Der Weg zum Berlin-Marathon: Jetzt folgt nur noch die Kür
Einmal im Leben Marathon laufen – das ist ein Traum, für den man hart kämpfen muss. Unser Autor hat es geschafft: Sonntag geht er in Berlin an den Start
Fünf Wochen vor dem Berlin-Marathon denke ich zum ersten Mal ans Aufgeben. Sonntagmorgen, Halbmarathon in Steglitz. Als „Generalprobe“ wird der Lauf beworben. Wer hier eine gute Leistung bringt, muss sich um die doppelte Distanz keine Sorgen machen. Doch was, wenn nicht? Es ist heiß, wenig Publikum da, die Strecke hat für Berliner Verhältnisse ein alpenähnliches Profil. Nach vier Kilometern muss ich Tempo rausnehmen. Platz für Platz werde ich durchgereicht, während der Körper schwerer und der Sauerstoff knapper wird. Der Kopf streikt. Gedankenspirale. Warum tue ich mir diesen Scheiß überhaupt an?
Einmal im Leben Marathon laufen. Das ist der Traum von vielen Menschen. Seit der griechische Bote Pheidippides vor rund 2500 Jahren nach einem überraschenden Sieg gegen die scheinbar übermächtigen Perser in Sandalen vom Küstenort Marathon nach Athen lief, die frohe Botschaft verkündete und anschließend tot zusammenbrach, existiert der Mythos. Jahr für Jahr steigen die Teilnehmerzahlen bei Wettbewerben, allein in Berlin gehen an diesem Sonntag 47.000 Läuferinnen und Läufer an den Start. Wer es ins Ziel schafft (am besten ohne tot umzufallen), darf sich zum Kreis der Marathoni zählen.
Ich gehöre seit dem vergangenen Jahr zu dieser erlauchten Runde. Die Zuschauer, die Trommlergruppen, der Lauf durch das Brandenburger Tor – mein erstes Mal in Berlin. 42,195 Kilometer Gänsehaut. Unvergesslich! Aber vielleicht geht es noch ein bisschen unvergesslicher? Noch emotionaler, professioneller, schneller? Ich melde mich wieder an. Und plötzlich wird das Leben zum Laufevent.
Der Tagesspiegel wird neuer Medienpartner des Marathons. Im Januar gründen wir die Checkpoint-Laufgruppe. Ich melde mich freiwillig, wieso auch nicht. Woche für Woche erkunden wir Berlin in Turnschuhen. Im März bekomme ich eine Laufkolumne, alle 14 Tage 100 Zeilen. Im Mai gibt es den ersten Lauftalk im Tagesspiegel mit den Ex-Profi-Läufern Uta Pippig und Jan Fitschen. Die Euphorie ist groß, die Motivation hoch – es läuft!
Anders als in Steglitz. Ich bin kurz vor dem Bierpinsel. Halbzeit. Von hier geht es auf die zweite Runde – oder man steigt aus und ein in die S-Bahn. Vier Stationen sind es nach Hause. Noch ist es nicht zu spät für einen gemütlichen Sonntagsbrunch. Spaß macht es ja schon lange nicht mehr, warum also weiter?
Ein alter Bekannter, selbst Marathoni in unter drei Stunden, hat mir mal seine Motivationsstrategie verraten: Im Training denkt er an eine leere Streichholzschachtel. Wann immer er die Lust verliert oder besonders leidet und sich dann doch überwindet, legt er ein Streichholz in seine mentale Schachtel. Über die Wochen füllt sie sich. „Die Streichhölzer machen mich stärker“, hat er gesagt. Beim Marathon gehe es nicht darum, Tiefs zu vermeiden, sondern damit umgehen zu können. Wenn es beim Wettkampf hart werde, hole er seine Streichhölzer heraus und zündet sie an. Sein Feuerwerk.
In Steglitz schleppe ich mich Kilometer für Kilometer ins Ziel. Dort packe gleich ein dutzend Hölzer in die Schachtel.
Trotzdem: Laufen ist zur Last geworden. Ich kann mich kaum noch motivieren. Selbst ein erfolgreicher Wettkampf interessiert mich wenig. Waren meine blauen Laufschuhe vor ein paar Monaten noch die Garantie für frische Gedanken, kann ich sie jetzt nicht mehr sehen. Mein Trainingsplan strukturiert den Tagesablauf. Wann immer ich nicht gerade arbeite oder schlafe, soll ich laufen. Intervalle, Tempodauerlauf, Long Run. Versäume ich eine Einheit, bekomme ich ein schlechtes Gewissen und stelle mir den Wecker am nächsten Tag noch früher. Bin ich vor ein paar Monaten etwa 30 Kilometer pro Woche unterwegs gewesen, steigen die Umfänge jetzt auf 70 Kilometer und mehr.
Das Laufen liegt in unserer Natur
Ein bisschen spiegelt sich die Stimmung auch in meinen Kolumnen wider. Wer sie regelmäßig verfolgt, kann den Eindruck bekommen, Laufen sei der schlimmste Zeitvertreib der Welt. Ich lasse mich im Bootcamp anschreien, kollabiere fast beim Berglauf, quäle mich beim Laktattest auf dem Band, habe Seitenstechen und schreibe über Stressdurchfall. Martyrium statt Marathon. Noch mehr Streichhölzer.
Dabei liegt das Laufen in unserer Natur. „Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft“, hat die tschechische Lauflegende Emil Zatopek mal gesagt. Und Studien belegen: Wer läuft, lebt länger, ist glücklicher, hat mehr Sex.
Der Sport ist einfach und egalitär. Symbolisch bezeichnend, dass ausgerechnet die Menschen diese Sportart dominieren, die eigentlich die schwierigsten ökonomischen Voraussetzungen dafür haben. Man muss aber kein kenianischer Wunderläufer sein. Bei der Checkpoint-Laufgruppe sind wir Studenten, Senatsmitglieder, Spandauer. Junge, Alte, ganz Alte. Durch diese Gruppe habe ich erfahren, dass Laufen keine Individualsportart ist. Ein Team baut auf, motiviert, trägt, verpflichtet. Und: ich lerne Freunde kennen, mit denen ich meine Leidenschaft zum Laufen teile.
Mit Alex, der immer einen coolen Spruch auf den Lippen hat, wird aus den qualvollen Intervallläufen, eine vergnügte Angelegenheit auf dem Tempelhofer Feld. Günter, der häufiger als ich bei der Laufgruppe erscheint und mich auch noch zu den Midnight Runners schleppt, schickt mir regelmäßig witzige Motivationssprüche auf Facebook. Fabi kontrolliert bei unserem gemeinsamem Long Run nicht nur die Pace, sondern versorgt mich beim Rainald-Grebe-Konzert (die 30 Kilometer waren erträglicher) auch mit Bier. Meine PNN-Kollegin Valerie, die früher nie länger als ein paar Kilometer gelaufen ist, traut sich zum ersten Mal bei einem zehn Kilometer-Wettkampf an den Start. Einmal übernimmt sie die Leitung der Laufgruppe und sorgt sogar für gekühlte Getränke.
Alex, Günter, Fabi, Valerie – aber auch Saskia, Uwe, Ann-Kathrin, Marcus, Katrin, Michael, Falk und viele mehr. Wir sind ein Team geworden. Sie alle haben mich auf meinem Weg zum Marathon unterstützt, inspiriert und dafür gesorgt, dass ich die Lust am Laufen wieder gefunden habe.
Vor fünf Wochen in Steglitz wollte ich aufgeben und in die S-Bahn steigen. Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. „Wenn du an der Startlinie stehst, hast du schon gewonnen“, hat Jan Fitschen beim Lauftalk im Tagesspiegel gesagt. Das Training ist geschafft, jetzt folgt nur noch die Kür. So möchte ich es am Sonntag auch angehen. Aufgeben ist keine Option, meine Streichholzschachtel ist gefüllt.