WM 2014: Deutschland im WM-Finale: Wie Brasilien aus dem Fußball-Himmel fiel
Verzweifelte Kinder und fassungslose Frauen – das WM-Gastgeberland erlebt sein Debakel. Die Pfiffe sind so laut wie sonst nur gegen Argentinien - und richten sich vor allem gegen einen Spieler.
Als erste gingen die Torcedores mit dem großen Geld. Die ganz in Gelb gewandeten Brasilianer auf den teuren Plätzen auf der Haupttribüne des Estadio Mineirao. Das Spiel war noch nicht mal eine halbe Stunde alt und schon mit vier Toren gesegnet, aber sie waren sehr einseitig und für Brasilien nicht unbedingt vorteilhaft verteilt. Verzweifelte Stille fiel über Belo Horizonte, unterbrochen nur durch 5000 deutsche Partygänger, sie riefen in froher Erwartung des Finales „Rio, wir kommen!“ und „Ihr seid nur ein Karnevalsverein!“
Fernsehkameras blendeten hinein in das brasilianische Schweigen und zeigten Bilder von verzweifelten Kindern und fassungslosen Frauen, denen die Tränen die blau-gelbe Schminke verwischte. David Luiz, der blonde Verteidiger mit der Starkstromfrisur, heulte sich die Augen rot. Belo Horizonte erlebte eine historische Stunde des Weltfußballs, aber die Wenigsten der Anwesenden werden davon später stolz ihren Enkeln erzählen.
Sieben deutsche Tore gegen ein brasilianisches, und das fiel auch erst kurz vor Schluss. Nicht in einem Karnevalsspiel, sondern im Halbfinale der Weltmeisterschaft. Brasilien pfiff auf Brasilien, so laut und intensiv wie normalerweise nur gegen Argentinien, aber was war an diesem Tag schon normal?
Bis zum Dienstag war das Maracanaço der Tiefpunkt der brasilianischen Geschichte (und nicht nur der Fußballgeschichte). Jene 1:2-Niederlage im finalen Spiel der WM 1950 gegen Uruguay, sie entriss Brasilien den schon sicher geglaubten WM-Titel. Diesen Makel sind Rio de Janeiro und sein Stadion jetzt los. Was soll schon kommen nach diesem Mineiraço, wie sie das Debakel künftig wohl nennen werden?
Höchste Niederlage aller Zeiten
Brasiliens zuvor höchste Niederlage datiert von 1920, ein 0:6 bei der Südamerikameisterschaft gegen Uruguay, die höchste Heimniederlage war ein 1:5 1939 in Rio gegen Argentinien. Damals war Brasilien noch ein Fußball-Schwellenland. Genauso müssen sie sich gestern gefühlt haben, die Senhores Hulk und Fred und Oscar und Maicon. Keine dieser tragischen Gestalten wird diesen Makel je aus seiner Vita löschen können.
Die tiefreligiösen Brasilianer werden es für eine göttliche Fügung halten, dass Neymar die Demütigung erspart blieb. Neymar da Silva Santos Junior ist der im fußballtechnischen Sinne einzige Brasilianer dieser brasilianischen Mannschaft.
Vergeblich hatte das Publikum vorher versucht, seine Mannschaft mit dem Geist des an einem Wirbelbruch leidenden Künstlers zu beseelen. Neymar saß neben der Tribüne neben Neymar und in der Kurve vor Neymar, und wenn er nach oben schaute, sah er Neymar und unter ihm Neymar. Überall lächelte der schiefe Mund unter der verwegenen Tolle. Aber in ihrer Wirkung standen die tausendfach verteilten Neymar-Masken doch nur für die Hilflosigkeit der Nation, für ihre Abhängigkeit von einem Solisten, ohne den alles zusammenbricht und dem Untergang geweiht ist.
Ohne Neymar hat Brasilien nichts Brasilianisches mehr
Ein besonders furchtbarer Abend war es für Neymars Vertreter Bernard Anício Caldeira Duarte, kurz Bernard. Er ist in Belo Horizonte aufgewachsen und hat hier bei Atletico Mineiro gespielt, Seite an Seite mit Ronaldinho, er hat mal über Neymar gesagt: „Es ist toll, den Moment mitzuerleben, wenn ein Star geboren wird.“
Am Dienstag ist in Belo Horizonte kein neuer Star geboren worden. Bernard wird aufpassen müssen, dass er nicht zu schweren Schaden nimmt, auf dass die internationale Karriere schon vorbei ist. Er machte seine Sache so schlecht nicht, hatte öfter den Ball und zählte zu den besseren Brasilianern, aber was hieß das schon. Ohne Neymar hat Brasilien nichts Brasilianisches mehr. Zu gravierend sind die strukturellen Probleme im brasilianischen Spiel, Neymar hatte sie mit seinen Zauberkunststücken zuweilen kaschieren können, aber eben nicht beseitigen.
Fred als Buhmann
In der Vorwärtsbewegung ist die Seleçao brasileira mit technisch guten, aber ohne jeden Esprit werkelnden Spielern wie Oscar, Hulk und eben auch Bernard eine Durchschnittsmannschaft. In der Defensive reicht es ohne den gesperrten Kapitän Thiago nicht mal zu Durchschnitt. Die Zuschauer pfiffen gegen ihre Mannschaft und besonders gegen den Stürmer Fred, obwohl der doch auch aus der Nähe von Belo Horizonte kommt. Aber mit seinen ungelenken Bewegungen, Stolpereinlagen und missratenen Dribblings steht er auf dem Fußballplatz für das Brasilien, mit dem die Brasilianer nichts zu tun haben wollen. Das Grauen fand für Fred ein unverdient frühes Ende. Zwanzig Minuten vor Schluss durfte er raus, gerade noch rechtzeitig, um immerhin nicht das siebte deutsche Tor als Augenzeuge auf dem Platz mitzuerleben.
Zum Schluss trauten sich die Deutschen kaum zu jubeln. Der am dezentesten gefeierte Finaleinzug der WM-Geschichte war als respektvolle Geste gemeint und machte die Brasilianer doch nur noch ein bisschen kleiner. An Tagen wie diesen kommt auch der Trost als Demütigung daher.