Diskussion über Druck im Profifußball: "Wenn du nicht lieferst, wirst du aussortiert"
Im "Spiegel" spricht Per Mertesacker über das Leiden unter dem Erwartungsdruck im Profifußball. Das löst eine Debatte aus. Auch Ex-Nationalspieler Marcell Jansen äußert sich.
Es sind Szenen, an die sich die ganze Nation erinnert. Sommer 2006, eine junge deutsche Nationalmannschaft kämpft sich bei der Heim-WM bis ins Halbfinale. Dort bietet sie den favorisierten Italienern lange Paroli, zwingt sie in die Verlängerung. Erst kurz vor Schluss treffen Fabio Grosso und Alessandro Del Piero für Italien und beenden den Titel-Traum der Deutschen. Das Turnier geht trotzdem als Sommermärchen in die Geschichte ein.
Für einen scheint es dagegen ein einziger Albtraum gewesen zu sein. „Ich dachte nur: es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei“, offenbarte Abwehrspieler Per Mertesacker nun im Magazin „Der Spiegel“. Es ist ein ungewöhnlich intimer Bericht über den Druck, dem Sportler im scheinbar privilegierten Profifußball ausgesetzt sind.
„Natürlich war ich mir der Verantwortung für das ganze Land bewusst“
Einer, der 2006 ebenfalls im deutschen WM-Kader stand, gegen Italien aber nicht zum Einsatz kam, ist Marcell Jansen. Als damals jüngster Nationalspieler erlebt er die Heim-WM großteils von der Bank, erst im Spiel um Platz drei gegen Portugal steht Jansen auf dem Feld und verteidigt 90 Minuten gegen Cristiano Ronaldo. „Für mich war das total beflügelnd“, sagt er dem Tagesspiegel rückblickend. Er erinnert sich aber auch an ein anderes Gefühl: „Natürlich war ich mir der Verantwortung für das ganze Land bewusst.“
Von den Gedanken seines konstant auf Topniveau spielenden Kollegen habe er nichts mitbekommen. Nachvollziehen könne er diese aber. „Ich ziehe meinen Hut vor Per, dass er über diese schwierigen Momente im Profifußball berichtet – er könnte es sich ja auch leicht machen und einfach seine Karriere in Ruhe beenden.“
Seine eigene Laufbahn hatte Jansen mit nur 29 Jahren mit der Begründung beendet, er wolle sich neuen Projekten widmen. Daraufhin hatte ihm der frühere Nationaltrainer Rudi Völler vorgeworfen, er habe den Fußball nie geliebt. Es stimme, entgegnete Jansen damals, er habe das Fußball-Geschäft nie geliebt – aber akzeptiert, denn es habe ihm vieles ermöglicht. Gestört habe ihn jedoch immer die Ersetzbarkeit.
„Der Sport ist ein Business. Wenn du nicht lieferst, wirst du aussortiert“, sagt Jansen heute. Dass gerade junge Spieler darunter leiden können, dafür habe er Verständnis. „Ich habe auch immer ein Kribbeln und Druck verspürt, aber ich konnte damit umgehen. Das ist sehr Spieler abhängig.“
Die Äußerungen von Ex-Nationalspieler Lothar Matthäus sehen manche kritisch
Auch Jan Baßler, Geschäftsführer der Robert-Enke-Stiftung, vermutet, dass Mertesackers Äußerungen, lieber verletzt oder auf der Tribüne zu sein, nicht repräsentativ für den gesamten Profifußball sind. „Ohne es wissenschaftlich belegen zu können, sind diese Ausprägungen, wohl eher die Seltenheit – ich hoffe es zumindest.“ Trotzdem müsse man die Äußerungen sehr ernst nehmen. „Wenn selbst ein scheinbar cooler Abwehrspieler solche Gefühle hat, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass er dieses Problem hatte und damit umgehen musste.“
Zwar gebe es bereits ein niedrigschwelliges Angebot für Spieler in den Vereinen, die allesamt Sportpsychologen beschäftigen, diese seien aber als Angestellte von der Schweigepflicht entbunden. Mit dem Fall von Hannovers Torwart Robert Enke, der sich 2009 wegen Depressionen das Leben nahm und eine bundesweite Debatte auslöste, will Baßler die Causa Mertesacker aber nicht vergleichen. „Allein, dass wir nicht mehr darüber sprechen, ob Per Mertesacker Schwäche zeigen darf, beweist, dass sich etwas verändert hat.“
Kritisch sieht Baßler die Äußerungen von Ex-Nationalspieler Lothar Matthäus. Er hatte Mertesacker, der nach seinem Karriereende im Sommer das Nachwuchsteam vom FC Arsenal in London übernimmt, die Trainer-Kompetenz abgesprochen. Baßler sieht das anders: „Per Mertesacker ist genau der richtige Nachwuchstrainer – er ist ein Vorbild und hat offensichtlich auch die nötige Sensibilität für ein schwieriges Thema.“
Bereits in den 90er-Jahren ein Problem
Thorsten Dolla überraschen die Äußerungen von Mertesacker nicht. „Ich hatte in den 90er Jahren bereits Spieler, die auch die Hilfe eines Psychotherapeuten in Anspruch genommen haben“, sagt der langjährige Mannschaftsarzt von Hertha BSC und Union Berlin. Meist hätten die Spieler über Schlafstörungen und Druck nach Verletzungen oder verlorenen Spielen geklagt. Die Behandlungen hätten den Spielern geholfen, seien aber nicht in der Mannschaft thematisiert worden. „Wäre das publik geworden, wäre es ein Skandal gewesen“, sagt der Orthopäde. An der Offenheit im Mertesacker-Interview sähe man, was sich gesellschaftlich zum Guten verändert habeWeniger positiv bewertet Dolla dagegen die Entwicklung der medialen Aufmerksamkeit auf die Spieler. „Die Jungs können heute ja nicht mal mehr abends zum Ausspannen ein Bier trinken, ohne direkt damit im Internet zu landen.“ Dass die mentale Belastung für Abwehrspielern und Torwarte höher sei, als auf Offensivspieler glaubt der Arzt nicht: „Das ist ein Mannschaftssport, da stehen alle unter Druck.“