Nun auch noch Nico Schulz: Hertha BSC gibt dem Nachwuchs keine echte Chance
Mit Nico Schulz kehrt ein weiteres Eigengewächs Hertha BSC den Rücken. Dass im Klub mehr über ungarische Importe als über Berliner Jungs nachgedacht wird, ist ein Armutszeugnis. Ein Gastkommentar.
Als hätte ich es nicht schon geahnt – nun kehrt auch „unser“ Nico Schulz Hertha BSC frustriert den Rücken, der vorerst Letzte aus der Garde der Jungtalente, der über die Sporteliteschule den Sprung in den Profikader geschafft hat. Was ist da los? Warum gelingt es der Abteilung Psychologie und Pädagogik bei Hertha nicht, junge Spitzenfußballer zu motivieren und damit in Berlin zu halten? Fast sechs Jahre haben wir an der Poelchau-Oberschule zusammen gelernt und zum Schluss mit aller Verve um Nicos Verbleiben gekämpft!
Wann erhält denn der eigene Nachwuchs bei Hertha – das wünsche ich mir – endlich einmal die echte Chance, sich eine Spielzeit durchgängig zu bewähren?
Es ist schon auffällig, dass es seitens des Vereins in der Vergangenheit stets bei großmundigen Ankündigungen geblieben ist, Vertrauen aber wurde der jungen Generation nicht nachhaltig geschenkt. Vielleicht einmal ansatzweise bei jenem Nico Schulz, der jetzt dem früheren Hertha-Trainer Lucien Favre nach Mönchengladbach folgt.
Da kann man schon auf die Idee kommen, dass die von Hertha BSC so hoch gepriesene Fußballakademie lediglich ein Feigenblatt für eine vermeintlich vorbildliche Jugendarbeit darstellt. Ja, Superspieler sind schon durch dieses Internat gegangen – nur der Hertha haben sie wenig gebracht. Da spreche ich nicht einmal von den Boatengs. Das war und ist ein Extrakapitel. Aber ich spreche zum Beispiel von Maximilian Philipp, der in der vergangenen Saison für den SC Freiburg in Berlin das Siegtor schoss und dessen Treffer – rein rechnerisch – damit Herthas Abstieg hätte bedeuten können. Am Ende blieb Hertha nur wegen der besseren Tordifferenz in der Liga. Oder Alfredo Morales, der nunmehr mit Stammplatz aus Ingolstadt grüßt – übrigens mit Abitur an der Poelchau-Elitesportschule und Berufung in die US-Nationalmannschaft von Jürgen Klinsmann. Perdu, arme Hertha!
Maximilian Philipp und Alfredo Morales sind andere negative Beispiele
Immerhin hat Alfredo seinerzeit die Vernunft walten lassen und sich nicht von geldgierigen Vermittlern den vorzeitigen Abgang von der Schule aufschwatzen lassen. Gratuliere, Alfredo, aber leider ein Einzelfall. Reihenweise brechen talentierte Fußballspieler in Berlin ihre Schullaufbahn vorzeitig ab, um dem großen Geld nachzuhecheln. Das klappt, wir wissen es, nur in wenigen Fällen. Ansonsten landen die Jungtalente – oft über die Zwischenstation Regionalliga – meist in der Oberliga oder noch weiter unten! Oder hängen die Schuhe an den berühmten Nagel und stellen fest, dass sie ohne Abschluss dastehen. Wer hilft ihnen dann?
Ich gebe trotzdem die Hoffnung nicht auf, dass sich auch die Verantwortlichen bei Hertha BSC darüber einmal ergebnisorientiert Gedanken machen. Berliner Jungs statt ungarischer Importe, das muss die Linie sein! Die Berliner Sportschulen haben diese Problematik längst erkannt und halten, hoffentlich auch in Zukunft, dagegen. Es wird um jeden Schüler gekämpft, mit hohem Kraftaufwand und äußerst individueller Förderung. Hier wird jungen Menschen Zeit zur Entwicklung eingeräumt, Rückschläge werden gemeinsam gemeistert. „Aussortieren“ ist den Schulen fremd. Auch um Nico hatten wir gekämpft und letztlich verloren.
All diese schulischen Anstrengungen haben natürlich nur eine begrenzte Wirkung, wenn der Verein nicht mitzieht. Hier ist noch viel Luft nach oben. Natürlich glaube ich nicht blauäugig nur an das Gute, schon gar nicht im bezahlten Fußball. Ich weiß, dass gerade hier mit abnormen Beträgen das Geld die Welt regiert. Natürlich weiß ich, dass es im Falle Nico Schulz um Ablöse und Vertragsverlängerung geht. Gerade deswegen müssen sich die Protagonisten in der Jugendarbeit ihrer Verantwortung bewusst sein. Dazu gehört auch, den Talenten Zeit zu geben, sie sportlich und pädagogisch individuell zu fördern und ihnen die Chance zu eröffnen, ganz oben mitspielen zu dürfen. Auch bei Nico Schulz ist das leider nur bedingt gelungen.
Rüdiger Barney, 67, war 17 Jahre lang Direktor der Poelchau-Oberschule, die mit Hertha BSC kooperiert. Er hat darüber das Buch „Die Eliteschule des Sports – der Königsweg?“ geschrieben.
Rüdiger Barney