fehlentscheidung war?“
Sie waren ein Verfechter der WM-Vergabe nach Russland. Mit welchen Empfindungen schauen Sie vor dem Turnier dorthin?
Sehr positiv. Ich bin überzeugt, dass Russland alles daran setzen wird, dass die negativen Schlagzeilen, die das Turnier seit Jahren begleiten, nicht eintreffen. Die Weltmeisterschaft ist eine große Chance, sich als weltoffenes Land zu präsentieren.
Sie sind nicht mehr Fifa-Präsident. Sie können uns doch als Privatier offen sagen, dass es Sie erschüttert, was in Russland passiert.
Ich war in der Fifa – und bin nach wie vor im Fußball. Ich kann Ihnen nicht als Privatmann antworten.
Schon als Präsident wird Ihnen aber aufgefallen sein, dass große Sportereignisse mit den damit verbundenen horrenden Kosten inzwischen leichter in Schwellenländer mit autoritären Machthabern zu vergeben sind als in Länder wie Deutschland, wo viele eine skeptische Haltung einnehmen, wie die Volksentscheide zu Olympia in Hamburg und München bewiesen haben.
Es ist klar, dass Menschen die Nachhaltigkeit von Olympia nicht verstehen. Was bringt es, für einen 14-tägigen Wettbewerb riesige Schwimmhallen oder Velodrome zu bauen, die hinterher keiner braucht. Aber die Weltmeisterschaft ist das Sportevent Nummer Eins. Von der Resonanz und Ausstrahlung ungefähr fünf Mal größer als Olympische Spiele. Und wenn Sie sagen, dass die Deutschen keine WM wollen, warum bewirbt sich der DFB dann um die Ausrichtung der EM 2024?
Auch in Südafrika und Brasilien wurden WM-Stadien gebaut, die heute kein Mensch mehr braucht.
In Brasilien wollten die Ausrichter sogar 17 neue Stadien bauen, am Ende wurden es zwölf, von denen sicher nicht alle sinnvoll waren. Dennoch ist eine WM etwas anderes.
Blutet Ihnen das Herz, wenn Sie sehen, dass der Fußballtempel Maracana nicht mal vier Jahre nach dem WM-Finale 2014 eine Ruine ist?
So etwas würde in England oder Deutschland nie passieren. Dass eine Stadt wie Rio de Janeiro es nicht schafft, eine solche Stätte zu erhalten, die extra zur WM renoviert wurde, will auch mir nicht in den Kopf.
Die Fifa hat einen umfassenden Anforderungskatalog an die Ausrichterländer. Hätten Sie mit den Organisatoren nicht vorab vereinbaren können, dass so etwas im Sinne des Fußballs nie passieren darf.
Wir haben Brasilien 100 Millionen Euro für Entwicklungsarbeit überwiesen. Da würden Sie auch nicht davon ausgehen, dass dort ein Stadion so schnell kaputt geht.
Freuen Sie sich auf die Winter-WM in Katar?
Soll ich darüber scherzen? Das tue ich nicht. Katar ist der klare Beweis, wie einer Entscheidung für ein Sportgroßereignis eine direkte politische Intervention vorangegangen ist.
Das sagen Sie so eindeutig?
Es gab im Vorfeld der Vergabe ein Mittagessen des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy mit dem heutigen Emir, damals Kronzprinz, Tamim bin Hamad Al Thani, bei dem sie über die wirtschaftlichen Beziehungen ihrer Länder, über die gigantischen Erdgasvorkommen in Katar und über Flugzeuge in Frankreich sprachen – und darüber, dass es schön wäre, wenn die WM nach Katar käme. Und später lud Sarkozy den Uefa-Präsidenten Michel Platini zum Kaffee ein und machte ihm klar, dass es gut sei, wenn einige seiner Wahlleute für Katar stimmen würden.
Was halten Sie von der Einführung des Videobeweises zur WM 2018?
Da stehen mir meine letzten Haare zu Berge.
Warum?
Es gab sehr, sehr viele Tests, bis wir entschieden haben, dass die Torlinientechnik ausgereift ist und wir sie einführen. Beim Videobeweis war der Grundgedanke, dass ein Coach pro Halbzeit wie im Tennis ein, zwei Szenen hinterfragen kann. Aber dass es zur WM über Nacht so gedreht wird, dass das Fernsehen den Schiedsrichter ersetzt, entsetzt mich. Fernsehen soll dem Fußball Öffentlichkeit verschaffen, ihn promoten, aber doch nicht Teil des Spiels sein.
Sie glauben nicht an den Erfolg?
Wie kann man etwas zulassen, das nicht ausgereift ist? Bislang gibt es den Videobeweis nur in sehr wenigen Ligen. Und jetzt geben sie ihn in die Weltmeisterschaft, wo die meisten Spieler und Schiedsrichter damit nicht vertraut sind? Er wird die Struktur des Fußballs verändern. Es wird die skurrile Situation geben, dass ein Spieler ein wunderbares Tor erzielt und sich genau überlegt, ob er jubelt oder erst abwartet, was das Fernsehen entscheidet. Und wenn es dann ein Tor ist, wird die Freude schon nicht mehr so groß sein.
Wie beurteilen Sie die Arbeit Ihres Nachfolgers Gianni Infantino?
Ich möchte mich nicht zu seiner Arbeit äußern. Er macht seinen Job mit viel Selbstbewusstsein und tut oft seine Meinung kund. Nach den Statuten ist er aber ein repräsentativer und nicht ein exekutiver Präsident, wie er nun sein Amt ausführt.
Fehlt Ihnen die Macht, über die Sie so viele Jahre verfügten?
Am Anfang hat es mich schon getroffen. Dann hatte ich einen kleinen Zusammenbruch, der mir Zeit gab, übers Leben nachzudenken. Und nun bin ich 82 Jahre alt und noch etwas reifer geworden. Ob ich weiser bin, kann ich Ihnen nicht sagen.
Bei der WM 2022 wären Sie 86 Jahre alt.
Also noch ein junger Mann. Ich glaube, der da oben hat derzeit anderes zu tun, als mich zu holen.