Die Angst vorm Torabschluss: Die Nationalmannschaft braucht keinen Mittelstürmer
Die Nationalmannschaft leidet unter dem Daddel-Gen, ist aber zuversichtlich, dass sie bis zur EM wieder die richtige Richtung für ihren Spieltrieb findet.
Max Kruse tat das, was ein guter Stürmer tun muss. Er wiegte seinen Bewacher in Sicherheit, löste sich im richtigen Moment und stach eiskalt zu. Sein Bewacher war Mesut Özil, der sich in der Mixed Zone direkt neben Kruse platziert hatte, als der über sein Siegtor für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gegen Georgien sprach. „Es war ein überragender Pass von Mesut Özil“, sagte also Kruse, und als Özil nach diesem Lob lächelnd Richtung Mannschaftsbus verschwand, schob er noch hinterher: „Es war aber auch der einzige Pass im Spiel, der gut war.“
Mit seiner Treffsicherheit stach Kruse am Sonntag deutlich aus der deutschen Mannschaft heraus. In der 76. Minute war er eingewechselt worden, in der 79. gelang ihm der Treffer zum 2:1-Endstand – weil er in diesem Moment völlig undeutsch spielte. Kruse verzichtete auf weitere Drehungen und Wendungen, er nahm das Zuspiel Özils kurz vor dem Strafraum direkt und schloss gegen die Laufrichtung des georgischen Torhüters ab. Ein Pass, ein Schuss, ein Tor – das hatten die grummeligen Zuschauer in Leipzig bis dahin nur von den Georgiern zu sehen bekommen, die den großen Favoriten auf dem Weg zur EM zwischenzeitlich auf eine falsche Fährte gelockt zu haben schienen.
So wie die Startelf beim Torabschluss vor sich hinstümperte, war es fast logisch, dass Hilfe nur von außen würde kommen können. Kruse und Karim Bellarabi waren sich beim Warmmachen einig: „Irgendeiner von uns kommt rein und macht vielleicht das Tor. Das war ich. Gut, oder?“
Abgesehen von Kruses Tor waren nur die Paraden von Manuel Neuer gut gewesen. Der Torhüter kam sich zeitweise vor wie in einem Spiel gegen Frankreich oder Italien – und nicht wie gegen den Weltranglisten-110. Georgien. „Meine Mannschaft hatte noch nie so viele Chancen wie heute“, sagte Nationaltrainer Kachaber Zachadse. Das eine – die Schwächen in der Defensive – hing ursächlich mit dem anderen – den üblichen Schwächen vor dem Tor – zusammen. „Es kostet Kraft, wenn man immer wieder anrennt, es gibt leichte Ballverluste, und du musst immer hinterherrennen“, sagte Außenverteidiger Matthias Ginter. „Es ist schwierig, dann die Balance zu halten.“ Diese Probleme hätten sich die Deutschen mit mehr Wucht, mehr Zug und mehr Entschlusskraft vor dem Tor leicht ersparen können.
„Wir können das gleiche Lied singen wie in Dublin“, klagte Bundestrainer Joachim Löw. „Wir haben es versäumt, mit unseren Möglichkeiten sehr achtsam umzugehen.“ 29 Torschüsse wies die Statistik für sein Team aus, allein Marco Reus vergab ein halbes Dutzend bester Gelegenheiten. Vor dem Spiel hatte Löw noch referiert, dass seine Mannschaft im Schnitt sechs Chancen für ein Tor benötige. „Der liegt jetzt bei sieben oder acht“, sagte er. „Der hat sich ein bisschen verschlechtert.“ Mehr Sorgfalt vor dem Tor hatte er angemahnt; im Training, so berichtete Torhüter Neuer, wurde diese Vorgabe auch befolgt – im Spiel aber war davon nichts zu sehen. „Das ist Feldhandball, was da gespielt wird“, sagte Löw. Immer schön um den Kreis herum, von links in die Mitte, von der Mitte nach rechts, und dann zurück in die andere Richtung. Manchmal hat man bei den Deutschen das Gefühl, dass niemand den letzten Pass spielen will, sondern immer nur den vorletzten.
Mario Gomez: Vom Vollblinden zum Heilsbringer?
Ilkay Gündogan sprach später von Problemen, „die ein bisschen hausgemacht sind“. Die Mannschaft leidet unter ihrer Qualität, ihrer spielerischen Brillanz. Die Deutschen haben das Daddel-Gen. „Wir haben hervorragende Fußballer, wir spielen die meisten Mannschaften einfach müde, kommen zu Chancen, aber wenn du dich nicht belohnst, siehst du meistens blöd aus“, sagte Toni Kroos. „Wir müssen wieder diese absolute Geilheit bekommen, das Tor zu machen.“
Wegen mangelnder Geilheit sieht sich der Bundestrainer jetzt zunehmend mit der Sehnsucht nach dem guten alten Mittelstürmer konfrontiert. Es ist der übliche Reflex, nach einem Stürmer zu rufen, wenn man Tore braucht. Unabhängig davon, dass es keinen Lewandowski mit deutschem Pass gibt und niemand mit einem Gran Fußballverstand ernsthaft Pierre-Michel Lasogga ins Gespräch bringen kann: Ist nicht Thomas Müller eben noch für seinen gerdmüllerhaften Torriecher bejubelt worden? Haben nicht die, die jetzt nach Mario Gomez schreien, ihn vor ein paar Monaten noch als Vollblinden verunglimpft? „Unsere Spieler haben schon Vollstreckerqualitäten“, sagte Löw. „Marco Reus zum Beispiel oder Thomas Müller.“
Bei Reus’ erster Großchance – fünf Meter vor dem Tor, vollkommen unbedrängt – musste man kein staatlich geprüfter Mittelstürmer sein; zur Vollstreckung hätte auch ein solides Innenverteidigerdiplom gereicht. Die zweite Großchance hingegen hätte ein klassischer Brecher vermutlich nie gehabt, weil er nicht wie Reus mit seinem Laufweg Özil zu seinem perfekten Pass genötigt hätte. „Man darf nicht glauben, dass wir wieder einen Horst Hrubesch brauchen“, sagte Löw. „Es entspricht nicht unserer Mannschaft, lange Bälle aus dem Halbraum in den Sechzehner zu spielen.“ Ende der Debatte.
Es ist das Spielerische, was dieser Mannschaft und ihrem Trainer entspricht. Aber spätestens bei der EM muss Löw diesem Spieltrieb wieder eine Richtung geben. „Kein Spieler der Welt nutzt jede Chance“, sagte Innenverteidiger Mats Hummels. „Es gibt Spiele, da ist man effektiv; es gibt Spiele, da ist man weniger effektiv. Wenn wir unsere effektiven in Frankreich aufs Parkett zaubern, sind wir alle zufrieden.“ Wenn nicht, kann auch Horst Hrubesch nicht mehr helfen.