Faszination Laufen: Freiheit, Selbstbewusstsein, Gleichberechtigung – fünf Liebeserklärungen
Im Park, im Fitnessstudio oder in der Berliner Innenstadt: Laufen geht überall. Hier erzählen Profis und Hobbyläufer*innen, was sie am Laufen begeistert.
Es ist unkompliziert, umweltfreundlich und geht überall. Laufen verbindet und begeistert Menschen. Im Folgenden erklären fünf Läuferinnen und Läufer ihre Leidenschaft. [Zusammengetragen von Selina Bettendorf.]
Laufen ist ein Geschenk
Ich kann laufen. Was für so viele Menschen banal klingt und ist, halte ich für eines meiner größten Geschenke. Das war gewiss nicht immer so. Ein Motorradunfall im Sommer 2015, die damit verbunden Komplikationen und 21 Operationen binnen zwei Jahren On-Off-Beziehung mit dem Krankenhaus, führten letztlich zur weitestreichenden Entscheidung meines Lebens.
Mit 26 Jahren entschied ich mich für eine Unterschenkelamputation, um wieder ohne Hilfsmittel und aus eigener Kraft gehen zu können, um entgegen der Erwartung der meisten Ärzte wieder Sport treiben zu können und eines Tages vielleicht wieder schneller zu Laufen als Schrittgeschwindigkeit.
Durch diese Motivation habe ich nach dem Krabbeln als Baby auf meinen eigenen zwei Beinen noch weitere Male das Laufen gelernt. Nach der Amputation mit Prothese wieder zu gehen und beim TSV Bayer 04 Leverkusen mit der Blade zu rennen, schneller als jede deutsche Amputierte zuvor. Tatsächlich aber liegt die Faszination nicht in den Erfolgen – sie ruht tief in mir.
Ich komme am Stadion an, ziehe mich um, wechsle von der Alltagsprothese zur Sportprothese und wärme mich auf. Mit jedem gejoggtem Meter werden die Abläufe flüssiger und der Kopf klarer. Ich weiß, was ich tue, das ist meine Welt. Beim Dehnen wandern meine Gedanken auf die Bahn, ich stelle mir den Start vor und die ersten Schritte des Laufs. Nachdem die Vorbereitungen hinter mich gebracht sind, gehe ich ins Stadion.
Es wird Zeit für meinen Lauf. Ich trete auf die Bahn, werde von einem Kribbeln durchflutet und denke: „Was jetzt kommt, zählt.“ Ich höre gedämpfte Geräusche. Zuschauer, die reden und anfeuern, Durchsagen, Musik. Alles ist da und doch so weit weg. Ich stelle den Startblock ein, es sind routinierte Handgriffe.
„Auf die Plätze.“ 200 Meter und ich werde von diesem aufreibenden Kribbeln erlöst sein. Alles ist jetzt still. Nervosität ist Vergangenheit, ich konzentriere mich ganz auf den Kampfrichter und meinen Start. Peng. Ich drücke mich aus dem Startblock, laufe in die Kurve und sehe die Ziellinie immer näher kommen.
Es folgt eine kurze Leere, Luft holen. Das Rennen liegt hinter mir. Ich fühle mich frei. Ich weiß sofort, dass ich es beim nächsten Wettkampf noch besser machen möchte. Laufen ist für mich nichts Gewöhnliches mehr. Laufen ist Arbeit, manchmal Kampf, aber immer ein faszinierendes Geschenk. (Maria Tietze, Para-Leichtathletin)
Laufen macht uns gleich
Bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom begeisterte Abebe Bikila die Welt, als er den abschließenden Marathon-Wettkampf gewann. Die erste Goldmedaille in der Geschichte Äthiopiens. In Weltrekord-Zeit. Und vor allem: Barfuß! Die Geschichte von Bikila ist oft erzählt, mit seiner Leistung verkörpert er, was das Laufen für mich so besonders macht.
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Egal, ob reich oder arm. Egal, ob aus Äthiopien oder Australien. Egal, ob groß oder klein. An der Startlinie sind alle Läufer gleich. Im Rennen leidet jeder, gemeinsam geht es Kilometer für Kilometer, im Ziel freut man sich zusammen. Es gibt Sportarten, bei denen häufig das Wort „Materialschlacht“ fällt: Formel 1, Biathlon, Rodeln, Schwimmen. Überall zählt nicht nur Talent, sondern auch Technik, Material und damit Geld. Auch im Fuß-, Hand- oder Basketball entscheidet längst das nötige Kleingeld über Erfolg oder Misserfolg.
Beim Joggen ist das anders. Laufen kann jeder, der das Glück hat, zwei gesunde Beine zu haben. Wenn man so will, ist es der natürlichste Sport der Menschheit – Corona hat es gezeigt. Man muss kein Pferd im Stall versorgen, keinen Tennisplatz reservieren, braucht keine teure Skiausrüstung, muss dafür nicht um die halbe Welt reisen. Wenn Sie mögen, können Sie jetzt aufstehen und loslaufen. Selbst die Schuhe sind nicht wichtig – Bikila macht es vor.
Doch es ist nicht nur das Material. 2018 bin ich meinen ersten Marathon in Berlin gelaufen. Dreieinhalb Stunden Aufregung, Qual, Gänsehaut, Schmerz, Freude, Erschöpfung, Dankbarkeit. Etwa eineinhalb Stunden vor mir erreichte Kenias Wunderläufer Eliud Kipchoge das Ziel – in Weltrekord-Zeit.
Es war nicht nur sein Rekordrennen, nicht nicht nur mein Debütlauf, sondern der Marathon für 40.000 Läuferinnen und Läufer aus der ganzen Welt. Alle im gleichen Rennen wie Superstar Kipchoge. Mehr Gleichheit geht nicht. Bei vielen anderen Sportarten kann man sich selbst die Tickets zum Zuschauen kaum leisten.
Vier Jahre nach seinem Triumph in Rom verteidigte Abebe Bikila seinen Titel 1964 in Tokio – eine bis dahin einmalige Leistung. Wieder gewann er mit Weltrekord, vier Minuten vor dem Zweitplatzierten. Dieses Mal in Schuhen, aber sechs Wochen nach einer Blinddarm-OP. Es gewann der Beste unter Gleichen. (Felix Hackenbruch, Leiter der Checkpoint-Laufgruppe des Tagesspiegels)
Laufen befreit
Laufen ist meine große Leidenschaft, die ich mit meiner Zwillingsschwester Anna teilen darf. Wir leben und lieben Laufen mit jeder Faser unseres Körpers. Laufen bedeutet für uns Freiheit. Unsere Lieblingsstrecke ist der Marathon, 42,195 Kilometer. Diese Distanz umgibt etwas Magisches, weil es für keine andere Strecke solch einen Mythos um die Entstehung gibt.
Der griechische Bote Pheidippides ist im Jahre 490 vor Christus 40 Kilometer von Marathon nach Athen gelaufen, um vom überraschenden Sieg der Griechen über die Perser zu berichten. Seit den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen findet der Marathon statt, und wir sind sehr stolz, dass wir selbst bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio auf dieser Strecke gemeinsam Deutschland vertreten durften.
Ich schätze am Laufen, dass man es fast überall machen kann, und es ist für mich die schönste Art, die Welt zu entdecken. Wir waren schon in Trainingslagern in Kenia, Äthiopien oder Neuseeland. Selbst wenn wir nicht die gleiche Sprache wie die einheimischen Läufer sprechen, spüren wir eine Verbindung, die keiner weiteren Worte bedarf.
[Nicht nur das Laufen fasziniert Menschen, sondern auch das Fahrradfahren. Hier kommen Sie zu unserem Artikel „Faszination Fahrrad“.]
Ich liebe es, schnell zu laufen und immer besser zu werden, habe durch den Sport aber auch gelernt, dankbar und demütig zu sein und auch in schwierigen Momenten eine Vision zu haben. In diesem Jahr wurden bisher alle Marathonrennen abgesagt, und die Olympischen Spiele in Tokio auf 2021 verschoben. Wir trainieren trotzdem weiter, damit wir bereit sind, wenn die Wettkämpfe wieder stattfinden können. (Lisa Hahner, Langstreckenläuferin)
Laufen macht selbstbewusst
Schon als Kind war ich schneller als meine Spiel- und Schulkameraden. In Marokko, wo ich herkomme, gehört für die Kinder laufen zum Alltag. Sie müssen meistens zur Schule laufen, Fahrräder gibt es kaum. Ich musste schon früh Geld verdienen und körperlich hart arbeiten. Für Schule, Ausbildung und mehr Sport blieb wenig Zeit. Als ich schon 20 Jahre alt war, hörte ich von einem Laufwettbewerb, an dem jeder teilnehmen durfte.
Ich war begeistert – Hunderte Läufer waren am Start. Obwohl ich keine Erfahrung hatte, konnte ich diesen Lauf in Marokko gewinnen. Es war ein schönes Gefühl, denn zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich etwas besser kann als viele andere Menschen. In mir wuchs der Traum, ein bekannter Läufer zu werden. Ich wollte das Laufen perfektionieren.
Mehrere Jahre trainierte ich mit anderen erfahrenen Läufern und lernte viel. Es war die Begeisterung für den Wettbewerb, die mich antrieb, obwohl ich nun bei den Straßenläufern selten als Sieger durch das Ziel kam. Ich lernte zu verlieren. Ich bekam immer mehr Freude am Training, weil ich meine Leistungen kontinuierlich steigern konnte und dadurch selbstbewusster wurde. Irgendwann war ich so gut, dass ich in meiner Heimat Marokko vom Sport leben konnte. Aber mir gefiel das System nicht. Warum hatte ich nicht schon als Schüler Unterstützung bekommen können?
Nach meinen ersten Starts in Spanien, Deutschland und Österreich sah ich, dass hier vieles besser läuft als in meiner Heimat. Ich lernte viele Läufer aus anderen Ländern kennen und so entschloss ich mich, mein Glück als Läufer in der Ferne zu suchen. Ich wollte einmal in meinen Leben einen perfekten Marathon laufen, wollte zeigen, was ich kann.
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Dieses Glück habe ich nun in Berlin gefunden. Ich habe Menschen getroffen, die sich für das Laufen ebenso begeistern wie ich und mir geholfen haben. Aber der Weg bis zum ersten Marathon war hart, und selbst mein eigenes Team hatte Zweifel, ob ich ankomme.
Viele, viele Trainingskilometer und viele viele Jahre hatte ich mich auf diesen Tag vorbereitet. Dann war es soweit – in Düsseldorf lief ich am 28. April 2019 meinen ersten Marathon. Es war ein gutes Gefühl, denn ich habe während des Laufes einen Läufer nach dem anderen überholt. Ich habe nicht gewonnen, aber ich war vorn mit dabei und lief eine Zeit, die mir keiner zugetraut hatte. Nach dem Lauf war ich sehr glücklich, denn ich wusste: Nun bin ich ein Marathonläufer. (Mustapha El Ouartassy, Marathonläufer)
Laufen beflügelt
Ich laufe selten auf Sportplätzen. Als ich es neulich mal wieder gemacht habe, kamen mir Bilder aus meiner Schulzeit in den Sinn. Ich sah mich, wie ich mich quälte, die 100 Meter so schnell wie möglich zu laufen, oder – noch schlimmer – wie ich nach den geforderten 1000 Metern nach Luft schnappte. Laufen war so gar nicht mein Ding, und dass ich heute auf eine über dreißigjährige Laufgeschichte zurückblicke, verwundert nicht nur Klassenkameraden aus dieser Zeit.
Wie? Du läufst? Ja. Mir zwei Jahre, nachdem ich die Schule beendet hatte, freiwillig die Laufschuhe anzuziehen und loszulaufen, obwohl ich es nicht mochte, verschaffte mir damals den wichtigsten Sieg meines Lebens. Es war mein persönlicher Sieg über das System DDR, in dem ich unglücklich gefangen war. Ein Sieg über meine psychischen und körperlichen Probleme, die damit einhergingen.
Mit jedem Meter, den ich schaffte, wuchsen das Vertrauen in mich, in meine Fähigkeiten und mein Wille, das alles durchzustehen. In dieser Zeit wurde das Laufen zu meinem Verbündeten, zu einem Freund, der immer bereitstand und der mich bis heute beflügelt, aufbaut und trägt.
Natürlich hat sich der Fokus im Laufe der Jahre immer wieder verschoben. Mal ging es um Siege, mal ums Abnehmen, dann wieder ums Entspannen. Geblieben ist all die Jahre die Faszination an der Unmittelbarkeit des Laufens. Anders als zum Beispiel beim Klettern oder beim Tanzen bin ich schon nach ein paar Metern ganz bei mir. Ich spüre meinen Körper, fühle den Rhythmus der Schritte und statt zu denken, beobachte ich meine Gedanken. Klingt nach Meditation? Ist es.
Es ist schon vorgekommen, dass ich – am Ziel angekommen – nicht mehr nachvollziehen konnte, wo ich langgelaufen bin und was oder wer mir begegnet ist. Manchmal ist es aber auch ganz anders: Da sauge ich buchstäblich alles auf, was um mich herum geschieht, was mich nicht selten in einen Zustand von Verzückung und Freude versetzt.
Und je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass Laufen für mich nichts von der Eintönigkeit hat, die dieser Sportart gern zugeschrieben wird. Rein körperlich betrachtet sicher schon, aber darüber hinausgeschaut, ist jeder Lauf ein einzigartiges Erlebnis und für mich persönlich auch immer noch ein kleiner Sieg. Heute allerdings nicht mehr über politische Systeme, sondern über die Macht der Trägheit. (Jeannette Hagen, Tagesspiegel-Laufkolumnistin und Sportlehrerin)