Hoffnungsträger der Nationalmannschaft: Kai Havertz: Immer einen Schritt voraus
Der Leverkusener Kai Havertz ist erst 19 und gilt in der deutschen Nationalmannschaft als Versprechen auf die Zukunft. Nur: Wohin mit ihm in der Gegenwart?
Joshua Kimmich lässt sich gerade einen Oberlippenbart stehen. Das verleiht seinem Äußeren etwas Verwegenes, aber wenn man genauer hinschaut, wirkt Kimmich mit seiner glatten Haut und dem sittsamen Seitenscheitel immer noch auffallend jung. Kein Wunder: Der deutsche Fußball-Nationalspieler ist mit 23 Jahren auffallend jung. Aber man sollte sich von seinem Aussehen nicht täuschen lassen. Auf dem Platz verfügt Kimmich über eine altersuntypische Reife. Fast 40 Länderspiele hat er schon bestritten, vielen gilt er als künftiger Kapitän der Nationalmannschaft, und wenn man diese Entwicklung einmal bis an ihr Ende denkt, dann müsste Kimmich irgendwann ganz automatisch als Manager bei seinem aktuellen Klub, dem FC Bayern München, landen.
Dass er Ahnung von der Materie hat, hat Kimmich am Donnerstagabend in Leipzig offenbart, als er zur Personalpolitik der Bayern vernommen wurde. „Ich kann ihn nicht kaufen“, antwortete er auf eine entsprechende Frage, „aber Kai Havertz ist ein Spieler, der gut zu uns passen würde.“ Böse Zungen behaupten: Mit dieser Einschätzung hat Kimmich schon mehr Hellsicht bewiesen als sämtliche Kaderplaner des FC Bayern in diesem Sommer.
"Er hat ein überragendes Spiel gemacht"
Ja, Kai Havertz, das ist einer, den man auf dem Schirm haben sollte. Die Erkenntnis ist weder ganz neu noch besonders originell. Aber im Test am Donnerstag gegen Russland, als der 19 Jahre alte Leverkusener in seinem zweiten Länderspiel zum ersten Mal in der Startelf der Nationalmannschaft auftauchte, ist das vermutlich auch einem größeren Publikum zum ersten Mal so richtig klar geworden. „Er hat ein überragendes Spiel gemacht“, sagte Kimmich und bescheinigte Havertz „ein totales Gefühl für den Raum, eine super Ballkontrolle und eine tolle Übersicht“.
Ähnlich wie Kimmich ist auch Havertz ein Frühreifer. Schon als Teenager hat er Erfahrung in Champions und Europa League gesammelt, in 65 Bundesligaspielen kommt er auf 27 Torbeteiligungen (17 Assists, 10 Treffer), und gegen die Russen gelang ihm nun auch der erste Assist in der Nationalmannschaft. Vor dem 3:0 durch Serge Gnabry überwand Havertz mit einem schnittigen Pass in die Spitze die komplette russische Defensive. „Für 19 Jahre ist er sehr weit, sehr abgeklärt“, sagt Bundestrainer Joachim Löw. „Wenn man sieht, wie er vor dem dritten Tor den Ball nach vorne mitnimmt – genau das ist eben seine große Qualität: zu sehen, wer ist hinter mir. Niemand. Also den Ball nach vorne mitnehmen und in die Tiefe reinspielen.“
Als Havertz nach dem Spiel gegen die Russen aus der Kabine trat, hatte er die schwarze Kapuze seiner Jacke unter dem Kinn fest zusammengeschnürt. Nur sein Gesicht war noch zu sehen – fast so, als wollte er sich irgendwie tarnen und unbemerkt dem ganzen Trubel um seine Person entkommen. Auf dem Platz hingegen fällt Havertz ganz selbstverständlich auf, ob er will oder nicht. Das liegt nicht nur an seiner stattlichen Länge von fast 1,90 Meter; es liegt vor allem an der Selbstverständlichkeit in seinem Spiel, die gespeist wird aus einer bemerkenswerten Sicherheit am Ball: Tempo und Schärfe seiner Pässe stimmen fast immer. „Nicht hektisch, durch Übersicht geprägt“, so beschreibt der 19-Jährige sein Spiel.
Die Konkurrenz im zentralen Mittelfeld ist groß
Mit seinem Talent ist Havertz schon früh aufgefallen, seiner Zeit war er meist einen Schritt voraus – so wie auf dem Platz seinen Gegenspielern. Die U 21 zum Beispiel hat Havertz auf dem Weg in die A-Nationalmannschaft komplett übersprungen, und man braucht nicht allzu viel Fantasie, um Havertz über kurz oder lang auch in der Nationalmannschaft als prägende Figur zu sehen. „Natürlich kann man sich gut vorstellen, dass er irgendwann eine Schlüsselrolle bei uns einnimmt“, sagt Bundestrainer Löw. „Er ist ein Spieler, dem die Zukunft gehört und der alle Chancen hat, eine große Karriere zu starten.“ Havertz scheut sich nicht vor der Verantwortung, die als zentraler Mittelfeldspieler ganz selbstverständlich auf ihn zukommt. Er mag es, auf der Zehn zu spielen, „den Mitspielern Vorlagen zu geben und sie glänzen zu lassen“. So wie gegen Russland. „Es hat riesig Spaß gemacht“, sagt Havertz. „Ich hatte viele Aktionen, viele Bälle. Ich glaube, ich kann ganz zufrieden sein.“
Doch auch wenn Kai Havertz die Zukunft ist, bleibt die Frage: Wohin mit ihm in der Gegenwart? Durch den Rücktritt von Mesut Özil gibt es auf der Zehnerposition zwar eine Vakanz, allerdings scheint Löw diese Rolle am liebsten dem Dortmunder Marco Reus anvertrauen zu wollen, der gerade so stark ist wie lange nicht. Für das Nations-League-Spiel am Montag gegen Holland kehrt zudem Toni Kroos zur Nationalmannschaft zurück. Bleibt Bundestrainer Löw bei einer Dreierkette wie gegen Russland, gäbe es im zentralen Mittelfeld nur zwei Planstellen, für die Havertz mit den Schwergewichten Kroos, Kimmich und Reus konkurrieren müsste. In einem 4-3-3-System wären es immerhin drei Plätze für vier Bewerber.
„Wie er sich in den wenigen Trainingseinheiten präsentiert hat, das war schon auffällig gut“, sagt Joachim Löw über Kai Havertz. „Für 19 ist er sehr weit in seiner Entwicklung.“ Aber angesichts seiner Konkurrenten vielleicht noch nicht weit genug.