Einer wie Hertha BSC: Matheus Cunha und die Macht der Emotionen
Der Brasilianer Matheus Cunha ist ein bisschen wie Hertha BSC als Ganzes: talentiert, ambitioniert, aber manchmal noch nicht richtig ausbalanciert.
Am vergangenen Freitag hat Matheus Cunha einen romantischen Nachmittag mit seiner Familie verbracht. So romantisch, wie es eben geht, wenn man mit seinen Verwandten in Brasilien über mehrere tausend Kilometer hinweg per Telefon kommuniziert. Der Stimmung tat das allerdings keinen Abbruch. Cunha heulte, seine Familie heulte. Also heulten sie zusammen. Vor Freude.
Der Fußballspieler von Hertha BSC war gerade vom Mittagessen mit seinen Kollegen gekommen und wollte sich ein bisschen ausruhen, als er einen Anruf aus der Heimat bekam. Und eine Nachricht, die ihn tief bewegte. Matheus Cunha, bisher nur für die Olympiaauswahl zum Einsatz gekommen, ist erstmals für die Seleçao, Brasiliens richtige Nationalmannschaft, nominiert worden. Am 9. Oktober spielt sie in Sao Paulo gegen Bolivien, vier Tage später in Lima gegen Peru.
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Was das bedeutet, dürfte Cunha vermutlich kurz darauf klar geworden sein. Kaum hatte er sich in der Whatsapp-Gruppe der Seleçao angemeldet und sich als neues Mitglied vorgestellt, kam als erstes eine Nachricht von Neymar. „Willkommen“, hatte er geschrieben. Neymar. Cunhas Idol.
Bruno Labbadia, seinen Vereinstrainer, hat Cunha auch gleich informiert, und weil Labbadia weiß, wie Brasilianer ticken, hat ihn das noch ein bisschen zuversichtlicher gestimmt für das am Abend anstehende Bundesligaspiel gegen Eintracht Frankfurt. „Ich war wirklich gut drauf, sehr motiviert“, sagt Matheus Cunha.
Wenn es um ihre Nationalmannschaft geht, sind die ohnehin emotionalen Brasilianer noch ein bisschen emotionaler. Man muss sich nur noch einmal das WM- Halbfinale von 2014 ins Gedächtnis rufen: diese Inbrunst, mit der die Spieler vor dem Anpfiff ihre Hymne – nein: nicht gesungen – gebrüllt haben. Und die tiefe, existenzielle Trauer, die das 1:7 gegen die Deutschen im ganzen Land ausgelöst hat.
Gegen Frankfurt war Cunha eher gehemmt
Manchmal können Emotionen auch hinderlich sein. Das waren sie womöglich im Juli 2014 in Belo Horizonte; das waren sie wohl auch am Freitag bei Matheus Cunha gegen Eintracht Frankfurt. Bruno Labbadia hatte nach dem Spiel ein bisschen das Gefühl, dass die Nominierung für die Seleçao Cunha eher gehemmt hat, anstatt ihn zu beflügeln. „Er hat keinen guten Tag gehabt“, sagte Herthas Trainer.
Das allein war sicher nicht der Grund, warum die Berliner ihr Heimspiel 1:3 verloren. Auch andere Spieler hatten keinen guten Tag. Aber es ist schon so, dass ein guter Tag von Cunha die Aussicht erhöht, dass auch Hertha einen guten Tag erwischt. Cunha hat jetzt die 10 als Rückennummer, im Fußball so etwas wie ein Adelszeichen. Cunha ist 21, er ist erst im Winter nach Berlin gekommen, noch recht neu in der Mannschaft – und trotzdem trägt er die Nummer zurecht. „Matheus ist ein Spieler mit außergewöhnlichen Qualitäten“, sagt Labbadia. 14 Mal ist Cunha seit dem Winter für Hertha zum Einsatz gekommen. Sieben Tore hat er erzielt, vier weitere vorbereitet.
Vier Tage nach seiner Nominierung für die Nationalmannschaft sitzt Cunha beim Pressegespräch im Medienraum auf Herthas Vereinsgelände, neben ihm ein Dolmetscher. Manchmal antwortet Cunha trotzdem auf Deutsch. Er lacht viel, ist offen, mal staatstragend in seinen Antworten, mal forsch.
Für Cunha ist 2020 ein sehr schönes Jahr
Anders als für große Teile der Welt hat sich das Jahr 2020 für Cunha bisher ausschließlich positiv dargestellt: Im Januar hat sich Brasilien vor allem dank seiner Tore für das olympische Fußballturnier in Tokio qualifiziert. Kurz darauf ist er für 18 Millionen Euro als Ersatzmann aus Leipzig gekommen und hat sich auf Anhieb als Leistungsträger in Herthas Mannschaft festgespielt. Er ist Vater geworden und jetzt erstmals für die Nationalmannschaft nominiert worden. „Das ist wie ein Traum, der wahr wird“, sagt er. „Aber ich möchte noch einiges mehr erreichen.“ Auch mit Hertha. Der Verein gehöre in der Tabelle nach oben, findet Cunha. „Ich will mit Hertha international spielen.“
Ein bisschen ist es mit Hertha wie mit Cunha: Der Klub ist ambitioniert, die Mannschaft talentiert, aber das ganze Gebilde noch nicht komplett ausbalanciert. Es gibt eine frische Statistik, die einiges über Matheus Cunha erzählt: Kein anderer Spieler ist an den ersten beiden Spieltagen der neuen Saison so oft erfolgreich ins Dribbling gegangen wie der Brasilianer (acht Mal); kein anderer aber hat auch so häufig den Ball verloren (18 Mal). Cunha mag das Risiko, er sucht es geradezu. Weil genau das ihn auszeichnet.
Cunha muss stabiler, klarer und cleverer werden
„Matheus ist jemand, der etwas Besonderes kann, der aber auch noch viel lernen muss“, sagt Labbadia. Stabiler werden, gerade wenn es mental herausfordernd wird, und strukturierter in seinem Spiel. Insgesamt mehr Klarheit und manchmal etwas mehr Cleverness wünscht sich Labbadia von Cunha, „ohne dass er seine Kreativität und Unbekümmertheit verliert. Die muss er behalten. Das ist wichtig."
Dass sich Herthas Trainer auch immer wieder mal kritisch über den Brasilianer äußert, ist keine Kritik um der Kritik willen, sondern eher eine Form der Wertschätzung. „Von Spielern, die wie er eine hohe Qualität haben, verlange ich immer ein Stück mehr“, sagt Labbadia. „Das ist wie eine Auszeichnung.“ Cunha selbst glaubt, dass er seit seinem Wechsel zu Hertha reifer geworden sei und mehr Verantwortung für das große Ganze übernehme. Der Schritt von einer Spitzenmannschaft wie Leipzig zu einem Klub eine Stufe darunter, „das lehrt dich auch noch etwas“.
Trainer Labbadia erkennt bei Cunha inzwischen auch im Training eine Fortentwicklung. „Man sieht, dass er die taktischen Abläufe immer mehr verinnerlicht, dass er eine hohe Bereitschaft zeigt“, sagt er. „Er ist auf einem guten Weg.“ Auf einem Weg, der ihn in der kommenden Woche zur brasilianischen Nationalmannschaft führt.