Olympische Spiele in Pyeongchang: Neue Munition für Claudia Pechstein
Claudia Pechstein hat bei ihren siebten Olympischen Spielen viel vor, sie erwartet Rehabilitaion – doch der erste Traum platzt schon vor der Eröffnungsfeier: Eric Frenzel trägt die deutsche Fahne.
Auf dem Eisoval in Stavanger, der olympische Winter hat gerade begonnen. Es ist so kalt, wie es in Norwegen um diese Jahreszeit nun mal ist, aber Claudia Pechstein glüht. 5000 Meter auf Kufen stecken in ihren Beinen, gerade ist sie zu ihrem 33. Weltcup- Erfolg gelaufen und mag doch nicht feiern, jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Auf der Ehrenrunde legt sie den Finger auf die Lippen und zeigt Richtung Tribüne. Da, irgendwo, sitzen sie, die älteren Herren, die sich in ihre Wollmäntel verkriechen. Nicht ihren Fans widmet sie diesen Sieg, sondern ihnen. „Das ist ein Zeichen für meine Feinde von der Isu, die mich zu Unrecht gesperrt haben“, sagt die Eisschnellläuferin aus Berlin. „Sie sollen ganz ruhig sein, solange ich weiterlaufe.“ Schweigen sollen sie nun für die schreiende Ungerechtigkeit, die ihr durch sie widerfahren sei.
Die Geste ist ihr inzwischen zum Markenzeichen geworden. Die anderen sollen schweigen, Claudia Pechstein spricht. Wie neulich im Müggelturm in Köpenick, bei einem letzten PR-Termin vor der Abreise zu den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang. Claudia Pechstein sitzt mittig, umgeben von gut zwei Dutzend von ihr ausgewählter Journalisten. Sie hat einiges zu sagen in diesen zwei Stunden. Über ihre siebten Spiele, ihr Alter, eine mögliche Medaille, vor allem über ihre Mission, es ihren Kritikern zu zeigen. Ihren „Feinden“, wie sie immer wieder sagt. Vor allem den grauen Herren von der Eislauf- Union (Isu).
"Jeder Flüchtling genießt Rechtsschutz, aber wir Sportler nicht"
Aber auch allen anderen, die je an ihr oder ihrer Integrität zweifelten. „Siegen oder sterben“, sagt sie. Das entspricht in leicht abgewandelter Form der Parole, mit der die deutsche Wehrmacht vor 75 Jahren Richtung Osten marschierte. Ein ablehnendes Urteil des Bundesgerichtshofes hat sie mal so kommentiert: „Jeder Flüchtling, der in Deutschland einreist und registriert wird, genießt Rechtsschutz. Aber wir Sportler nicht.“ Politisch korrekte Sprache ist ihre Sache nicht, aber sie plant ja auch keine Karriere im diplomatischen Dienst. Claudia Pechstein ist mit fünf Olympiasiegen Deutschlands erfolgreichste Wintersportlerin. Die am Freitag beginnenden Spiele von Pyeongchang werden ihre siebten sein. Neun Medaillen hat sie schon gewonnen. Eine zehnte ist durchaus realistisch, dabei ist sie schon 45 Jahre alt. Es gibt viele, die ihr das gönnen, die ihr auch gewünscht hätten, dass sie die deutsche Mannschaft bei der Eröffnungsfeier als Fahnenträgerin anführt. Doch schon vor der offiziellen Bekanntgabe am Donnerstag sickerte durch, dass dem Kombinierer Eric Frenzel diese Ehre zuteil wird. Gerade im deutschen Olympiateam würden viele diese Entscheidung zumindest klammheimlich begrüßen. Denn Claudia Pechstein ist nicht nur ein Phänomen, sie ist auch eine schwierige Person.
Die Causa Pechstein beginnt im Februar 2009. In Hamar stehen die Mehrkampf-Weltmeisterschaften an und Claudia Pechstein muss zur Dopingkontrolle. Ihre Werte sind so auffällig, dass ihr der Weltverband einen Startverzicht nahelegt. Sie reist überstürzt ab, offiziell wegen einer Erkältung. Selbst die Familie täuscht sie. Kurz darauf wird ihr die Nachricht von der Sperre zugestellt, zwei Jahre wegen Dopings, obwohl ihr die Einnahme eines verbotenen Mittels nicht nachzuweisen ist. Claudia Pechstein verzweifelt und verweist darauf, dass sie doch nichts genommen habe, aber die Werte sind eben erhöht. Die Isu hält die Sperre aufrecht. Es soll eine Mahnung sein – dass Dopingsünder auch per Blutbild und nicht nur positiver Probe überführt werden können. Der Verband verkauft das als Fortschritt im Kampf gegen Manipulation. Für einen positiven Dopingbefund muss nicht mehr die stimulierende Substanz im Körper nachgewiesen werden, es genügt schon der indirekte Nachweis, in Claudia Pechsteins Fall über auffällige Blutwerte.
Einmal, sagt Pechstein, habe sie kurz vor dem Suizid gestanden
Die Folgen sind verheerend. Sie fliegt aus der Sportförderung, die Bundespolizei als ihr Arbeitgeber leitet ein Disziplinarverfahren ein. Zwei Jahre lang darf die Sportlerin Claudia Pechstein nicht Sportlerin sein. Für eine Athletin von 37 Jahren bedeutet das normalerweise das Karriereende, ganz zu schweigen von den Folgen für ihren Ruf. Was macht das mit einer Frau, die sich über den Sport definiert, die diesen Sport liebt und lebt? Claudia Pechstein steht auf dem Eis, seitdem sie drei Jahre alt ist. Wenn so etwas wegbricht, wird es existenziell. Gutachten und Prozesse bringen sie finanziell und psychisch an ihre Grenzen. Einmal, schreibt Pechstein in ihrer Biografie, habe sie kurz vor dem Suizid gestanden.
"Die Wunden der Sperre werden nie verheilen"
Heute bescheinigen ihr Hämatologen: Die Sperre war Unrecht. Eine geerbte Blutanomalie bringt die Werte zum Schwanken – nicht ein Präparat oder Blutdoping. Einen Vorteil hat sie davon nicht.
Seitdem kämpft Pechstein um Rehabilitierung. Sportlich auf der Bahn und finanziell vor Gerichten. Bei ihren Schadensersatzklagen geht es um Millionen. Sie sagt: Es geht um Gerechtigkeit. „Die Wunden der Sperre werden nie gänzlich verheilen.“ Sie kratzt selbst immer wieder an den Narben, als brauche sie den Schmerz, um weiterzumachen
Zurück in der Presserunde im Müggelturm. Claudia Pechstein, mit schmalem Gesicht und dem blonden Haar streng zum Zopf gebunden, sitzt zusammengesunken auf ihrem Stuhl. Das Kämpfen hat Kraft gekostet. Sie muss sich jetzt schonen, auf dass der finale Schlag sitzt. Eine Medaille in Pyeongchang wäre der große Triumph auf ihrem Feldzug. Aber Regeneration dauert im Alter länger. „Es braucht halt mehr Schokolade“, sagt Matthias Große an ihrer Seite. Pechstein straft ihren Lebensgefährten mit frostigem Blick. Später plaudert er noch von der Waage im Badezimmer. Sie schaut verlegen ins Leere.
Große ist vielleicht das einzig Positive, was Claudia Pechstein im Drama um den Dopingverdacht widerfahren ist. Sie hat ihn am Tiefpunkt kennengelernt. Heute weicht der 50-jährige Köpenicker Unternehmer und Investor am Müggelturm nicht mehr von Pechsteins Seite. Große trägt Glatze, ist hochgewachsen und breitschultrig. Einer zum Anlehnen. Oder zum Angst haben, wenn man sich mit ihm anlegt. Neben ihm wirkt Pechstein klein und zierlich. Dass er ihr immer wieder ins Wort fällt, nimmt sie stillschweigend hin.
Schwarz oder weiß, Freund oder Feind - dazwischen gibt es nichts
Matthias Große wird auch in Südkorea dabei sein. Er hat dafür vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) eine Akkreditierung bekommen – als Pechsteins Mentaltrainer. Formal fehlt ihm die sportliche Qualifikation, aber beim DOSB setzen sie wohl auf Wiedergutmachung. Dass Claudia Pechstein „Opfer, nicht Täter“ ist, für diese Erkenntnis brauchte der Verband eine ganze Weile. Da scheint es nur recht, sie jetzt auf ihrem Weg zur Medaille zu unterstützen. Und Stütze ist der Lebensgefährte ja, das war er schon 2014 bei den Spielen in Sotschi. Bei ihren Rennen stand er in der Kurve und schrie, ehe sie, erschöpft und enttäuscht, nach einem fünften Platz unter Tränen in seinen Armen zusammenbrach. Zu groß war der Druck direkt nach der Sperre. Ob denn jetzt Schluss sei, wagte ein Journalist zu fragen. „Das ist jetzt kein Thema“, blaffte sie zurück.
Niemand will es sich mit ihr verscherzen. Jeder weiß, wie unangenehm es wird, wenn man in ihren Augen auf der falschen Seite steht. Mit der ARD redete Pechstein über Jahre nicht. „Anderer Länder Journalisten haben mehr Respekt“, sagt sie. Bei Niederländern und Russen seien ihre Rennen mit ganz anderen Kommentaren unterlegt: liebe- und ehrfurchtsvoll. In den Müggelturm sind nur ihr genehme Journalisten geladen. Matthias Große kennt sie alle beim Namen – insbesondere die, die sich mal kritisch geäußert haben.
Claudia Pechstein unterteilt ihre Welt in Freunde und Feinde, in Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Grautöne gibt es nicht. „Entweder du bist für oder gegen uns“, sagt ihr Freund Matthias Große. Selten ist das Leben so eindeutig. Doch Claudia Pechstein gibt es nur streitbar. Sie schreckt auch vor den eigenen Farben nicht zurück. Gegen den Vater der jüngeren Kollegin Stephanie Beckert erstattete sie sogar mal Anzeige, weil der sie mit Doping in einem Satz nannte.
Beim Weltcup vor drei Wochen in Erfurt, als alle Eisläufer am Abend noch einmal zu Schnittchen und Gesprächen zusammenkommen, ist sie die einzige, die fehlt. Das sorgt für Unmut der Kollegen. Claudia Pechstein interessiert das nicht. Ein paar Tage später gibt es die Alternativveranstaltung im Müggelturm. Sie erzählt davon, wie sie als Kind oft auf dem gefrorenen See gelaufen sei. Von unten sind es nur ein paar Treppenstufen vom Turm, in dem nun ihr Lebensgefährte Geschäfte macht.
Der Müggelturm war schon zu DDR-Zeiten ein beliebtes Ausflugsziel. Claudia Pechstein ist in Ost-Berlin aufgewachsen und hat dort die Kinder- und Jugendsportschule in Hohenschönhausen besucht. Heute trainiert sie in der alten Halle mit einem neuen Team, das ganz auf sie abgestimmt ist. Es sind nur Männer dabei. Norweger, Ungarn und Russen, dazu der US-Amerikaner Peter Mueller als Trainer. Es ist ihr eigenes Team, privat finanziert, nicht unter Kontrolle des nationalen Verbandes.
Kann so eine Anführerin sein? Ein Team hinter sich einen? Als Fahnenträgerin bei der Eröffnungsfeier am Freitag in Pyeongchang hätte sie das sein müssen, zumindest symbolisch. Der neue DOSB-Präsident Alfons Hörmann, zu dessen ersten Amtshandlungen die Rehabilitation Pechsteins gehörte, hatte sie dafür ins Gespräch gebracht. Aber die Athleten des deutschen Olympiateams und via Internet alle interessierten Sportfans haben anders entschieden.
In der Mannschaft halten sich die Pechsteinschen Sympathiewerte seit Jahren in Grenzen, dafür kann so ziemlich jeder in Deutschland mit ihrem Namen etwas anfangen, sei es nun wegen ihrer sportlichen Erfolge, des Kampfes gegen die Dopingsperre oder des schon legendären Zickenzoffs mit der früheren Kollegin Anni Friesinger. Da stört es kaum, dass der Eisschnelllauf nicht sonderlich populär ist.
Dass sie nun nicht die deutsche Fahne tragen soll, dürfte sie bitter enttäuschen, ihr aber auch noch einmal zusätzliche Munition im Gefecht gegen ihre Feinde liefern. Im Vorfeld hatte sie über alle Kanäle getrommelt: „Das wäre für mich wie eine zehnte Medaille!“ Ihr Lebensgefährte Große erhöhte den Einsatz noch. „Das wäre der i-Punkt“, sagt er. „Mehr geht sportpolitisch nicht.“ Doch daraus soll nun nichts werden, die zehnte Medaille muss Pechstein sich jetzt auf der Eisbahn erkämpfen.
Über 5000 Meter will Pechstein ihre nächste Medaille holen
Dabei hätte sie sportlich sogar Abstriche hingenommen, nur um die deutsche Fahne im Olympiastadion zu schwenken, Denn am Tag nach der Eröffnungsfeier steht das Rennen über die 3000 Meter auf dem Programm. Nach Stunden in der Kälte und wenig Schlaf hätte sie wohl kaum eine Chance gehabt. Andererseits sind die 3000 Meter ohnehin nicht ihre Paradedisziplin. Sie will sich auf die 5000 konzentrieren. „Diese Strecke liebe ich“, sagt sie. Und da ist auch ihre Konkurrenz überschaubar, denn „die jungen Mädels wollen sich heute nicht mehr quälen“. Pechstein hingegen quält sich gern. Und die 5000 Meter sind eine Qual – wenn die Oberschenkel brennen, der Rücken zieht, die Lungen keuchen.
An Ansporn wird es ihr also nicht mangeln, doch sie behauptet auch: „Wenn ich keine Medaille hole, ändert sich mein Leben auch nicht.“ Der Kampf wird weitergehen, auch nach Olympia. Sportrechtlich hat sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Selbst der Bundesgerichtshof wollte sich nicht einschalten, weil das Sportrecht für jeden Athleten auf der Welt bindend sei. Auch Claudia Pechstein hat sich dieser Gerichtsbarkeit mit ihrer Unterschrift unterworfen. Weil sie sich dadurch in ihren Grundrechten eingeschränkt sieht, will sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Straßburg ziehen.
Und sportlich? Eine Nachfolge im deutschen Team ist längst nicht in Sicht. Einer jüngeren Konkurrentin soll Pechstein beim Wettkampf mal gesagt haben: „Wenn ihr schneller wärt, wäre ich längst weg.“ Aber keine ist schneller auf der Langstrecke. Vielleicht noch nicht mal in vier Jahren nicht.
Bei der Einkleidung der deutschen Olympia-Mannschaft für Pyeongchang gab es da diese Szene. Die Kleidervergabe nimmt in München seit Ewigkeiten dasselbe Team Frauen vor. Als Pechstein vor ein paar Tagen ihre Tasche packte, sagte sie beim Herausgehen: „Tschüss, Mädels! Bis in vier Jahren!“ Alle Anwesenden stutzten. Sie selbst verzog keine Miene. Ihr Kampf ist noch nicht zu Ende.