Druck im Profifußball: Kein Platz für Schwäche
Per Mertesacker hat mit seinen intimen Einblicken viele Menschen erreicht. Jeder kennt solche Situationen. Doch warum ist der Druck auf Fußballer besonders hoch?
Durchfall, Brechreiz und Würgen bis die Augen tränen. Solche Worte hat noch nie einer benutzt, der über Fußball spricht, ein Fußballweltmeister noch dazu. Per Mertesacker, heute 33, 104 Länderspiele für Deutschland, Kapitän des FC Arsenal, hat eine europaweite Debatte ausgelöst, als er dem „Spiegel“ anvertraute, jahrelang unter einem Druck gelitten zu haben, den er als unmenschlich erlebt habe. Im Fußballgeschäft gehe es „null mehr um Spaß, sondern darum, dass du abliefern musst, ohne Wenn und Aber“.
Die „Beichte“, wie die „Bild“ das Gesagte nannte, hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Die Hüter der heilen Fußballwelt reagierten mit Unverständnis. Mertesacker hätte ja aufhören können, wenn es so schlimm sei, schwadronierte Lothar Matthäus. Andere haben Mertesacker, die Anonymität der modernen Medien nutzend, in Foren oder auf Twitter kritisiert. Als Fußballprofi wisse man ja, worauf man sich einlasse, niemand werde dazu gezwungen. Und überhaupt, das viele Geld, das ein Profi verdient, darf dies nicht zuletzt als eine Art Schmerzensgeld verstanden werden?
Die allermeisten aber haben Mertesacker für seine intimen Einblicke, seine Offenheit und seinen Mut gedankt. Vielen Menschen spricht er aus der Seele, vor allem jenen, die keine Fußballprofis sind, aber deren Berufsleben sich in den vergangenen Jahren spürbar verändert hat. Immer mehr Menschen leiden unter dem wachsenden Druck, den Ökonomisierung, Globalisierung und Digitalisierung mit sich bringen. Stress ist zu einer Volkskrankheit geworden, von Jahr zu Jahr gehen mehr Beschäftigte in die Knie. Ausgelaugt vom Zwang zu permanenter Verfügbarkeit und steigender Arbeitsverdichtung treibt es Zehntausende jedes Jahr in die Frührente. Auch deshalb haben die Ausführungen Mertesackers die wenigsten gleichgültig hinterlassen.
Im großen Fußball herrscht großes Schweigen
Das „Weiter, weiter, immer weiter“, das einst Torwart-Titan Oliver Kahn dröhnte, stimmt heute immer noch, wenn auch anders als gemeint. In Bereichen wie dem Profifußball, der Politik und dem Showbusiness, die im Brennglas der Öffentlichkeit stehen, gehören Ängste, Burnouts, Depressionen und Suchtabhängigkeiten zu ständigen Begleitern. Auch in der normalen Arbeitswelt ist das Klima rauer geworden, viele sind verunsichert. Manch einer mag Mertesackers Ausführung deshalb als Jammern auf hohem Niveau abtun – ich habe auch Stress im Job und verdiene nur ein Hundertstel.
Aber der Fußball in seiner Spitze dreht sich noch einmal in einer anderen Umlaufbahn. Es gibt keinen Bereich mit mehr öffentlichen Deutungen und Wertungen. Auch deshalb gehen die allerwenigsten Fußballprofis mit ihren Sorgen, Ängsten oder Leiden an die Öffentlichkeit. Weil weder sie noch die Gesellschaft dafür bereit sind. Was passiert denn mit einem, der Schwäche öffentlich eingesteht?
Wunden an Geist und Seele werden nunmal viel intimer wahrgenommen als ein Beinbruch. Gerade in der Fußballwelt, einer Welt voller Getue und Gehabe, werden seelische Leiden als Schwäche ausgelegt. Noch heute ist gerade im großen Fußball großes Schweigen angesagt.
Das Angebot zur psychologischen Betreuung in den Vereinen ist in den vergangenen Jahren gestiegen, doch wer nutzt es wirklich? Wer traut sich? Viele Spieler scheuen sich sogar, zu Ärzten zu gehen – aus Angst, ihre Schwäche könnte entdeckt werden. Auch wenn die Sorgen noch so groß sind: Die Scheu stigmatisiert zu werden, ist viel größer.
Und das, obwohl die Öffentlichmachung der Depressionserkrankung von Sebastian Deisler (2003) und der Suizid von Robert Enke (2009) wie Schockwellen durch das Land gezogen sind. „Das ist ein Irrsinn. Wir sitzen alle auf einem Karussell. Und es dreht sich immer schneller“, sagte Deisler kurz bevor er mit dem Fußballgeschäft brach und völlig entnervt und entkräftet ausstieg. Im Alter von 27 Jahren. Damals und auch nach Enkes Tod wurden viele festliche Reden gehalten. „Denkt nicht nur an den Schein, über die Medien verbreitet. Denkt auch an das, was im Menschen ist. Fußball ist nicht alles“, sagte der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger am Sarg des toten Torwarts.
Inzwischen ist der Fußballprofi ein gläserner Sportler
Nun hat sich auch Thomas Müller zur Debatte geäußert. Jeder verspüre heute Leistungsdruck, in allen Bereichen. Das ist etwas relativ Normales im Berufsleben, sagte der Nationalstürmer. Mertesacker habe die Wahrheit angesprochen, „der Druck ist absolut da, weil unsere Leistung in der Öffentlichkeit bewertet wird.“
Das führt zu der Frage, was sich für den Einzelnen verändert, wenn die Öffentlichkeit dazu kommt? Der Profifußball ist eine riesige Leistungsschau. Millionen Menschen schauen anderen emotional bei der Arbeit zu und richten darüber. Inzwischen ist der Fußballprofi ein gläserner Sportler. Es gibt praktisch keine Daten, die nicht abgefragt und gewichtet werden. Jeder Schritt und jeder Pass wird mit Hilfe von GPS-Geräten vermessen, von Ball-Kontaktzeiten über Pulsfrequenz bis Schrittlänge. „Und das Ganze wird dann vom Publikum ins Verhältnis zu Gehalt und Transfersumme gesetzt“, sagt Hans-Dieter Hermann. Dabei werde gelegentlich außer Acht gelassen, dass viele Daten nur scheinbar objektiv sind und zur Beurteilung taugen.
Hermann ist promovierter Psychologe und begleitet seit 2004 die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, außerdem ist er Führungskräfte-Coach bei national und international tätigen Unternehmen. Auch Vorstände in der Wirtschaft, CEOs stünden unter Druck, sagt Hermann – mit dem feinen Unterschied, dass deren Fehler die Öffentlichkeit kaum mitbekomme. „Der Fußball löst in uns etwas aus, dadurch wird er für viele Menschen so wichtig.“
Leistungssportler sind auf Perfektion gedrillt
Fußballfans neigen dazu, das Tun der Spieler zu überhöhen und zu bewundern. Aber wie viel Schwäche gestehen wir ihnen zu? Wie schnell werden Erwartungen geschürt, wie schnell verfallen wir in Hysterie, wenn Resultate ausbleiben? Wie weit darf es gehen. Nach der 0:6-Niederlage gegen die Bayern wurden am Trainingsgelände des Hamburger SV elf Grabkreuzen aufgestellt, mit dem Zusatz: „Eure Zeit ist abgelaufen! Wir kriegen euch alle!“ Am selben Tag erschienen Mertesackers Einblicke.
Kritik wird aber auch persönlicher und subtiler angebracht. Nach einem Gruppenspiel der EM 2012 etwa formulierte Mehmet Scholl als Experte in der ARD an die Adresse des Stürmers Mario Gomez: „Ich hatte zwischendrin Angst, dass er sich wund gelegen hat, dass man ihn wenden muss.“ Es ist kein Einzelfall, dass Spieler das öffentliche Vorgeführt- oder Runtergemachtwerden als identitätsbedrohend wahrnehmen.
„Ich habe mich gefühlt wie eine Glühbirne, die einsam von der Decke hängt. Nackt. Für jeden sichtbar. Unter mir war nichts“, sagte Deisler damals. Von Beginn seiner Karriere stand er unter Genieverdacht und wurde um die Jahrtausendwende zum Heilsbringer des damals rumpelnden deutschen Fußballs erkoren. Die Erwartungen von außen waren riesig. Es war ein Rennen, das er nicht gewinnen konnte. Andere Fußballer kollidieren mit ihren eigenen, oft zu hohen Erwartungen. Leistungssportler sind auf Perfektion gedrillt, sie stellen höchste Anforderungen an sich selbst und leiden dann auch am meisten, wenn sie diese nicht erfüllen.
„Es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei“
Mertesacker hat lange durchgehalten, erst in diesem Sommer wird seine Profikarriere enden. Er würde es immer wieder machen, hat er dem „Spiegel“ gesagt, „selbst wenn ich vor jedem Spiel erbrechen und 20 Mal in die Reha müsste“. Wie schnell man in Ungnade fallen kann, wenn öffentlich erwartete oder geforderte Leistungen nicht erbracht werden, können viele erzählen. Mertesacker ist nie in Ungnade gefallen, sein Geständnis hat daher viele überrascht. „Mich wundert, dass sich gewundert wird“, sagt Hans-Dieter Hermann. „Was Per ausgesprochen hat, ist nicht unnormal für Menschen, die öffentlich etwas leisten müssen.“ Zumal es ja nicht nur die Fälle Deisler und Enke gab. Offenbar hält sich aber immer noch der Glaube, dass der Profifußball eine Ansammlung lauter starker Männer ist.
Nachdenklich stimmt, was Mertesacker über seine Empfindungen während der Heim-WM 2006 erzählt hat. Während die Deutschen in ihrem WM-Sommer in kollektiven Taumel fielen, hat Mertesacker das Halbfinal-Aus gegen Italien als Erleichterung empfunden. „Es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei.“ Mertesacker war damals 21 und der Spieler mit der besten Zweikampfquote. Trotzdem hat er das Turnier als Last empfunden. Wie kann das einer sagen, dem Millionen Menschen zujubelten und eine Heldenrolle angedeihen ließen? Er wolle ausdrücklich nicht „weinerlich klingen“, hat Mertesacker erzählt. Natürlich seien ihm die Privilegien seines Lebens bewusst.
Millionen auf dem Konto schützen nicht vor Selbstzweifeln
Wer Leistungssport betreibt, begibt sich in eine besondere Drucksituation. Spieler wie Mertesacker, die ganz oben angekommen sind, sind mit dem Druck groß geworden, aber nicht gleich ausgehärtet. Der Verdrängungswettbewerb fängt früh an und macht vor der eigenen Kabine nicht Halt. Stärke zählt, niemals würde ein Spieler seinem Nachbarn Momente der Schwäche zugeben – er könnte ja sein Konkurrent sein. Andere wiederum laufen unter Stress zu Hochform auf.
Man hat zu funktionieren, suggeriert das Geschäft. Doch dieses Wir-müssen-funktionieren wird immer wieder individuell hinterfragt. Das ist im Sport nicht anders als im normalen Berufsleben. Viele fühlen sich überfordert, oder wissen nicht, wie sie Anforderungen gerecht und Aufgaben bewältigen sollen. Zu selten wird im betrieblichen Alltag über Stärken gesprochen, da sogenannte Leistungskennzahlensysteme Einzug halten, KPIs (Key Performance Indicator). Deren Aussagekraft ist umstritten, zumal sie von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich erhoben und interpretiert werden.
Am Ende bleibt nur das viele Geld, das ein Fußballprofi verdient. Auch deswegen nehmen viele Spieler Ängste, Brechreiz und Würgegefühle in Kauf. Millionen auf dem Konto schützen aber nicht vor Selbstzweifeln.
Insofern ist es von Wert, wenn Menschen wie Per Mertesacker an die Öffentlichkeit gehen. Sie können mit ihrer Popularität sehr viele Menschen erreichen und Debatten wie diese anstoßen. Sie können helfen, dass andere sich hinterfragen und sich im Zweifel vielleicht selbst Hilfe suchen. Und sie zeigen den Nachwuchsspielern, was es wirklich bedeutet, Fußballprofi zu sein.