Jürgen Klinsmann und Hertha BSC: Ego-Trip zum Abschied
Sie haben ihm fast jeden Wunsch erfüllt, Millionen für Stars ausgegeben. Doch Jürgen Klinsmann will nicht mehr Hertha-Trainer sein - und hinterlässt Chaos.
Als Jürgen Klinsmann seine Spieler am Dienstagmorgen in den Besprechungsraum bittet, fürchten sie bereits das Schlimmste. Nach zwei freien Tagen würde es vermutlich noch einmal eine Analyse des Spiels vom Wochenende geben, von jenem unsäglichen 1:3 gegen den Abstiegskandidaten Mainz 05, mit dem die Berliner selbst die wohlwollendsten ihrer Fans vergrault haben.
Der Besprechungsraum im Spielertrakt von Hertha BSC ist einem Kino nachempfunden, mit Leinwand und aufsteigenden Sitzreihen in Hertha-Blau. Zur Aufführung kommt an diesem Vormittag, kurz vor Beginn der eigentlichen Trainingseinheit, ein echter Shocker. Als Marko Grujic, Herthas serbischer Mittelfeldspieler, in die Gesichter seiner Kollegen schaut, entdeckt er nichts als allgemeine Verwirrung. Jürgen Klinsmann teilt seiner Mannschaft mit, dass er mit sofortiger Wirkung als Trainer bei Hertha BSC aufhöre. „Ich war ein bisschen geschockt“, sagt Grujic.
Bei Hertha dürfte es niemanden geben, der auf die Nachricht anders reagiert hat. „Wir sind von dieser Entwicklung am Morgen überrascht worden“, lässt sich Manager Michael Preetz in einer kurzen Mitteilung des Vereins zitieren. Auch er hat nichts gewusst, vermutlich nicht einmal geahnt. Selbst die Co-Trainer, Alexander Nouri und Markus Feldhoff, die erst auf Klinsmanns Wunsch zu Hertha gekommen sind, sind erst am Montag spätabends in seine Pläne eingeweiht worden. Beide leiten am Vormittag die erste Trainingseinheit der Woche.
Ob er sich zu der neuen Situation äußern wolle, wird Nouri gefragt, als er den Platz eineinviertel Stunden später wieder verlässt: „Erst mal nicht“, antwortet er.
Dem Verein hat es die Sprache verschlagen. All die schönen Pläne vom Big City Club, von Champions League und Meistertiteln, die gerade von Klinsmann immer wieder befeuert worden sind, all die stehen jetzt zur Disposition. Wie geht es weiter: mit der Mannschaft, die immer noch im Abstiegskampf steckt? Aber auch mit dem Verein, der sich Klinsmann in gewisser Weise ausgeliefert hat? Der ihm jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hat: Ob es nun darum ging, den Trainerstab komplett auszutauschen, das Mannschaftshotel zu wechseln oder einen nicht unwesentlichen Teil der 224 Millionen Euro von Investor Lars Windhorst schon in diesem Winter in neue Spieler zu stecken.
Im Grunde hat Jürgen Klinsmann mit seinen Wünschen und Vorstellungen vom ersten Tag an seine Kompetenzen als Trainer deutlich überschritten und ins operative Geschäft von Manager Michael Preetz eingegriffen. Auch deshalb trifft sein Rücktritt den Klub nun so hart – weil der nicht im Geringsten auf die Folgen vorbereitet ist. „Über die weiteren Entwicklungen werden wir zu gegebener Zeit informieren“, lässt Preetz in der Erklärung des Vereins mitteilen.
Als Herthas Mannschaft sich Anfang Januar in Florida auf die Rückrunde in der Bundesliga vorbereitete, gab es ein eher zufälliges und doch treffendes Bild zu den neuen Machtverhältnissen im Verein. Klinsmann gab am Rande des Trainingsplatzes eine improvisierte Pressekonferenz. Er sprach über mögliche Transfers, über die neuen Ansprüche des Vereins, über das Ziel, ein „Mega-Klub“ für Berlin und ganz Deutschland zu werden. Während Klinsmann die Vereinspolitik erklärte, fuhren im Hintergrund Manager Preetz und Präsident Werner Gegenbauer auf einem Golf-Car vom Platz.
Der Weltmeister. Der Sommermärchen-Erfinder. Der Daueroptimist
Nur elf Wochen hat Klinsmanns Amtszeit gedauert. Es waren elf intensive Wochen, in denen Klinsmann das Bild des Vereins bestimmt hat; in denen er Aufbruchstimmung verbreitet hat, wie es sie bei Hertha seit 20 Jahren nicht mehr gegeben hat. Und in denen der Klub eine mediale Aufmerksamkeit erhielt, die nicht seiner sportlichen Situation geschuldet war, sondern allein Klinsmann. Dem Weltmeister. Dem Sommermärchen-Erfinder. Dem Daueroptimisten.
Am Dienstag bekommt Hertha Klinsmanns Wucht noch einmal zu spüren. Schon seine Beförderung vom Aufsichtsrat zum Trainer war eine riesige Überraschung; noch viel riesiger aber ist das Erstaunen über seinen Rückzug.
Es ist Klinsmanns selbst, der seine Entscheidung per Facebook verkündet. Der Verein wird auch von diesem Schritt überrumpelt.
Die Erklärung endet mit den Worten „HaHoHe Euer Jürgen“. Er sei nach langer Überlegung zum Schluss gekommen, „mein Amt als Cheftrainer der Hertha zur Verfügung zu stellen und mich wieder auf meine ursprüngliche langfristig angelegte Aufgabe als Aufsichtsratsmitglied zurückzuziehen“. Für eine erfolgreiche Arbeit im Abstiegskampf hätte er „das Vertrauen der handelnden Personen“ benötigt.
Das Zerwürfnis über die weiteren Pläne
Man darf, soll und muss das durchaus als Kritik an Michael Preetz verstehen. Dahinter steckt jedoch nicht der Ärger über mögliche Kritik des Managers an den dürftigen Auftritten der Mannschaft unter Klinsmann. In Wirklichkeit resultiert das Zerwürfnis aus den unterschiedlichen Ansichten über das weitere Vorgehen nach dem Sommer.
Herthas ursprünglicher Plan sah vor, dass der frühere Bundestrainer, der seinen Lebensmittelpunkt seit mehr als zwei Jahrzehnten an der kalifornischen Pazifikküste hat, nur bis zum Ende dieser Saison als Trainer einspringt.
Aber Klinsmann hat offensichtlich Gefallen an Hertha und Berlin gefunden. Dank Windhorst und seinen Millionen stehen dem Klub plötzlich Möglichkeiten offen, von denen er vor einem Jahr nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Und Klinsmann hätte von diesen Möglichkeiten gerne Gebrauch gemacht, auch über den Sommer hinaus.
Der 55-Jährige hat sich seine Rolle allerdings eher vorgestellt wie in England, wo der Trainer die alleinige sportliche Entscheidungsgewalt innehat, auch bei möglichen Transfers. Dadurch wären vor allem die Befugnisse von Michael Preetz betroffen gewesen. Aus dem Verein wird zudem kolportiert, dass Klinsmann respektive sein Berater exorbitante Gehaltsvorstellungen aufgerufen hätten – und ihre Forderungen ausgerechnet nach dem desaströsen Spiel gegen Mainz noch einmal erhöht hätten. „Einfach nur größenwahnsinnig“, sagt ein Hertha-Funktionär. „Völlig irre.“
"Da ist unglaublich viel am Wachsen. Die Mannschaft spielt immer besser"
Herthas Vereinsführung hat das Ansinnen nicht vollkommen abgelehnt, wollte die Verhandlungen über eine weitere Zusammenarbeit jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt führen und zunächst die Entwicklung der nächsten Wochen abwarten. So wurde es Klinsmanns Berater am Wochenende mitgeteilt. Dass dessen Mandant darauf mit dem sofortigen Rückzug reagieren würde, hat bei Hertha niemand erwartet.
Es gab auch am Montag keinen Hinweis auf eine solche Reaktion. Um 17.30 Uhr Uhr setzte sich Klinsmann in seinem Hotelzimmer vor eine Computerkamera, im Hintergrund eine graue Schrankwand. Er knipste sein Lächeln an und beantwortete in einem Videochat knapp 20 Minuten lang die Fragen der Anhänger des Vereins. „Wir sind auf dem richtigen Weg“, sagte Klinsmann. „Da ist unglaublich viel am Wachsen. Die Mannschaft spielt immer besser.“
Anschließend ließ er sich von Herthas Pressesprecher zu einer Veranstaltung der Deutschen Presse-Agentur fahren, wo er für eine gute Stunde auf dem Podium Rede und Antwort stand und auf die Teilnehmer sehr entspannt wirkte. Danach brachte der Pressesprecher Klinsmann zurück in sein Hotel in Mitte.
Das Hotel heißt Titanic.
Bei Hertha haben sie seit Dienstagmorgen vermutlich auch das Gefühl, sie hätten einen Eisberg gerammt. Der ganze Verein ist durch Klinsmanns Move ins Schlingern geraten. Und das betrifft nicht nur die Mannschaft, die als Tabellenvierzehnter weiterhin im Abstiegskampf steckt. Es betrifft noch viel mehr den Klub und die Frage, wie er sich künftig aufstellen will.
Das Chaos beginnt nun erst richtig
Nach dem missglückten Experiment mit dem früheren Nachwuchscoach Ante Covic als Cheftrainer sollte Klinsmann den Verein kraft seiner Ausstrahlung und Erfahrung eigentlich wieder befrieden. Schaut man allein auf die Tabelle, ist ihm das sogar halbwegs gelungen. Den Abstand auf die Abstiegsplätze hat er auf sechs Punkte ausgebaut. Mit seinem Rücktritt aber hat Klinsmann den Verein erst richtig ins Chaos gestürzt. So dramatisch war die Situation vermutlich seit 2012 nicht mehr, als Hertha in einer Saison drei Cheftrainer beschäftigte und am Ende unter dem Haudegen Otto Rehhagel in die Zweite Liga stürzte.
Dass Michael Preetz nun wieder einen neuen Trainer finden muss, ist womöglich noch das kleinste Problem. Das heißt aber nicht, dass dieses Problem klein ist.
Einstweilen übernimmt Alexander Nouri den Posten. Der 40-Jährige wird wohl auch am Samstag, im Spiel beim Tabellenletzten SC Paderborn, auf der Trainerbank sitzen. Die Idee aber, dass er dauerhaft die Verantwortung für die Mannschaft übertragen bekommt, halten viele nicht für unbedingt erfolgversprechend.
Nouri wird als Klinsmanns Mann fürs Praktische und Taktische in erster Linie für die fußballerisch unansehnlichen Auftritte des Teams verantwortlich gemacht; für das Fehlen eines klaren Plans, vor allem im Spiel nach vorne. Schon in seiner Zeit bei Werder Bremen ist Nouri für seine defensive Herangehensweise kritisiert worden. Beim FC Ingolstadt, seiner zweiten Station als Cheftrainer im Profifußball, hat er dann nicht unwesentlich zum Abstieg aus der Zweiten Liga beigetragen. Bereits nach acht Spielen wurde Nouri entlassen, nachdem der Mannschaft in diesen acht Spielen kein einziger Sieg gelungen war.
Schnelles und üppiges Wachstum, das ist gewünscht
Braucht Hertha also noch einen weiteren Interimstrainer bis zum Saisonende? Oder findet Preetz jemanden, der den neuen, gehobenen Ansprüchen des Vereins schon jetzt gerecht wird? Und der vor allem den Ansprüchen des Investors gerecht wird, dem für Hertha ein schnelles und üppiges Wachstum vorschwebt.
Bevor Klinsmann Ende November den Trainerjob bekam, hat sich Preetz vor allem um den gebürtigen Berliner und früheren Hertha-Spieler Niko Kovac bemüht, der gerade erst beim FC Bayern München entlassen worden war. Mit einem solch vergleichsweise prominenten Trainer hätte sich auch Windhorst anfreunden können, aber Kovac hatte kein Interesse. Er will auch jetzt nicht bei Hertha einspringen, weil er insgeheim auf ein Engagement in England spekuliert.
Mit seinen 224 Millionen Euro hat Windhorst im vergangenen Sommer 49.9 Prozent der Anteile an der Hertha BSC Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) erworben. Gemäß der sogenannten 50+1-Regel muss die Stimmenmehrheit immer beim Verein liegen. Und tatsächlich kann Windhorst von der bisherigen Vereinsführung jederzeit überstimmt werden; de facto aber hat Windhorst mit seinem Investment zumindest das Recht erworben, zu allen wichtigen Themen gehört zu werden.
Schon bei der Entscheidung für Klinsmann als Trainer hat er maßgeblich mitgemischt. Klinsmann war sein Mann. Erst drei Wochen zuvor hatte Windhorst ihn als einen seiner Vertreter in den Aufsichtsrat der KGaA entsandt. Und mit Klinsmanns Bestellung zum Trainer reichte sein Einfluss sogar bis in Herthas Kabine. Dagegen hilft dann auch keine 50+1-Regel.
"Das wird Preetz bedauern"
Ein früherer Funktionär und intimer Kenner der Bundesliga hat schon Ende November, nach Klinsmanns Amtsantritt als Trainer bei Hertha BSC, prophezeit: „Das wird Preetz bedauern.“ Durch Klinsmanns Rücktritt ist auch die Rolle des Manager noch einmal verstärkt in den Fokus gerückt. Hat Preetz jetzt wirklich bewiesen, dass sich die Vereinsführung nicht von außen reinreden lässt, sondern jederzeit autark entscheidet? Oder hat er Klinsmann weggebissen, weil er um seine eigene Position fürchten musste?
Zumindest bröckelt die Fassade vom harmonischen Miteinander, die Preetz seit der Vorstellung Klinsmanns errichtet hatte. Es sei seine Idee gewesen, Klinsmann zum Trainer zu machen, hatte er behauptet. Inoffiziell hört man etwas anderes.
Preetz als Mann der Vernunft, als Bremser
Inoffiziell hört man auch, dass Preetz auf der Investorenseite längst nicht so gut gelitten ist, wie es nach außen den Anschein macht. Preetz hat sich den großen Zielen des Klubs sogar recht offen widersetzt, als er im Trainingslager in Florida für einen Kurs der wirtschaftlichen Vernunft warb und für sich die Rolle des Bremsers in Anspruch nahm. Man kann sich ausmalen, wie solche Aussagen bei Klinsmann und Windhorst angekommen sind, denen es gar nicht schnell genug nach oben geht.
Bisher konnte sich Preetz vor allem der Unterstützung durch Werner Gegenbauer sicher sein. Herthas Präsident hat ihn immer geschützt und gestützt, selbst nach zwei Abstiegen und erratischen Personalentscheidungen, vor allem auf der Trainerposition. Bisher aber musste Gegenbauer nur dem Widerstand der Mitglieder standhalten; durch Windhorsts Einstieg haben sich die Machtverhältnisse im Verein verändert.
Auch Jürgen Klinsmann wird weiterhin ein Faktor sein. In seiner Erklärung bei Facebook hat er über das mangelnde Vertrauen der handelnden Personen geklagt. Es sind genau die Personen, die er künftig als Aufsichtsrat wieder kontrollieren soll. Von seiner Entscheidung, bei Hertha als Trainer aufzuhören, hat Klinsmann erst Lars Windhorst in Kenntnis gesetzt, dann seine Mannschaft. Erst ganz zum Schluss ist er zu Manager Michael Preetz ins Büro gegangen.