Fußball-Nationalmannschaft: Joachim Löw und die Sehnsucht nach neuen Gesichtern
Beim 3:0 gegen Russland zeigt sich die Nationalelf so frisch wie lange nicht. Der Umbruch ist nicht nur möglich, sondern auch nötig. Ein Kommentar.
Im internationalen Fußball wird gerade über einige durchaus gravierende Regeländerungen beraten. So steht unter anderem zur Debatte, dass es bei Elfmetern künftig keine Möglichkeit zum Nachschuss mehr geben soll. Dass Fußballspiele wegen Belanglosigkeit abgebrochen werden können, ist allerdings auch künftig nicht geplant. Gäbe es diese Möglichkeit bereits, dann wäre die Begegnung zwischen Deutschland und Russland am Donnerstagabend in Leipzig ungefähr ab der 52. Minute ernsthaft vom vorzeitigen Schlusspfiff bedroht gewesen.
Nach einer beschwingten ersten Halbzeit führten die Deutschen gegen einen allerdings nicht satisfaktionsfähigen Gegner mit 3:0. Aber ungefähr ab der 52. Minute passierte nichts mehr von Belang, sieht man einmal von den insgesamt zwölf Wechseln bei beiden Mannschaften ab, die das nun zähe Spiel noch ein bisschen zäher werden ließen. Das Publikum nahm diese Zumutung keineswegs gleichgültig zur Kenntnis. Es begleitete das Nichtereignis auf dem Rasen zwischenzeitlich mit einer Welle durch das halbleere Rund; selbst die Verkündung der eher bescheidenen Zuschauerzahl wurde mit freundlichem Applaus gefeiert. So schnell kann man sich neuen Kredit verschaffen.
Das lag zum einen am Auftritt der Nationalmannschaft vor der Pause, an einer Halbzeit voller Tempo, voller Lust und Elan, mit Esprit und Schneid. Es lag aber noch viel mehr an den Spielern, die für diesen Auftritt verantwortlich waren – an Leuten wie dem überaus talentierten Kai Havertz, an den beiden Torschützen Serge Gnabry oder Leroy Sané, die alle bei der WM im Sommer nicht von Bundestrainer Joachim Löw berücksichtigt worden waren. Löw hat in Russland lieber auf Erfahrung gesetzt, alte Erfolge für wichtiger gehalten als jugendlichen Elan. Das Ergebnis ist bekannt.
Wer spielt gegen die Niederlande?
So unroutiniert und erfrischend wie in Leipzig hat man die Nationalmannschaft zuletzt 2017 beim Confed-Cup gesehen, als Löw eine bessere B-Mannschaft spielen ließ und mit ihr den Titel holte. Trotzdem mussten die Herausforderer anschließend wieder einen Schritt zurücktreten und für die Weltmeister von 2014 Platz machen. Heute weiß man, dass der Bundestrainer damals eine günstige Gelegenheit zum Neuaufbau ungenutzt hat verstreichen lassen.
Das Spiel am Donnerstag aber dürfte Löw nun endgültig gezeigt haben, dass der Umbruch, anders als der Bundestrainer es bisher immer gedacht hat, nicht nur möglich, sondern auch nötig ist - um das frustrierende WM-Erlebnis endgültig hinter sich zu lassen. Man stelle sich mal vor, wie die Zuschauer reagiert hätten, wenn die Nationalmannschaft in ihrer alten Besetzung eine derart dünne zweite Halbzeit abgeliefert hätte. Das Publikum sehnt sich nach einem trägen Sommer nach neuen, frischen Gesichtern – im Gegenzug ließ es Nachsicht walten.
Am Montag steht für die Nationalmannschaft gegen Holland das letzte Länderspiel in einem schon jetzt verkorksten Jahr an. Joachim Löw hat die Möglichkeit, zumindest den Abgang noch ein wenig erträglich zu gestalten. Das hängt nicht nur davon ab, ob sein Team den Abstieg aus der ersten Division der Nations League doch noch verhindert. Es hängt in erster Linie davon ab, welche Spieler er für diese Begegnung auf den Platz schickt. Ob er sich für die Zukunft oder für die Vergangenheit entscheidet.