Ausflug in Berlin und Potsdam: Mit dem Rad auf Humboldts Spuren
"Dürftige Sandnatur"? Der jüngere der Humboldt-Brüder hielt nicht viel von der Natur um Berlin. Wir schon! Zwei Touren zu Orten, die den Weltreisenden prägten
Alexander von Humboldt, der Weltreisende, Forscher, Kosmopolit, hat über seine Heimatstadt Berlin oft gespottet. Vor allem die Natur konnte ihn, der auf seiner großen Amerikareise (1799-1804) die Urwälder und Vulkane Südamerikas gesehen hatte, nicht beeindrucken. Berlin, diese "verödete, kleine, unliterarische Stadt", war für ihn "eine moralische Sandwüste, geziert durch Akaziensträucher und blühende Kartoffelfelder". Viel lieber lebte er, nachdem er aus Amerika zurückgekommen war, in Paris.
Und als er dann doch, mit fast 60 Jahren, wieder in Berlin Wohnsitz nahm, zauberte er sich aus seiner Erinnerung "Palmenwälder dahin, wo verkümmerte Coniferen als Hasenheide sich bis an die chinesische Grenze in einförmigem Zuge dahinziehen". In Berlin, so klagte er, finde er sich "verdammt in solchem Klima ohne allen Genuss des freien Naturlebens, außer kranken Pflanzen in Treibhäusern, ausgestopften Bälgen der zoologischen Kabinette und des getrockneten Heus der Herbarien".
"Heute in Berlin, morgen nach Potsdam"
Bei aller Hochachtung für den Gelehrten, der im September seinen 250. Geburtstag feiert: Hier irrte er. Unsere zweitägige Radtour führt uns an Orte, an denen Alexander von Humboldt gewirkt hat, und wir werden sehen: Die Natur ist wunderschön!
Am ersten Tag folgen wir dem Leben des preußischen Freigeists von Tegel über Mitte bis nach Charlottenburg. Der zweite Tag lässt uns das "fledermausartige Leben" nachvollziehen, das Humboldt im Alter führte, als er, Kammerherr und Vertrauter Friedrich Wilhelms IV., den König auf dessen Schlösser begleitete.
"Gestern Pfaueninsel, Tee in Charlottenhof, Komödie und Abendessen in Sanssouci, heute in Berlin, morgen nach Potsdam" - das wollen wir auch. Mit dem Fahrrad geht das besonders gut, denn wir bewegen uns etwa in dem Tempo, das eine Postkutsche zu Humboldts Zeiten erreichen konnte. Mit solchen Kutschen war der Gelehrte viel unterwegs - bei seiner großen Russlandreise (1829) etwa passierte er 658 Poststationen, 12 244 Pferde wurden gewechselt.
Fahrräder dagegen kannte er nicht, aber mit Sicherheit hätte er diese Art der selbstbestimmten Fortbewegung geliebt. Bewegung war sein Leben! Immerhin ist es möglich, dass Humboldt die "Laufmaschine" von Karl Drais, Vorläuferin des Fahrrads, kannte.
Der erste Tag beginnt in Tegel, wo die Brüder aufwuchsen
Unsere Tour beginnt - natürlich - in Tegel, dem Ort, wo die Humboldt-Brüder Wilhelm (1767-1835) und Alexander (1769-1859) aufwuchsen, als Söhne eines Majors und einer wohlhabenden Hugenotten-Nachfahrin. Vom S-Bahnhof Tegel radeln wir über Holperpflaster zur Greenwichpromenade, blicken auf den Tegeler See und lassen uns vom jungen Alexander selbst die Landschaft schildern: "Tegel liegt an dem Ufer eines eineinhalb Meilen langen Sees, der von schön angebauten Inseln durchschnitten ist", schrieb er einem Freund mit Mitte zwanzig.
"Hügel mit Weinreben, die wir hier Berge nennen, große Pflanzungen von ausländischen Hölzern, Wiesen, die das Schloss umgeben, und überraschende Aussichten auf die malerischen Ufer des Sees machen diesen Ort zu dem reizendsten Aufenthalte der hiesigen Gegend." An seine eigene Jugend erinnert er sich mit weniger positiven Worten: Im väterlichen Hause sei er "18 Jahre lang gemisshandelt und in einer dürftigen Sandnatur eingezwängt" worden.
Wir erreichen das "väterliche Haus", nachdem wir auf der roten Hafenbrücke weitere Ausblicke genossen und einen Abstecher zur "Dicken Marie" gemacht haben, jenem ältesten Baum Berlins, der angeblich nach der beleibten Köchin der Familie Humboldt benannt wurde. Das bezaubernde weiße Schloss, das in Alexanders Jugend noch ein einfaches Jagdschloss war und von Karl Friedrich Schinkel ab 1820 für Wilhelm von Humboldt umgebaut wurde, kann im Sommer nur montags im Rahmen von Führungen besichtigt werden. Aber der Park, in dem der kleine Alexander Steine und Käfer sammelte, ist in der Regel öffentlich zugänglich.
Von "Schloss Langweil" naturnah nach Mitte
Wir lassen das Fahrrad stehen und gehen zur Grabstätte der Humboldt-Familie: Hier liegt auch Alexander begraben. Die Nachbarschaft des Schlosses, das Alexander gelegentlich als "Schloss Langweil" bezeichnet hat, ist bis heute von dem Familiennamen geprägt: von der "Humboldt-Mühle", heute ein Rehazentrum, über die "Humboldt-Insel" mit ihren neu errichteten Stadtvillen bis zur "Kleingartenanlage Humboldt e. V.". Auch an der 1987 errichteten "Humboldt-Bibliothek" kommen wir vorbei und können dort Denkmäler der Brüder bewundern – Alexander ist mit einem Affen abgebildet.
Wie kam man damals vom Sommersitz der Familie, dem Schloss, zum Stadthaus am Gendarmenmarkt? Alexander schrieb einmal spöttisch, man müsse dafür "die Wüste Sahara durchwandeln". Die Fahrt mit der Kutsche soll zwei bis drei Stunden gedauert haben, und sie führte vermutlich weitgehend über die heutige Müller- und Chausseestraße bis zum Oranienburger Tor. Wir suchen uns einen naturnäheren Weg, über Flughafensee, Volkspark Rehberge und entlang des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals, mit interessanten Ausblicken auf die entstehende Europa-City.
In Alexanders Geburtshaus ist heute die Akademie der Wissenschaft
Nach unserem Helden ist sowohl das "Alexanderufer" als auch der "Humboldthafen" benannt, in dem wir vielleicht sogar das Ausflugsschiff "Alexander von Humboldt" sehen. Auf jeden Fall nähern wir uns jetzt der Stadtmitte, in der Humboldt als junger Mann Salons besuchte und in den späteren Lebensjahrzehnten wissenschaftlich wirkte. Zwischen 1827 bis zu seinem Tod 1859 hatte er seinen Hauptwohnsitz in Berlin, lebte in verschiedenen Mietwohnungen und schrieb an seinem Hauptwerk "Kosmos".
Die Mitte-Tour führt uns, naturgemäß durch Stadtverkehr, zunächst zum Gendarmenmarkt: In der Jägerstraße 22 stand das Stadthaus der Humboldts, hier wurde Alexander vermutlich geboren. Heute ist dort die Akademie der Wissenschaften beheimatet, wo Forscher emsig dabei sind, alle Reisetexte Alexanders digital zugänglich zu machen. Von dort radeln wir zum neu errichteten Schloss, in dessen Vorgängerbau Alexander gelegentlich zu Gast war und die Märzrevolution 1848 miterlebte.
Dass das Schloss als "Humboldt Forum" dem Austausch der Kulturen gewidmet sein wird, hätte ihn sicherlich gefreut. Nebenan, im Nikolaiviertel, gewinnen wir einen Eindruck von Stadtarchitektur und Inneneinrichtung seiner Zeit und besuchen das Knoblauch-Haus: Hier steht Alexanders Sterbebett. Gestorben ist Humboldt mit fast 90 Jahren allerdings nicht dort, sondern in seiner Wohnung in der Oranienburger Straße 67, unserer nächsten Station - an der Fassade und im Innenhof erinnern daran zwei Gedenktafeln.
Über den Lustgarten stoßen wir von dort auf die Straße Unter den Linden und radeln königlich die Prachtstraße hinunter, vorbei an der ehemaligen Sing-Akademie, dem heutigen Maxim Gorki Theater, wo Alexander 1827/28 mit seinen berühmten "Kosmos"-Vorlesungen ein riesiges, sehr gemischtes Publikum anzog. Wir passieren die von Wilhelm begründete Humboldt-Universität mit den beiden Standbildern der Humboldt-Brüder.
Durch den Tiergarten geht's zum Schlosspark Charlottenburg
Nebenan, wo jetzt die Staatsbibliothek Unter den Linden steht, war zu Humboldts Zeiten die Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied er war. Die heutige Staatsbibliothek ist stolze Besitzerin seiner Original-Reisetagebücher, neun Bände, in Schweinsleder gebunden und 2013 für 12 Millionen Euro erworben.
Nach all den Eindrücken von Humboldts wissenschaftlichem Leben in Berlin-Mitte sehnen wir uns wieder nach ein bisschen Natur. Durch den Tiergarten geht es zum Charlottenburger Tor und von dort, an Landwehrkanal und Spree entlang, in den Schlosspark Charlottenburg. Hier war Alexander oft zu Gast, denn Friedrich Wilhelm IV. schätzte ihn als anregenden Gesprächspartner.
Umgekehrt fand Alexander das Hofleben oftmals langweilig. "Unsere Abende sind von einer Monotonie, um an den Wänden zu kratzen", schrieb er einem Bekannten. Womöglich träumte der - wie er sich selbst bezeichnete - "an den Höfen zahm gewordene Waldmensch vom Orinoco" dann von den Tropen?
Das ehemalige Palmenhaus auf der Pfaueninsel faszinierte Humboldt
Die gibt's hier nur auf Bildern zu sehen: Im Neuen Pavillon des Schlossparks hängen zwei Bilder von Carl Blechen, die "Das Innere des Palmenhauses auf der Pfaueninsel" zeigen. Dieser Glaspalast, den Friedrich Wilhelm III. für seine Palmensammlung bauen ließ, brannte bereits 1880 ab, aber Humboldt hat ihn in voller Schönheit erlebt: "Wenn man in dem Palmenhause von dem hohen Altane bei heller Mittagssonne auf die Fülle schilf- und baumartiger Palmen herab blickt", schrieb er wehmütig, "so ist man auf Augenblicke über die Örtlichkeit, in der man sich befindet, vollkommen getäuscht. Man knüpft an jede Pflanzenform die Wunder einer fernen Welt".
Wer noch Zeit hat zu einem Schlossbesuch, findet im Neuen Flügel auch ein berühmtes Gemälde von Friedrich Georg Weitsch, das Humboldt und Bonpland vor dem schneebedeckten Chimborazo zeigt.
Alexander reiste vorzugsweise mit dem Zug nach Potsdam
Die Sehnsucht nach der "fernen Welt" blieb stets in ihm. Aber auch "an den Höfen" konnte er schöne Naturblicke erleben, wie wir am zweiten Tag unserer Tour sehen werden. Wer mag, kann dafür von Charlottenburg aus neben der Avus auf dem Kronprinzessinnenweg gen Südwesten radeln. Oder er macht es wie Alexander von Humboldt und setzt sich in die Bahn: Humboldt reiste, sobald 1838 die erste Eisenbahnverbindung zwischen Berlin und Potsdam eingerichtet war, vorzugsweise mit dem Zug nach Potsdam.
Wir beginnen allerdings schon am S-Bahnhof Wannsee, denn wir möchten ja zur Pfaueninsel, die wir über die Straße am Großen Wannsee und die "Uferpromenade" erreichen - ein sehr schöner, aber in trockenen Zeiten auch sehr sandiger Weg, der uns an Humboldts Spott über den märkischen Sand denken lässt. Aber die Blicke! Dieser Tag wird ein Fest für die Augen, eine Wasserwonne und Schlösserschau, ein glitzernd grünes Vergnügen im preußischen Arkadien.
Wunderschön schon der Blick vom Ufer auf Havel, Pfaueninsel, Sacrower Heilandskirche. Auf der Pfaueninsel sind Fahrräder nicht erlaubt, das Schloss ist für Sanierungsarbeiten seit Sommer 2018 geschlossen, also radeln wir, jetzt auf Asphalt, zur Glienicker Brücke. Immerhin, so berichtet es der empfehlenswerte Audioguide "Potsdam für Radfahrer", hat Humboldt hier den Ausblick gelobt.
"Polarkälte" im Schloss Sanssouci?
Durch den Neuen Garten gelangen wir zur "Kolonie Alexandrowka": Sie ist zwar nach einem russischen Zaren benannt und nicht nach "unserem" Alexander, aber sie wurde just in der Zeit angelegt, als sich Humboldt selbst auf seine zweite, lang ersehnte Expedition nach Russland begab. Als Gast des Zaren Nikolaus durchquerte er 1829 das Riesenreich bis zur chinesischen Grenze, sehr viel komfortabler als ein Vierteljahrhundert zuvor in Südamerika, aber von Abgesandten des Zaren ständig überwacht.
Den Park Sanssouci umrunden wir zuerst von Norden, bis wir links zum Neuen Palais abbiegen. Im Park darf man nur auf bestimmten Wegen Radfahren, wir schieben, von der Hauptallee kommend, zum Schloss Charlottenhof und zu den Römischen Bädern. Hier hat Humboldt oft gewohnt, wenn er in Potsdam zu Gast war, die Räume sind aber nicht zu besichtigen.
Das Schloss Sanssouci selbst schätzte er als Wohnort weniger, hier herrsche eine "Polarkälte", die seiner Tropennatur schade, es gleiche "des vielen Marmors wegen einer der buddhistischen kalten Höhlen". Gerne dagegen wohnte er im inzwischen wieder aufgebauten Potsdamer Stadtschloss, das wir anschließend bewundern. Und natürlich radeln wir dann die Humboldtstraße hinab und, vom Haveluferweg aus, unter der Humboldtbrücke hindurch.
Auch Humboldt hatte seinerzeit Probleme mit den Mietpreisen
Eine Abkühlung gefällig? Im Schlosspark Babelsberg gibt es dazu Gelegenheit, im Strandbad oder an den öffentlichen Badestellen. Den Park hat Humboldts Freund Fürst Pückler Muskau entworfen - der exzentrische Fürst war ein ähnliches Lästermaul wie Humboldt selbst. Wir werfen einen letzten sehnsüchtigen Blick zurück über die Glienicker Brücke, ach, ist das alles schön hier, wie konnte Humboldt das nicht erkennen!
[Dieser Text stammt aus dem Magazin "Tagesspiegel Radfahren 2019/20". Eine Karte mit detaillierter Wegbeschreibung zu dieser Tour finden Sie hier.]
Auf dem Rückweg durch Griebnitzsee begleiten uns, vor allem an der Rudolf-Virchow-Straße, hochherrschaftliche Villen. Humboldt selbst war kein Freund protzigen Reichtums, sein Vermögen gab er für die Reisen und die Publikation seiner Werke aus. Zeitweilig musste er sogar, wie viele Berliner heute, fürchten, seine Mietwohnung in der Oranienburger Straße nicht mehr bezahlen zu können.
Unsere Tour endet am S-Bahnhof Griebnitzsee. In seiner Eingangshalle nisten Rauchschwalben, die dort, vom Naturschutz gedeckt, ihr Geschäft verrichten, weswegen manche Reisende die Halle mit Regenschirmen durchqueren. Wir bleiben hoffentlich sauber, aber denken ein letztes Mal intensiv an Alexander von Humboldt. Der brachte nämlich von seiner Amerikareise Proben eines Vogelkots mit, der dann als Dünger Karriere machte: Guano. Hässliche kleine Körner, die Europas "dürftige" Natur schöner und fruchtbarer machten.
Dorothee Nolte