Bundesliga-Trainer Oliver Glasner im Interview: „Früher lag die Schmerztablette am Frühstückstisch“
Der Coach des VfL Wolfsburg über sein dramatisches Karriereende als Spieler, den Aufschwung seiner Mannschaft und die öffentliche Kritik am Profifußball.
Herr Glasner, Sie haben mit einer einjährigen Ausnahme Ihre ganze Laufbahn als Abwehrspieler bei der SV Ried verbracht. Ab 1992 fast 20 Jahre lang – ein solcher Zeitraum bei einem Verein war auch damals schon ungewöhnlich.
Es hat einfach gepasst. Ich bin mit 18 nach meinem Abitur dort hingegangen. Wir waren in der Zweiten Liga, sind später aufgestiegen und zweimal Pokalsieger geworden.
Ein Wechsel zu einem größeren Klub hat Sie nie gereizt?
Interesse anderer Vereine gab es öfter, doch es hat sich immer zerschlagen. Irgendwann war klar, dass es bei mir für das große internationale Geschäft nicht reicht. Manche der heutigen Mitarbeiter waren schon zu meiner Zeit da, der Masseur beispielsweise. Da sind viele Freundschaften entstanden. Das war eine tolle Zeit.
Sie sind Ehrenkapitän auf Lebenszeit. Welche Annehmlichkeiten bringt das mit sich?
Diese Ehre wurde mir nach meiner Karriere zuteil und ist eine schöne Auszeichnung. Ich habe dadurch keine Vorteile, aber auch keine Nachteile (lacht).
Verfolgen Sie den Weg der SV Ried noch?
Ich schaue auf Ried und auf die Vereine, bei denen ich entweder als Spieler oder Trainer aktiv war, den LASK (Linzer ASK, d. Red.) und Red Bull Salzburg. Ich habe mich sehr gefreut, dass Ried im Sommer aufgestiegen ist.
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Sind Sie sehr heimatverbunden?
Heimat ist für mich, wo meine Familie und meine Freunde sind. Und das ist in Österreich. Meine engsten Freunde kannte ich schon vor meiner Fußballzeit.
Können Sie Ihre Familie derzeit trotz der Coronavirus-Pandemie regelmäßig sehen?
Wir sehen uns meist alle zwei Wochen für ein, zwei Tage. Vom Gesetzgeber ist es möglich, sich 72 Stunden zu treffen, ohne danach in Quarantäne zu müssen. In Österreich hat inzwischen die breite Bevölkerung die Möglichkeit, sich testen zu lassen, das finde ich super. Ich werde ohnehin täglich getestet.
2019 sind Sie zum VfL Wolfsburg gekommen. Gab es Dinge, die in der Bundesliga völlig anders sind als erwartet?
Hier ist alles ein bisschen größer, es gibt mehr Aufmerksamkeit. Nichts, woran man sich nicht gewöhnen kann. Ich suche gern Herausforderungen. Sonst hätte ich es mir gemütlich machen und einen Zehnjahresvertrag in Linz unterschreiben können.
Am Spielfeldrand wirken Sie oft sehr ruhig.
Ich wirke nach außen wahrscheinlich gelassener als ich bin. Diejenigen, die täglich mit mir arbeiten, kennen mich auch anders. Wenn mir im Training etwas gegen den Strich geht, kann ich laut werden.
Im Spiel kommt das kaum vor.
Da bin ich sehr konzentriert. Mal geht es darum, ob ich mit einer kleinen taktischen Umstellung positiven Einfluss nehmen kann. Mal brauchen die Spieler Zuspruch. Daher tobe ich nicht draußen rum.
Sie mussten Ihre Karriere im Jahr 2011 nach einer schweren Kopfverletzung beenden. Sie hatten sich zunächst in einem Spiel eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen. Einige Tage später wurde vor einem Qualifikationsspiel zur Europa League bei Bröndby IF eine Gehirnblutung festgestellt. Schauen Sie seit der Verletzung mit anderen Augen auf den Fußball?
Ich hatte schon vorher immer gesagt, dass Familie und Freunde das wichtigste im Leben sind. Viel wichtiger als Fußball. Das gilt auch im Umgang mit meinen Spielern.
Wie äußert sich das konkret?
Wenn ein Spieler zum Beispiel Vater wird oder es einen Krankheitsfall in der Familie gibt, gebe ich so lange frei, wie es nötig ist. Die Spieler sollen zurückkommen, wenn sie dazu bereit sind. Und ich selbst ärgere mich manchmal über Kleinigkeiten und versuche mir dann zu sagen: Mach mal halblang.
Über Ihre Verletzung sagen Sie, dass es für Ihre Familie schlimmer war als für Sie.
Ich kann mich an nichts erinnern. Alles, was ich weiß, stammt aus Erzählungen. Meine Frau wurde aus Kopenhagen angerufen und musste ihr Einverständnis für die Not-OP geben. Sie wartete eigentlich zu Hause auf den Anpfiff des Spiels und plötzlich ging es um Leben und Tod.
Andreas Luthe, der Torwart des 1. FC Union, ist Anfang Februar im Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach nach einem Zusammenprall wegen einer Kopfverletzung ausgewechselt worden. Er sagte danach, „der Umgang mit meiner Geschichte war wirklich gut und konsequent.“ Wie war das früher?
Mit Kopf- und generell mit Verletzungen wird heute verantwortungsbewusster umgegangen. Ich sage es etwas übertrieben: Früher lag die Schmerztablette am Frühstückstisch. Ich habe zum Teil gespielt, obwohl ich mir die Schuhe nicht allein binden konnte. Irgendwie ging es trotzdem. Heute gibt es viel mehr Betreuung von ärztlicher Seite. Aber auch die Spieler sind vernünftiger geworden.
Zucken Sie zusammen, wenn Sie schwere Zusammenstöße mit dem Kopf sehen?
Ja, jedoch nicht wegen meiner Geschichte. Erst einmal wünsche ich niemandem schwere Verletzungen. Und etwa bei Kreuzbandverletzungen kann ich bei den Bildern, wie es passiert ist, oft gar nicht hinschauen.
Herr Glasner, wir kennen jemanden, der kürzlich zehn Euro auf den VfL Wolfsburg als Meister gesetzt hat. Die Quote lag bei 250. Können Sie ihm Hoffnung auf einen baldigen Geldregen machen?
Warum hat er nicht mehr gesetzt? (lacht) Ich finde, sollten wir Meister werden, wären 2500 Euro als Gewinn ziemlich wenig.
Ihre Mannschaft ist seit Anfang Januar ungeschlagen, hat seit Mitte Januar kein Tor kassiert. Wohin kann das in dieser Saison führen?
Erst einmal zum Heimspiel gegen Hertha BSC. Wir kreieren keine Szenarien oder rechnen, was im Mai sein könnte.
Das Duell der österreichischen Trainer in der Bundesliga gegen Adi Hütter von Eintracht Frankfurt wollen Sie aber in der Abschlusstabelle auf jeden Fall gewinnen?
Ich will gegen jeden gewinnen. Davon abgesehen schätze ich Adi sehr und gönne ihm den Erfolg.
Wenn es für den VfL so weitergeht…
…wenn es bei allen so weitergeht, sind am Ende der FC Bayern, RB Leipzig, wir und Frankfurt in der Champions League. Wir wissen aber nicht, ob es so weitergeht. Die Bayern etwa hatten in der Liga einen kleinen Durchhänger – und gewinnen dann 4:1 bei Lazio Rom. Wichtig ist, dass wir als Team fokussiert bleiben.
Wo liegen die Hauptgründe für den Erfolg?
Da gibt es mehrere. Der Stamm der Mannschaft ist in der dritten Saison zusammen, dazu haben wir uns punktuell gut verstärkt. Außerdem haben wir durch das bittere Aus gegen AEK Athen viel Trainingszeit gewonnen.
Anfang Oktober hieß es in der Qualifikation zur Europa League 1:2 gegen Athen.
Von September 2019 an hatten wir ein Jahr lang fast keine richtigen Trainingswochen: Spiele, Regeneration, dann die Unterbrechung wegen der Pandemie. Nach der Niederlage gegen Athen hatten wir Zeit, offensiv und defensiv Schwerpunkte zu trainieren. Für die Entwicklung der Mannschaft hatte das rückblickend betrachtet große Vorteile. Kurz vor Weihnachten fehlten uns im DFB-Pokal gegen Sandhausen zwölf Mann wegen positiver Coronatests oder Verletzungen. Aber alle haben zusammengestanden und wir haben es geschafft.
Im Herbst gab es auch Ihren Disput mit Manager Jörg Schmadtke. Sie sagten, eines der Transferziele sei nicht erreicht worden.
Mit dem Wort „Disput“ tue ich mich weiterhin schwer. Ich habe meine Meinung kundgetan, dass wir anfangs wenig Tore erzielt haben. Zudem habe ich in der Wir-Form gesprochen. Ich halte es für legitim und wichtig, dass ein Trainer, wenn er gefragt wird, sich dazu äußert, warum Sachen funktionieren oder nicht.
Ihr Trainerkollege Pal Dardai hat in seinen vier bisherigen Spielen zum Teil große Veränderungen in Herthas Startelf vorgenommen. Sie haben sechs Mal nacheinander mit der identischen Startelf begonnen. Ist das der Idealfall?
Das ist das Wunschszenario eines jeden Trainers, denn das heißt, dass du erfolgreich bist. Ich bin froh, dass alle fit waren und gut mitgezogen haben. Nun sind einige Spieler fraglich und John Anthony Brooks ist gelbgesperrt.
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Hertha BSC steht als Tabellen-15. unter großem Druck. Ein Vorteil für Wolfsburg oder macht es den Gegner gefährlicher?
Ich weiß, dass die Mannschaft sehr viel Qualität hat. Mit Piatek, Lukebakio und Cunha in der Offensive, mit Weltmeister Khedira, um nur einige zu nennen. Die Punktzahl und die Ergebnisse der letzten Spiele waren nicht zufriedenstellend, aber ich habe mir das Spiel gegen Leipzig angesehen…
…das 0:3 endete.
Das Ergebnis war eindeutig zu hoch. Beide Teams waren lange auf Augenhöhe. Wenn wir wieder an unsere Grenzen gehen, haben wir gute Chancen zu gewinnen. Wenn wir nur ein bisschen nachlassen, hat Hertha gute Chancen.
Zuletzt gab es erneut große Diskussionen über die Rolle des Profifußballs in der aktuellen Situation. Sei es die Reise des FC Bayern zur Klub-WM nach Katar oder die nach Budapest verlegten Spiele deutscher Teams in der Champions League. Verstehen Sie die Kritik?
Meiner Meinung nach ist das eine Debatte, in der viel Neid zu spüren ist. Nach dem Motto: Die Multimillionäre können sich alles erkaufen. Das ist wenig zielführend.
Was wäre aus Ihrer Sicht zielführender?
Die Politik hat die Aufgabe, Lösungen für die Gesellschaft zu finden. Nur ein Beispiel: Meine drei Kinder gehen in Österreich zur Schule und werden erst jetzt einmal wöchentlich auf Corona getestet. Wir werden mittlerweile täglich getestet, um unseren Beruf auszuüben. Den Fußball permanent zu kritisieren, halte ich für populistisch. Stattdessen hätte vieles, was gut geklappt hat, viel früher umgesetzt werden können für andere Zweige der Gesellschaft – bei der Öffnung von Schulen oder Kitas oder um die Lage in Pflegeheimen besser in den Griff zu kriegen.