Halbfinal-Sieg gegen Deutschland: Frankreich ist außer sich
Das Turnier im eigenen Land war für die Franzosen bisher eine unterkühlte Angelegenheit. Doch seit dem Halbfinale ist alles anders.
Die Nacht ist noch jung und der Präsident ein bisschen spät dran. Aber Francois Hollande will seinen Helden unbedingt gratulieren, eine halbe Stunde, nachdem sie Deutschland besiegt und das Finale der Fußball-Europameisterschaft erreicht haben. Also lässt sein Stab kurzfristig ein paar Ausgänge im Stade de Vélodrome sperren, auf dass Monsieur le Président in aller Ruhe zum Tête-à-Tête mit Trainer Didier Deschamps, Torjäger Antoine Griezmann und Antreiber Paul Pogba schreiten kann. Das ergibt ein hübsches Chaos, und wahrscheinlich ist der ohnehin nicht besonders beliebte Francois Hollande der einzige prominente Franzose, dessen Popularitätswerte in dieser Nacht von Marseille sinken.
Vor allem aber wird gefeiert und gejubelt. Auf den abenteuerlich geschwungenen Tribünen des Vélodrome, in Marseille und überall sonst in Frankreich und natürlich auf dem Rasen. Im Augenblick des Triumphes versammeln sich die französischen Spieler hinter dem Tor, in das Antoine Griezmann in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit den Weg weisenden Elfmeter gesetzt hat. Sie tanzen und hüpfen, dann stürzen sich ein paar von ihnen mit gespielter Rauflust auf Griezmann sie packen ihn und tun so, als würden sie den zweifachen Torschützen über die Absperrung schleudern.
Das Publikum rast, Griezmann lacht. Es war ja nicht so selbstverständlich, dass er zur Exekution des von Bastian Schweinsteiger verschuldeten Strafstoßes schreiten würde. Vor ein paar Wochen, im Champions-League-Finale von Mailand, hat er vom Elfmeterpunkt nur die Latte getroffen und damit seinen Klub Atlético Madrid womöglich um den Triumph gegen den Stadtrivalen Real gebracht. „Ich wollte unbedingt noch mal einen Elfmeter in einem großen Spiel schießen“, sagt er im Moment des Triumphes Vélodrome. „Ich bin froh, dass ich die Kraft dazu hatte.“ Weil er später noch das zweite Tor schießt, widmet „Le Figaro" Griezmann die schöne Eloge: „Sein Engelslächeln schlug das großes Selbstvertrauen des Gegners.“
Allein Didier Deschamps bemüht sich, die Füße auf dem Boden zu halten. Ja, es war ein fantastischer Abend, der erste Sieg über den Angstgegner Deutschland bei einem großen Turnier seit 1958. Aber es geht ja noch ein bisschen weiter in dieser EM, am Sonntag im Finale gegen Portugal, und wenn nicht er zur Zurückhaltung mahnt, wer soll es dann tun? „Nur weil wir Deutschland rausgeworfen haben, besitzen wir keine Zusatzkräfte“, sagt der französische Trainer. „Wir glauben an uns, aber Portugal glaubt an sich.“
"On est en final!"
Andere gehen offensiver um mit dem, was die Sportzeitung „L'Équipe“ auf ihrer Titelseite als „Ekstase“ preist. Der Mittelfeldspieler Paul Pogba verspricht: „Wenn wir das Finale gewinnen, werde ich tanzen!“ In Paris leuchtet in der Nacht des Triumphes der Eiffelturm blau-weiß-rot, aber die eigentliche Party steigt in Marseille. Hier und nicht in Paris schlägt das Herz des französischen Fußballs, in der rebellischen Metropole des Südens, deren skandalumwitterter Klub Olympique immer noch der populärste des Landes ist, trotz der mit arabischen Ölmillionen gepamperten Konkurrenz von Paris Saint-Germain.
Das Vélodrome liegt südlich der Innenstadt. Hier beginnt die Avenue de Prado, eine zu allen Tages- und Nachtzeiten verkehrsumtoste Prachtstraße, aber jetzt ergreift der Fußball Besitz von ihr. Schüchtern warten ein paar Autos mit laufendem Motor am Straßenrand. Nach Mitternacht ist es noch immer sommerlich warm. Zehntausende kapern wie selbstverständlich den Prado, sie schwenken blau-weiß-rote Fahne und singen immer wieder das Lied dieser Nacht, fünf Silben im fröhlichen Stakkato: "On est en final!" Eine Hupe durchschneidet den Jubelchor. Vom Stadion bahnt sich ein Polizeiauto durch die Menge, aus dem Beifahrerfenster flattert die Trikolore, ein Gendarm ruft: „Allez les Bleus!“ Ein riesiger Plastikball fliegt durch die Luft, längst hat er seinen Besitzer verloren, und wer Lust hat, kickt ihn einfach.
Auch ein paar Jungs in den schwarz-weißen Leibchen der deutschen Nationalmannschaft geleiten mit im Strom. Die meisten starren schweigend auf ihre Bierbecher, ein paar freuen sich mit den Franzosen. Am linken Straßenrand knattert ein Motorrad vorbei, besetzt mit drei Burschen in französischen Trikots, der Fahrer trägt eine schwarz-rot-goldene Perücke, wobei es sich mutmaßlich um einen Skalp vom geschlagenen Gegner handelt. Marseille feiert mit einer Ausgelassenheit, wie es Frankreich lange Zeit fremd war bei dieser Europameisterschaft.
France 2016, das war bis zum Donnerstag eine unterkühlte Angelegenheit, geprägt von den Sorgen, mit denen sich die Nation plagt, und davon gibt es einige. „Vor dem Turnier hat der Präsident mit uns über die Lage im Land und die Sicherheitsmaßnahmen gesprochen“, sagt Antoine Griezmann. „Es war einfach unsere Pflicht, den Franzosen Freude zu bereiten und sie von ihrem Kummer abzulenken.“
Das ist ihnen am Donnerstag in Marseille ganz gut gelungen.
Sven Goldmann